Einer der besten Berufe der Welt wird ruiniert. Basler Zeitung, 12.4. von Markus Somm
Heiri Moser hatte sich
nichts Böses dabei gedacht, als er auf seiner Schulmappe diesen Kleber
angebracht hatte: «Das Beste an der Arbeit sind die Pausen.» Zusammen besuchten
wir die Kantonsschule in Baden. Wir waren sechzehn Jahre alt. Latein stand an.
Kaum hatte sich Heiri an diesem Morgen im Sommer hingesetzt und die Mappe aufs
Pult geschletzt, betrat Dr. Hansjörg Schweizer das Klassenzimmer – mit jener
unvergleichlichen Mischung von Kampfgeist und Opera buffa, die ihm eigen war,
so dass wir nie recht wussten: marschiert die römische Armee ein oder beginnt
eine Komödie von Plautus?
«Wafällt Ihnen ein,
Moser?», schnarrte Schweizer, als er zufällig den Kleber auf der Mappe
erblickte. Heute war die römische Armee gekommen. «Müssen Sie uns jetzt auch
noch die Freude an der Arbeit vergällen?» «Aber, ich ... aber, nur».
Ohne Heiri je zu Wort
kommen zu lassen, folgte eine Standpauke, ein olympisches Donnerwetter, eine
verbale Umfassungsschlacht, bis Heiri fast vom Stuhl fiel: Es schien, als ob
Dr. Schweizer diesen Schüler für immer zum Schweigen bringen wollte. Eine
Stunde lang hielt unser Lateinlehrer, der auch als Klassenlehrer fungierte und
jeweils das Zeugnis unterschrieb, ein Referat über die Vorzüge des
protestantischen Arbeitsethos, das nun in einer Ära der Dekadenz von
gedankenlosen Menschen, Verbrechern und Taugenichtsen, Barbaren und Banausen in
den Dreck gezogen würde. Nichts, dozierte Schweizer, beglückt den Menschen
nämlich mehr als Arbeit, als das Streben nach Perfektion, als Schweiss und
Tränen, – nichts Schöneres unter der Sonne also als ein dunkler unübersetzbarer
lateinischer Satz von Horaz, dem römischen Dichter, den wir hassten, weil er
uns ein so unverständliches Latein vermacht hatte. Zweitausend Jahre Elend für
alle Schüler des Westens.
Die sizilianische
Connection
Ob Dr. Schweizer
überhaupt ein Protestant war, weiss ich nicht mehr, vermutlich eher nicht, da
er eine sizilianische Grossmutter hatte, die ihn augenscheinlich auch
physiologisch geprägt hatte. Wie ein hagerer römischer Gott sah Schweizer aus,
immer mit dunklem Teint, die Haare so kurz geschnitten, als hätte er sich eine
Glatze gewünscht, um Julius Cäsar, dem Glatzkopf, zu gefallen. Was ihn aber als
Alemannen verriet, war seine Körperlänge: schlaksig und hochgewachsen blickte
er von oben herab wie ein Adler aus seinem Nest.
Wenn er jemanden
zurechtwies, wuchs er um einige Zentimeter. Sein Temperament hingegen stammte
ebenfalls von der Grossmutter aus Sizilien: Manchmal, in den frohen Stunden
des Plautus, hüpfte und sprang Schweizer im Klassenzimmer herum, seine Augen
blitzten, seine Arme flogen durch die Luft, wie ab und zu auch ein Buch, das
einen Schüler niederstreckte, wenn dieser nicht aufmerksam genug den
Ausführungen des Schulmeisters gefolgt war.
Bevor wir etwas
übersetzten, liess sich Schweizer lässig auf einem Pult nieder, schlug die
Beine übereinander und begann zunächst den Text zu deklamieren wie ein antiker
Schauspieler. Da Lateinisch anders ausgesprochen wurde als heute, er aber
fliessend Italienisch sprach, gehörte es zu seinem Ehrgeiz, Lateinisch so
klingen zu lassen wie um 100 v. Chr. Nicht Cäsar also, sondern Gaisar!
Zuweilen erschien es uns, als ob Dr. Schweizer in der Toga vor uns sässe.
Stolz und Vorurteil
Schweizer war der erste
Lehrer, der mich in der Klasse blossstellte, weil ich, wie mir das von meinem
ersten Lateinlehrer eingeschärft worden war, jeden Ablativus absolutus in
meiner Übersetzung in Klammern angezeigt hatte, um klarzustellen, dass ich den
«Abl.abs.» begriffen hatte, eine grammatikalische Spezialität des Lateinischen.
«Ich kann Latein!», höhnte Schweizer und gab mir, obwohl alles in meiner
Version stimmte, eine miserable Note. «Ich möchte, dass Sie so übersetzen, als
wäre es Deutsch. Lateinisches Deutsch kann ich nicht ertragen.» Und so lernte
ich wohl von niemandem besser Deutsch als von meinem Lateinlehrer.
Während Schweizer an
diesem Morgen ausbrach wie ein Vulkan und wir Schüler unter seinem Aschenregen
in Deckung gingen, versank Heiri im Boden. In seiner Seele, so nahm ich an,
hinterliess Schweizer ein Trümmerfeld.
Ein Fall für die IV?
Heute würden
wohlmeinende Psychiater Heiri eine posttraumatische Belastungsstörung
attestieren, vielleicht wäre er bereits ein Fall für die
Invaliden-Versicherung. Lehrer wie Dr. Schweizer hätten es schwer in unserer
Epoche. Hielte man sie überhaupt für fähig, Jugendliche zu unterrichten? Würde
ein besorgter Bildungsdirektor, den die Eltern gescheiterter Kinder längst mit
Leserbriefen und Protestmärschen be-drängt hätten, an ihm festhalten? Anwälte
würden tätig, Journalisten recherchierten, Kollegen distanzierten sich. Dr.
Schweizer gälte heute als Dinosaurier. So viel ich weiss (und hoffe), lebt er
zufrieden als pensionierter Lehrer in Baden.
Revolution im
Kindergarten
Als meine Kollegin
Franziska Laur und ich vor wenigen Tagen den Basler Erziehungsdirektor
Christoph Eymann zu einem durchaus heiteren Interview trafen, redeten wir auch
über den Kindergarten und den neuen Lernbericht, eine Art Zeugnis für die
Kindergärtner, wie er neuerdings in Basel-Stadt üblich ist. Weil offenbar das
eine oder andere Kind einen Kameraden verprügelt oder gehänselt hatte, und die
Kindergärtnerin sich ausserstande sah, das schriftlich zu belegen, als Eltern
sich über diese Rotznasen erkundigten, kam man zum Schluss, den Lernbericht
einzuführen.
«Das Kind ist in der
Gruppe aufmerksam und fühlt sich angesprochen», heisst es da, und die
«Kindergartenlehrperson», wie dieser vertraute Beruf politisch korrekt nun
genannt wird, muss diese Aussage auf einer Skala von vier Stufen bewerten.
(«Die Kompetenz, das Verhalten ist deutlich erkennbar, erkennbar, teilweise
erkennbar, noch nicht erkennbar».)
Headhunter oder
Lehrerin?
Neben mehr oder weniger
vernünftigen Fragen zur Grobmotorik oder auch zu Können und Wissen fallen
besonders die psychologisierenden Erkundigungen auf, die zu beantworten von
einem Lehrer sehr viel verlangen. Diese Fragen überwiegen. Als wäre die
Kindergärtnerin eine Psychiaterin, die einen Erwachsenen zu beurteilen hat, der
sich für eine Führungsposition bewirbt, ist sie gehalten, in die tiefsten
Seelenlagen ihrer Schützlinge vorzustossen. Überforderung und Vermessenheit
zugleich.
«Das Kind lässt sich
durch Misserfolge nicht übermässig verunsichern.» Welcher Erwachsene könnte das
von sich selbst behaupten? «Kann die Sichtweise einer Person/Gruppe
übernehmen», «Respektiert die Meinungen und Ansichten anderer». Und das ist
vielleicht eine der groteskesten Fragen: «Das Kind kann eigene Stärken und den
persönlichen Entwicklungsbedarf benennen.» Die Kinder sind zwischen vier und
fünf Jahre alt!
Wenn ich richtig gezählt
habe, sind es 71 Fragen, die eine Kindergärtnerin zu klären hat. Allein das
Ausfüllen dieses mehrseitigen Formulars für mehrere Kinder dürfte Tage
verschlingen. Einmal im Jahr droht diese Herausforderung. Darüber hinaus
verlangen die Erziehungsbehörden, dass die Lehrer mit den betreffenden Eltern
ein Gespräch vereinbaren, um dieses psychologische Total-Gutachten zu
besprechen und «ein oder zwei gemeinsame Ziele festzulegen», was
selbstverständlich mit gemeinsamen Unterschriften aller Erziehungsberechtigten
besiegelt wird. Was ja immer bedeutet: Alles wird gut, solange wir es notiert
haben.
Es sind dieser Irrsinn,
diese bürokratische Hybris, diese Formularflut und Psychologismus-Plage, die
den schönen und wertvollen Beruf des Lehrers zerstören. Welcher Mensch bei
Verstand tut sich das noch an? Früher gab es auch Probleme in der Schule oder
im Kindergarten – dann rief die Kindergärtnerin die Eltern an und man
versuchte, die Schwierigkeiten auszuräumen. Von Fall zu Fall. Menschenfreundlicher
Pragmatismus. Kein Formular war vonnöten. Kein Archiv brach zusammen unter
einer Lawine von Lernberichten, die kein Mensch je mehr liest.
Mein guter alter Lehrer
Ausser brutalen Noten
hat Dr. Schweizer nichts Schriftliches abgegeben. Stattdessen begeisterte er
uns Schüler mit seiner Liebe zur antiken Literatur. Tacitus, Vergil, Ovid oder
Cäsar, und immer wieder mein Star – Catull: Stundenlang debattierten wir diese
Texte – mit einer Wut und Leidenschaft, als hinge unser Leben davon ab. In den
Abendstunden versammelte man sich ab und zu bei Schweizer zu Hause, um weiter
zu lesen und zu diskutieren, an den Wochenenden probten wir unter der Anleitung
von Regisseur Schweizer Theaterstücke ein, die wir dann an der Schule zur
Aufführung brachten. Die Matrone von Ephesus zum Beispiel, ein Fragment!
Pausen? Wer bei Schweizer in die Lateinstunde ging, hatte eigentlich nie das
Bedürfnis nach Freizeit. Auch der arme Heiri übrigens nicht. Heute lebt er als
erfolgreicher Anwalt in Australien.
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