Aeppli: "Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass jedes Thema in der Bildung kontrovers diskutiert wird", Bild: Christoph Ruckstuhl
"Es gibt kein Demokratiedefizit", NZZ, 12.4. Interview von Walter Bernet
Frau Aeppli, was ist für Sie das Wichtige, das Neue
am Lehrplan 21 (LP 21): etwas Pädagogisches oder etwas Politisches?
Es ist beides: Das pädagogisch Neue ist die
konsequente Kompetenzorientierung, die sich als Grundprinzip durch alle
Fachbereiche durchzieht. Es ist eine Chance für die Volksschule, dass alle
Kantone unserer Sprachregion dieses erziehungswissenschaftlich fundierte
Prinzip übernehmen. Politisch ist die Harmonisierung der Lehrpläne nach über
150 Jahren rein kantonaler Bildungshoheit ein grosser Schritt.
Der LP 21 sei ein «akademisches Monstrum» wurde
polemisch geschrieben. Wird bei 550 Seiten und 4753 Kompetenzen überreguliert?
Bei der Erarbeitung wollten wir die Praxis stark
einbeziehen. In allen Fachteams arbeiteten Lehrpersonen mit. Klar ist, dass die
Beteiligten ihren eigenen Fachbereich ganz besonders gut und gründlich
ausgestaltet haben wollten. Die Steuergruppe LP 21 teilt die Kritik an der zu
grossen Anzahl von Kompetenzbeschrieben bis zu einem bestimmten Grad. Deshalb
ist jetzt der Auftrag erteilt worden, den Lehrplan um 20 Prozent zu kürzen.
Wird es eine Light-Version für den Schulalltag
geben?
Nein, darauf verzichten wir. Es soll aber eine
Broschüre für Eltern und Schulbehörden geben. Die Lehrerinnen und Lehrer können
sich am Computer rasch einen Überblick verschaffen, indem sie die
entsprechenden Kompetenzbeschriebe aufschalten. Klare, leicht greifbare
Vorgaben sind eine der Stärken des LP 21. Selbstverständlich gehören immer auch
entsprechende Inhalte dazu. Kompetenz heisst, dem Wissen entsprechend handeln
zu können.
Können die Zürcher Lehrpersonen kompetenzorientiert
unterrichten?
Heute gehört das kompetenzorientierte Unterrichten
in der Ausbildung zum pädagogischen Rüstzeug. Viele Lehrpersonen, die ihre
Ausbildung vor längerer Zeit abgeschlossen haben, haben sich das
kompetenzorientierte Unterrichten in der Weiterbildung und in der Praxis
angeeignet. Trotzdem wird es Vorbereitungen zur Anwendung des neuen Lehrplans
brauchen. Deshalb müssen wir uns die nötige Zeit für die Umsetzung nehmen. Wir
wollen den LP 21 wie viele andere Kantone ab dem Schuljahr 2017/2018 einführen,
und zwar gestaffelt. Ab 2021 sollte er dann überall zum Einsatz kommen.
Wie wird die Weiterbildung aussehen?
Die pädagogische Hochschule macht sich für die Idee
stark, nicht in erster Linie auf zentrale Kurse zu setzen. Sie will die
Einführung an den Schulen, also vor Ort, ermöglichen. Die Schulteams sollen
diese neue Unterrichtsform miteinander erarbeiten und umsetzen. Daneben wird es
Weiterbildungsangebote - voraussichtlich freiwillige - der pädagogischen
Hochschule geben.
Wie viele zeitliche und finanzielle Ressourcen
stehen im Kanton Zürich für die Umsetzung des LP 21 zur Verfügung?
Die nötigen Mittel müssen im Konsolidierten
Entwicklungs- und Finanzplan (KEF) eingestellt werden. Die Kosten werden davon
abhängen, wie viele Weiterbildungsmodule angeboten werden und wie viele
Lehrpersonen von diesem Angebot Gebrauch machen.
Sind die Weiterbildungen in den Schulen da
inbegriffen?
Unsere Überlegungen haben sich bisher nur auf die
vom Kanton zu tragenden Kosten bezogen. Grundsätzlich möchten wir die
Einführung in die unterrichtsfreie Zeit legen, zum Beispiel in die letzte
Sommerferienwoche der Schulen - mit rechtzeitiger Ankündigung.
Kritisiert wurde, dass die Stundentafel mit
Vorgaben des LP 21 beinahe gefüllt wird und wenig Raum für kantonale oder
schulische Eigenheiten bleibt.
Wir werden wie angekündigt im Kanton eine
Vernehmlassung durchführen, wenn der LP 21 einmal in die Zürcher Stundentafel
eingearbeitet ist. Das wird eine wichtige Aufgabe des Bildungsrats sein; wie
das Resultat aussieht, kann ich noch nicht sagen. Der Füllgrad von 80 Prozent
lässt im Kanton Zürich einen gewissen Spielraum offen.
Wie steht es mit dem spezifisch zürcherischen Fach
Religion und Kultur?
Der LP 21 ist kompatibel mit diesem Fach. Man hat
im Rahmen der Konsultation gewünscht, dass der Unterricht, namentlich in der
Primarschule, auch auf das bezogen sein soll, was die Schülerinnen und Schüler
in ihrem Umfeld erleben und wahrnehmen. Dazu gehören zum Beispiel die
christlichen Feste und Überlieferungen. Das ist auch im Zürcher Lehrplan für
Religion und Kultur, der für das LP-21-Team wichtige Impulse gab, so
vorgesehen.
Wer darf die 20 Prozent Freiraum füllen, der Kanton
oder die einzelnen Schulen?
Es sind vor allem die einzelnen Schulen. Sie sollen
Zeit für Projektarbeit oder Spezialthemen einsetzen können - natürlich in
Übereinstimmung mit den Zielen des Lehrplans.
Ist der LP 21 nun «das grösste Reformvorhaben seit
der Etablierung der Volksschule» oder bloss die «schriftliche Fixierung dessen,
was im Kanton bereits Praxis ist»?
Er ist weder das eine noch das andere, er ist in
erster Linie ein Harmonisierungsprojekt der Kantone, das den aktuellen
erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung trägt. Es gibt Fächer, in
denen der Unterricht dank neuen Lehrmitteln schon seit einiger Zeit stärker
kompetenzorientiert ausgerichtet ist als in anderen. Es geht darum, die
unterschiedlichen Ansätze besser aufeinander abzustimmen. Dafür braucht es zum
Teil auch neue Lehrmittel. Im Fach Französisch etwa ist die Ablösung der
«Envol»-Reihe bereits in Auftrag gegeben worden.
Kann eine so grundlegende Änderung in der Kompetenz
des Bildungsrats bleiben? Gibt es ein Defizit an demokratischer Legitimation?
Vorstösse dazu sind im Kantonsrat hängig.
Es geht wie gesagt um eine Harmonisierung. Die
demokratische Verankerung des LP 21 entspricht genau der vom Gesetz
vorgesehenen Arbeitsteilung. Der Bildungsrat ist durch seine Wahl im Kantonsrat
und durch das Gesetz, das seine Zusammensetzung vorschreibt, legitimiert. Der
Erlass und die Änderung von Lehrplänen sind eine gesetzliche festgeschriebene
Kernkompetenz des Bildungsrats. Es gibt kein Demokratiedefizit.
Braucht es angesichts der zum Teil heftigen Kritik
mehr offizielle Informations- und Aufklärungsarbeit?
Ich habe in der Überarbeitungsphase festgestellt,
dass die Unterstützung für den Lehrplan und die Harmonisierung sehr breit
abgestützt ist. Aber ich habe auch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass
jedes Thema in der Bildung kontrovers diskutiert wird. Das gilt umso mehr für
ein Grossprojekt wie einen kantonsübergreifenden Lehrplan.
Hat das damit zu tun, dass am LP 21 während sehr
langer Zeit in einem vor der Öffentlichkeit geschützten Raum gearbeitet wurde?
Ein Lehrplan ist ein pädagogisches Werkzeug für die
Schulen. Seine Erarbeitung gehört in die Hände von Fachleuten und nicht in die
Leserbriefspalten und Blogs. Es gibt genau wie in andern Fachbereichen auch in
der Pädagogik und Didaktik fachliche Standards. Über die Anwendung von
Heilmitteln gibt es auch keine Abstimmungen; eine Fachbehörde entscheidet,
welche sie zulässt und welche nicht. Die ganzen Kontroversen drehen sich in der
Pädagogik stark um Haltungen und Werte und gar nicht so sehr um das Fachliche.
Bei der Arbeit am LP 21 war von Anfang an klar, dass es nicht darum gehen kann,
den Schülerinnen und Schülern weltanschauliche, religiöse oder politische Werte
vorzugeben. Trotzdem wurden in den Konsultationen zahlreiche Befürchtungen dazu
geäussert. Darum soll noch klarer gesagt werden, dass es darum geht, die
Schülerinnen und Schüler zu befähigen, Haltungen und Werte einzuordnen und
gegeneinander abzuwägen, das heisst, ihnen zu ermöglichen, sich ein eigenes
Urteil zu bilden.
Das Ganze ist ein Harmonisierungsprojekt, aber
ausgerechnet in der Sprachenfrage bleibt man auf dem alten Stand stehen. Muss
sie neu aufgerollt werden?
In unserem viersprachigen Land entscheiden nicht
die Sprachregionen über die Fremdsprachen. Sie sind eine gesamtschweizerische
Angelegenheit. Der sprachregionale LP 21 basiert auch diesbezüglich auf den
Vorgaben des Harmos-Konkordats. Die Frage der Fremdsprachen und ihrer
Reihenfolge wird uns wohl weiterhin beschäftigen, aber wir sind gut beraten,
einen Sprachenstreit zu vermeiden. Ich bin nach wie vor überzeugt von der
Richtigkeit des Ansatzes, den wir 2004 gewählt haben. Auch Bundesrat Alain Berset
ist ein erklärter Befürworter der Lösung, welche die Schweizerische Konferenz
der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) damals fand.
Das ist die eine Frage, die kontrovers diskutiert
wird. Die andere ist die nach dem Sinn der zweiten Fremdsprache in der
Primarschule, die im LP 21 jetzt auch verankert ist. Muss man das bald wieder
ändern?
Auch das ist nicht das Thema des Lehrplans 21.
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