12. April 2014

Aeppli: "Kompetenzorientierung ist wissenschaftlich fundiert"

In einem Interview mit der NZZ rezykliert die Zürcher Noch-Bildungsdirektorin Regine Aeppli ihre während ihrer Regierungszeit erworbenen Glaubenssätze. Für sie gibt es bei der Erarbeitung des Lehrplans 21 kein Demokratiedefizit, die Kompetenzorientierung ist für sie ein "fundiertes wissenschaftliches Prinzip" und sie steht nach wie vor bedingungslos hinter dem Fremdsprachenbeschluss von 2004. Die massive Kritik an diesen und weiteren Punkten perlt wirkungslos an ihr ab. Keinen Millimeter rückt die erfahrene Politikerin von ihrer einst gefassten Position ab. Das zeugt von politischer Standhaftigkeit und Durchsetzungskraft. Doch in der Auseinandersetzung um den Lehrplan 21 geht es um mehr als politische Kraftmeierei, es geht um eine pädagogische Richtungswahl und wie überall im Leben ist der Fortschritt abhängig vom Austausch der Argumente. 









Aeppli: "Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, dass jedes Thema in der Bildung kontrovers diskutiert wird", Bild: Christoph Ruckstuhl

"Es gibt kein Demokratiedefizit", NZZ, 12.4. Interview von Walter Bernet




Frau Aeppli, was ist für Sie das Wichtige, das Neue am Lehrplan 21 (LP 21): etwas Pädagogisches oder etwas Politisches?
Es ist beides: Das pädagogisch Neue ist die konsequente Kompetenzorientierung, die sich als Grundprinzip durch alle Fachbereiche durchzieht. Es ist eine Chance für die Volksschule, dass alle Kantone unserer Sprachregion dieses erziehungswissenschaftlich fundierte Prinzip übernehmen. Politisch ist die Harmonisierung der Lehrpläne nach über 150 Jahren rein kantonaler Bildungshoheit ein grosser Schritt.
Der LP 21 sei ein «akademisches Monstrum» wurde polemisch geschrieben. Wird bei 550 Seiten und 4753 Kompetenzen überreguliert?
Bei der Erarbeitung wollten wir die Praxis stark einbeziehen. In allen Fachteams arbeiteten Lehrpersonen mit. Klar ist, dass die Beteiligten ihren eigenen Fachbereich ganz besonders gut und gründlich ausgestaltet haben wollten. Die Steuergruppe LP 21 teilt die Kritik an der zu grossen Anzahl von Kompetenzbeschrieben bis zu einem bestimmten Grad. Deshalb ist jetzt der Auftrag erteilt worden, den Lehrplan um 20 Prozent zu kürzen.
Wird es eine Light-Version für den Schulalltag geben?
Nein, darauf verzichten wir. Es soll aber eine Broschüre für Eltern und Schulbehörden geben. Die Lehrerinnen und Lehrer können sich am Computer rasch einen Überblick verschaffen, indem sie die entsprechenden Kompetenzbeschriebe aufschalten. Klare, leicht greifbare Vorgaben sind eine der Stärken des LP 21. Selbstverständlich gehören immer auch entsprechende Inhalte dazu. Kompetenz heisst, dem Wissen entsprechend handeln zu können.
Können die Zürcher Lehrpersonen kompetenzorientiert unterrichten?
Heute gehört das kompetenzorientierte Unterrichten in der Ausbildung zum pädagogischen Rüstzeug. Viele Lehrpersonen, die ihre Ausbildung vor längerer Zeit abgeschlossen haben, haben sich das kompetenzorientierte Unterrichten in der Weiterbildung und in der Praxis angeeignet. Trotzdem wird es Vorbereitungen zur Anwendung des neuen Lehrplans brauchen. Deshalb müssen wir uns die nötige Zeit für die Umsetzung nehmen. Wir wollen den LP 21 wie viele andere Kantone ab dem Schuljahr 2017/2018 einführen, und zwar gestaffelt. Ab 2021 sollte er dann überall zum Einsatz kommen.
Wie wird die Weiterbildung aussehen?
Die pädagogische Hochschule macht sich für die Idee stark, nicht in erster Linie auf zentrale Kurse zu setzen. Sie will die Einführung an den Schulen, also vor Ort, ermöglichen. Die Schulteams sollen diese neue Unterrichtsform miteinander erarbeiten und umsetzen. Daneben wird es Weiterbildungsangebote - voraussichtlich freiwillige - der pädagogischen Hochschule geben.
Wie viele zeitliche und finanzielle Ressourcen stehen im Kanton Zürich für die Umsetzung des LP 21 zur Verfügung?
Die nötigen Mittel müssen im Konsolidierten Entwicklungs- und Finanzplan (KEF) eingestellt werden. Die Kosten werden davon abhängen, wie viele Weiterbildungsmodule angeboten werden und wie viele Lehrpersonen von diesem Angebot Gebrauch machen.
Sind die Weiterbildungen in den Schulen da inbegriffen?
Unsere Überlegungen haben sich bisher nur auf die vom Kanton zu tragenden Kosten bezogen. Grundsätzlich möchten wir die Einführung in die unterrichtsfreie Zeit legen, zum Beispiel in die letzte Sommerferienwoche der Schulen - mit rechtzeitiger Ankündigung.
Kritisiert wurde, dass die Stundentafel mit Vorgaben des LP 21 beinahe gefüllt wird und wenig Raum für kantonale oder schulische Eigenheiten bleibt.
Wir werden wie angekündigt im Kanton eine Vernehmlassung durchführen, wenn der LP 21 einmal in die Zürcher Stundentafel eingearbeitet ist. Das wird eine wichtige Aufgabe des Bildungsrats sein; wie das Resultat aussieht, kann ich noch nicht sagen. Der Füllgrad von 80 Prozent lässt im Kanton Zürich einen gewissen Spielraum offen.
Wie steht es mit dem spezifisch zürcherischen Fach Religion und Kultur?
Der LP 21 ist kompatibel mit diesem Fach. Man hat im Rahmen der Konsultation gewünscht, dass der Unterricht, namentlich in der Primarschule, auch auf das bezogen sein soll, was die Schülerinnen und Schüler in ihrem Umfeld erleben und wahrnehmen. Dazu gehören zum Beispiel die christlichen Feste und Überlieferungen. Das ist auch im Zürcher Lehrplan für Religion und Kultur, der für das LP-21-Team wichtige Impulse gab, so vorgesehen.
Wer darf die 20 Prozent Freiraum füllen, der Kanton oder die einzelnen Schulen?
Es sind vor allem die einzelnen Schulen. Sie sollen Zeit für Projektarbeit oder Spezialthemen einsetzen können - natürlich in Übereinstimmung mit den Zielen des Lehrplans.
Ist der LP 21 nun «das grösste Reformvorhaben seit der Etablierung der Volksschule» oder bloss die «schriftliche Fixierung dessen, was im Kanton bereits Praxis ist»?
Er ist weder das eine noch das andere, er ist in erster Linie ein Harmonisierungsprojekt der Kantone, das den aktuellen erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen Rechnung trägt. Es gibt Fächer, in denen der Unterricht dank neuen Lehrmitteln schon seit einiger Zeit stärker kompetenzorientiert ausgerichtet ist als in anderen. Es geht darum, die unterschiedlichen Ansätze besser aufeinander abzustimmen. Dafür braucht es zum Teil auch neue Lehrmittel. Im Fach Französisch etwa ist die Ablösung der «Envol»-Reihe bereits in Auftrag gegeben worden.
Kann eine so grundlegende Änderung in der Kompetenz des Bildungsrats bleiben? Gibt es ein Defizit an demokratischer Legitimation? Vorstösse dazu sind im Kantonsrat hängig.
Es geht wie gesagt um eine Harmonisierung. Die demokratische Verankerung des LP 21 entspricht genau der vom Gesetz vorgesehenen Arbeitsteilung. Der Bildungsrat ist durch seine Wahl im Kantonsrat und durch das Gesetz, das seine Zusammensetzung vorschreibt, legitimiert. Der Erlass und die Änderung von Lehrplänen sind eine gesetzliche festgeschriebene Kernkompetenz des Bildungsrats. Es gibt kein Demokratiedefizit.
Braucht es angesichts der zum Teil heftigen Kritik mehr offizielle Informations- und Aufklärungsarbeit?
Ich habe in der Überarbeitungsphase festgestellt, dass die Unterstützung für den Lehrplan und die Harmonisierung sehr breit abgestützt ist. Aber ich habe auch immer wieder die Erfahrung gemacht, dass jedes Thema in der Bildung kontrovers diskutiert wird. Das gilt umso mehr für ein Grossprojekt wie einen kantonsübergreifenden Lehrplan.
Hat das damit zu tun, dass am LP 21 während sehr langer Zeit in einem vor der Öffentlichkeit geschützten Raum gearbeitet wurde?
Ein Lehrplan ist ein pädagogisches Werkzeug für die Schulen. Seine Erarbeitung gehört in die Hände von Fachleuten und nicht in die Leserbriefspalten und Blogs. Es gibt genau wie in andern Fachbereichen auch in der Pädagogik und Didaktik fachliche Standards. Über die Anwendung von Heilmitteln gibt es auch keine Abstimmungen; eine Fachbehörde entscheidet, welche sie zulässt und welche nicht. Die ganzen Kontroversen drehen sich in der Pädagogik stark um Haltungen und Werte und gar nicht so sehr um das Fachliche. Bei der Arbeit am LP 21 war von Anfang an klar, dass es nicht darum gehen kann, den Schülerinnen und Schülern weltanschauliche, religiöse oder politische Werte vorzugeben. Trotzdem wurden in den Konsultationen zahlreiche Befürchtungen dazu geäussert. Darum soll noch klarer gesagt werden, dass es darum geht, die Schülerinnen und Schüler zu befähigen, Haltungen und Werte einzuordnen und gegeneinander abzuwägen, das heisst, ihnen zu ermöglichen, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
Das Ganze ist ein Harmonisierungsprojekt, aber ausgerechnet in der Sprachenfrage bleibt man auf dem alten Stand stehen. Muss sie neu aufgerollt werden?
In unserem viersprachigen Land entscheiden nicht die Sprachregionen über die Fremdsprachen. Sie sind eine gesamtschweizerische Angelegenheit. Der sprachregionale LP 21 basiert auch diesbezüglich auf den Vorgaben des Harmos-Konkordats. Die Frage der Fremdsprachen und ihrer Reihenfolge wird uns wohl weiterhin beschäftigen, aber wir sind gut beraten, einen Sprachenstreit zu vermeiden. Ich bin nach wie vor überzeugt von der Richtigkeit des Ansatzes, den wir 2004 gewählt haben. Auch Bundesrat Alain Berset ist ein erklärter Befürworter der Lösung, welche die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) damals fand.
Das ist die eine Frage, die kontrovers diskutiert wird. Die andere ist die nach dem Sinn der zweiten Fremdsprache in der Primarschule, die im LP 21 jetzt auch verankert ist. Muss man das bald wieder ändern?

Auch das ist nicht das Thema des Lehrplans 21.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen