13. April 2014

Wie Bürokratie die Lehrer betäubt, überwältigt und vertreibt

Markus Somm, Chefredaktor der Basler Zeitung, erinnert sich an seine eigene Zeit am Gymnasium in Baden und vergleicht die damalige Machtposition der Lehrer mit heute. Dann widmet sich Somm dem neuen Lernbericht, einer Art Zeugnis für die Kindergärtner, wie er in Basel eingeführt worden ist. Somm schliesst seine Betrachtungen mit folgendem Gedanken: "Es sind dieser Irrsinn, diese bürokratische Hybris, diese Formularflut und Psychologismus-Plage, die den schönen und wertvollen Beruf des Lehrers zerstören. Welcher Mensch bei Verstand tut sich das noch an?"
Einer der besten Berufe der Welt wird ruiniert. Basler Zeitung, 12.4. von Markus Somm


Heiri Moser hatte sich nichts Böses dabei gedacht, als er auf seiner Schulmappe diesen Kleber angebracht hatte: «Das Beste an der Arbeit sind die Pausen.» Zusammen besuchten wir die Kantonsschule in Baden. Wir waren sechzehn Jahre alt. Latein stand an. Kaum hatte sich Heiri an diesem Morgen im ­Sommer hingesetzt und die Mappe aufs Pult geschletzt, betrat Dr. Hansjörg Schweizer das Klassenzimmer – mit jener unvergleichlichen Mischung von Kampfgeist und Opera buffa, die ihm eigen war, so dass wir nie recht wussten: marschiert die römische Armee ein oder beginnt eine Komödie von Plautus?
«Wafällt Ihnen ein, Moser?», schnarrte Schweizer, als er zufällig den Kleber auf der Mappe erblickte. Heute war die römische Armee gekommen. «Müssen Sie uns jetzt auch noch die Freude an der Arbeit vergällen?» «Aber, ich ... aber, nur».
Ohne Heiri je zu Wort kommen zu lassen, folgte eine Standpauke, ein olympisches ­Donnerwetter, eine verbale Umfassungsschlacht, bis Heiri fast vom Stuhl fiel: Es schien, als ob ­ Dr. Schweizer diesen Schüler für immer zum Schweigen bringen wollte. Eine Stunde lang hielt unser Lateinlehrer, der auch als Klassenlehrer ­fungierte und jeweils das Zeugnis unterschrieb, ein Referat über die Vorzüge des protestantischen Arbeitsethos, das nun in einer Ära der Dekadenz von gedankenlosen Menschen, Verbrechern und Taugenichtsen, Barbaren und Banausen in den Dreck gezogen würde. Nichts, dozierte Schweizer, beglückt den Menschen nämlich mehr als Arbeit, als das Streben nach Perfektion, als Schweiss und Tränen, – nichts Schöneres unter der Sonne also als ein dunkler unübersetzbarer lateinischer Satz von Horaz, dem römischen Dichter, den wir ­hassten, weil er uns ein so unverständliches Latein vermacht hatte. Zweitausend Jahre Elend für alle Schüler des Westens.
Die sizilianische Connection
Ob Dr. Schweizer überhaupt ein Protestant war, weiss ich nicht mehr, vermutlich eher nicht, da er eine sizilianische Grossmutter hatte, die ihn augenscheinlich auch physiologisch geprägt hatte. Wie ein hagerer römischer Gott sah Schweizer aus, immer mit dunklem Teint, die Haare so kurz geschnitten, als hätte er sich eine Glatze gewünscht, um Julius Cäsar, dem Glatzkopf, zu gefallen. Was ihn aber als Alemannen verriet, war seine Körperlänge: schlaksig und hochgewachsen blickte er von oben herab wie ein Adler aus ­seinem Nest.
Wenn er jemanden zurechtwies, wuchs er um einige Zentimeter. Sein Temperament hingegen stammte ebenfalls von der Grossmutter aus ­Sizilien: Manchmal, in den frohen Stunden des Plautus, hüpfte und sprang Schweizer im Klassenzimmer herum, seine Augen blitzten, seine Arme flogen durch die Luft, wie ab und zu auch ein Buch, das einen Schüler niederstreckte, wenn ­dieser nicht aufmerksam genug den Ausführungen des Schulmeisters gefolgt war.
Bevor wir etwas übersetzten, liess sich ­Schweizer lässig auf einem Pult nieder, schlug die Beine übereinander und begann zunächst den Text zu deklamieren wie ein antiker Schauspieler. Da Lateinisch anders ausgesprochen wurde als heute, er aber fliessend Italienisch sprach, gehörte es zu seinem Ehrgeiz, Lateinisch so klingen zu ­lassen wie um 100 v. Chr. Nicht Cäsar also, ­sondern Gaisar! Zuweilen erschien es uns, als ob Dr. Schweizer in der Toga vor uns sässe.
Stolz und Vorurteil
Schweizer war der erste Lehrer, der mich in der Klasse blossstellte, weil ich, wie mir das von meinem ersten Lateinlehrer eingeschärft worden war, jeden Ablativus absolutus in meiner Über­setzung in Klammern angezeigt hatte, um klarzustellen, dass ich den «Abl.abs.» begriffen hatte, eine grammatikalische Spezialität des Lateinischen. «Ich kann Latein!», höhnte Schweizer und gab mir, obwohl alles in meiner Version stimmte, eine miserable Note. «Ich möchte, dass Sie so übersetzen, als wäre es Deutsch. Lateinisches Deutsch kann ich nicht ertragen.» Und so lernte ich wohl von niemandem besser Deutsch als von meinem Lateinlehrer.
Während Schweizer an diesem Morgen ­ausbrach wie ein Vulkan und wir Schüler unter seinem Aschenregen in Deckung gingen, versank Heiri im Boden. In seiner Seele, so nahm ich an, hinterliess Schweizer ein Trümmerfeld.
Ein Fall für die IV?
Heute würden wohlmeinende Psychiater ­ Heiri eine posttraumatische Belastungsstörung attestieren, vielleicht wäre er bereits ein Fall für die Invaliden-Versicherung. Lehrer wie ­ Dr. Schweizer hätten es schwer in unserer Epoche. Hielte man sie überhaupt für fähig, Jugendliche zu unterrichten? Würde ein besorgter Bildungs­direktor, den die Eltern gescheiterter Kinder längst mit Leserbriefen und Protestmärschen be­-drängt hätten, an ihm festhalten? Anwälte würden tätig, Journalisten recherchierten, Kollegen distanzierten sich. Dr. Schweizer gälte heute als Dinosaurier. So viel ich weiss (und hoffe), lebt er zufrieden als pensionierter Lehrer in Baden.
Revolution im Kindergarten
Als meine Kollegin Franziska Laur und ich vor wenigen Tagen den Basler Erziehungsdirektor Christoph Eymann zu einem durchaus heiteren Interview trafen, redeten wir auch über den ­Kindergarten und den neuen Lernbericht, eine Art Zeugnis für die Kindergärtner, wie er neuerdings in Basel-Stadt üblich ist. Weil offenbar das eine oder andere Kind einen Kameraden verprügelt oder gehänselt hatte, und die Kindergärtnerin sich ausserstande sah, das schriftlich zu belegen, als Eltern sich über diese Rotznasen erkundigten, kam man zum Schluss, den Lernbericht einzuführen.
«Das Kind ist in der Gruppe aufmerksam und fühlt sich angesprochen», heisst es da, und die «Kindergartenlehrperson», wie dieser vertraute Beruf politisch korrekt nun genannt wird, muss diese Aussage auf einer Skala von vier Stufen bewerten. («Die Kompetenz, das Verhalten ist deutlich erkennbar, erkennbar, teilweise erkennbar, noch nicht erkennbar».)
Headhunter oder Lehrerin?
Neben mehr oder weniger vernünftigen Fragen zur Grobmotorik oder auch zu Können und ­Wissen fallen besonders die psychologisierenden Erkundigungen auf, die zu beantworten von einem Lehrer sehr viel verlangen. Diese Fragen überwiegen. Als wäre die Kindergärtnerin eine Psychiaterin, die einen Erwachsenen zu beurteilen hat, der sich für eine Führungsposition bewirbt, ist sie gehalten, in die tiefsten Seelen­lagen ihrer Schützlinge vorzustossen. Über­forderung und Vermessenheit zugleich.
«Das Kind lässt sich durch Misserfolge nicht übermässig verunsichern.» Welcher Erwachsene könnte das von sich selbst behaupten? «Kann die Sichtweise einer Person/Gruppe übernehmen», «Respektiert die Meinungen und Ansichten anderer». Und das ist vielleicht eine der groteskesten Fragen: «Das Kind kann eigene Stärken und den persönlichen Entwicklungsbedarf benennen.» Die Kinder sind zwischen vier und fünf Jahre alt!
Wenn ich richtig gezählt habe, sind es 71 Fragen, die eine Kindergärtnerin zu klären hat. Allein das Ausfüllen dieses mehrseitigen Formulars für mehrere Kinder dürfte Tage verschlingen. Einmal im Jahr droht diese Herausforderung. Darüber hinaus verlangen die Erziehungsbehörden, dass die Lehrer mit den betreffenden Eltern ein Gespräch vereinbaren, um dieses psychologische Total-Gutachten zu besprechen und «ein oder zwei gemeinsame Ziele festzulegen», was selbstverständlich mit gemeinsamen Unterschriften aller Erziehungsberechtigten besiegelt wird. Was ja immer bedeutet: Alles wird gut, solange wir es notiert haben.
Es sind dieser Irrsinn, diese bürokratische Hybris, diese Formularflut und Psychologismus-Plage, die den schönen und wertvollen Beruf des Lehrers zerstören. Welcher Mensch bei Verstand tut sich das noch an? Früher gab es auch Probleme in der Schule oder im Kindergarten – dann rief die Kindergärtnerin die Eltern an und man versuchte, die Schwierigkeiten auszuräumen. Von Fall zu Fall. Menschenfreundlicher Pragmatismus. Kein Formular war vonnöten. Kein Archiv brach zusammen unter einer Lawine von Lernberichten, die kein Mensch je mehr liest.
Mein guter alter Lehrer

Ausser brutalen Noten hat Dr. Schweizer nichts Schriftliches abgegeben. Stattdessen begeisterte er uns Schüler mit seiner Liebe zur antiken Literatur. Tacitus, Vergil, Ovid oder Cäsar, und immer wieder mein Star – Catull: Stundenlang debattierten wir diese Texte – mit einer Wut und Leidenschaft, als hinge unser Leben davon ab. In den Abendstunden versammelte man sich ab und zu bei Schweizer zu Hause, um weiter zu lesen und zu diskutieren, an den Wochenenden probten wir unter der Anleitung von Regisseur Schweizer Theaterstücke ein, die wir dann an der Schule zur Aufführung brachten. Die Matrone von Ephesus zum Beispiel, ein Fragment! Pausen? Wer bei Schweizer in die Lateinstunde ging, hatte eigentlich nie das Bedürfnis nach Freizeit. Auch der arme Heiri übrigens nicht. Heute lebt er als erfolgreicher Anwalt in Australien.

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