2. März 2014

Missglückte Sexualkunde

Nachdem die Klasse 3s der Sekundarschule Binningen am 13. Februar in der BaZ über den «Besuch der Sextante D.» amdiesjährigen Pubertätstag berichtete, folgte die BZ mit einem Beitrag, dessen Titel «Erwachsene regten sich mehr auf als Jugendliche» sich wohl auf ein Zitat des Geschäftsführers der AidsHilfe beider Basel (AHBB) abstützte, dass Eltern meistens mehr schockiert sind als die Jugendlichen. Letzterer teilte in einem Interview in «7vor7» durch TeleBasel mit, dass die in die Kritik geratene Ausbildnerin, die unter der Flagge seiner Institution auftrat, schon viele Schulklassen besucht habe und es noch nie zu einer solchen Reaktion gekommen sei. Spielerisch würden diese Aufklärungsmodule angewandt. Die Schulleitung reagierte rasch mit einem Schreiben an die Eltern und äusserte ihr Bedauern, dass die Klasse in den Gang an die Presse «hineingezogen» worden sei, zumal dadurch die Schule negativ in den Schlagzeilen stehe. Man habe mit Fragebogen am Ende des Pubertätstags erheben können, dass dieser auf positive Gesinnung gestossen sei und stellte den Eltern in Aussicht, dass vorgängig an Elternabenden besser informiert ­werden könnte, obwohl die Eltern ja über den Pubertätstag vorinformiert worden seien.
Ein Arzt über den "Besuch der Sextante D." in der Schulklasse seiner Tochter, Andor Simon, Basler Zeitung, 25.2.


Diese sehr kurze Gesamtschau der Reaktionen zeigt auf, dass der eigentliche Kern der Sache zu keinem Zeitpunkt diskutiert wurde, weder durch die Presse noch durch die Schulleitung. Vielmehr scheint mir, dass der Beitrag dazu benutzt wurde, um einerseits politisch anmutende Nebenschauplätze in den Vordergrund zu drängen und um andererseits – beinahe im Stile des Kommissars Kniepel – Beweise zu bemühen, dass der Beitrag gar nicht aus der Hand der Klasse 3s stammte. Erstaunlich.
In unserer schnelllebigen Zeit lohnt es sich hin und wieder, einen Moment lang innezuhalten und zu reflektieren. So wollen wir auch nochmals dem ­Beitrag der Klasse 3s jene besondere Würdigung geben, die ihm gebührt, und uns dem Kern der Angelegenheit widmen, ohne uns durch den Lärm irgendwelcher Nebenschauplätze aus der Ruhe bringen zu lassen.
Dass Eltern und Erwachsene sich mehr «aufregen», ist korrekt. Das ist nicht aussergewöhnlich und soll anders auch nicht sein. Erwachsene greifen auf grössere Erfahrungsschätze zurück, die ihnen signalisieren, wenn etwas nicht mehr ganz korrekt läuft. Dass die Rückmeldungen der Schüler via Fragebogen grösstenteils positiv ausfielen, ist kein Argument, dass Eltern, die sich über solche Schulungsmethoden entsetzen, falschliegen.
Fragebogen bilden nicht immer ab, was erlebt wurde. In der wissenschaftlichen Literatur ist solide beschrieben, dass Fragebogen bei Erhebungen oft gemäss sozialer Erwartung und Konformität ausgefüllt werden, gerade wenn nicht sicher ist, wie anonym der Fragebogen behandelt wird. Können wir mit einem Fragebogen erfassen, was die Langzeitauswirkungen unbedachter und grenzüberscheitender Aussagen sind? Dass ein Fragebogen am Ende eines langen Kurstages mit der notwendigen Sorgfalt ausgefüllt wird, um den Anforderungen der Repräsentanz zu genügen, darf infrage gestellt werden. Schliesslich muss ein valider Fragebogen auch genügend breit und umfangreich erfassen.
In den letzten Jahren wurde ich einige Male zu den «Xundheitstagen» des Gymnasiums Oberwil eingeladen, über die neurobiologischen Auswirkungen von Cannabiskonsum auf das sich entwickelnde adoleszente Gehirn zu referieren. Würde ich nun im selben Stile verfahren, wie am Pubertätstag in der Klasse 3s geschehen, so müsste ich nebst dem Vermitteln der sachlichen Informationen auch noch zum aktiven Cannabiskonsum auffordern. Ja mehr noch: Ich müsste erklären, wie man die besten Cannabispflanzen mit möglichst viel THC und möglichst wenig Cannabidiol züchtet, und ich würde dann als Zückerchen noch erklären, wie man sich härteren Stoff besorgt und an welcher Körperstelle man diesen am besten appliziert. Selbstverständlich und völlig zu Recht würde ich die Gemüter aller Eltern erhitzen und hätte damit wohl mein allerletztes Schulreferat ­hinter mir.
Wenn Sie nun denken, dies sei ein groteskes Beispiel, dann gebe ich Ihnen recht. Ebenso grotesk ist es, dass bereits im Vorjahr in der Schulung der Klasse 3s den damals 12- bis 13-jährigen Schülerinnen Masturbationsmethoden empfohlen und dieses Jahr nun über bevorzugte Sexualstellungen und bevorzugte Anatomien des männlichen Genitals «referiert» wurde.
Es ist richtig, dass wir Eltern im Vorfeld des Pubertätstages durch die Schulleitung darüber informiert wurden, dass dieser stattfinden wird, nicht aber, dass dieser oben genannte Themen miteinschliessen würde. Ich nehme auch nicht an, dass die Schulleitung darüber informiert war.
Dass die Klasse 3s realisierte, dass hier die Grenzen nicht nur überschritten, sondern gar nicht mehr beachtet wurden, ist der Klasse hoch anzurechnen und Ausdruck eines ausgeprägten Sozialsinnes, den ich bisher so in kaum einer anderen Klasse erleben konnte. Zum Glück wurde der Klasse 3s ermöglicht, einen Beitrag zu veröffentlichen, auch wenn die postwendende Reaktion der Schulleitung diesen Schritt kritisch bewertete und der Klasse somit eine doch zwiespältige Haltung zur freien Meinungsäusserung vermittelt wurde. Es bedarf angesichts ihrer alters- und entwicklungsspezifischen Scham für diese jungen Menschen einer besonderen Überwindung, die Kursinhalte zu Hause anzusprechen, zumal diese ihnen teilweise noch so fremd sind und sie potenziell auch überfordern können. Wenn der «Pfupf» in einer Beziehung mit 53 Jahren weg ist: Ja, wie ist es dann bei meinen Eltern? Spielen die mir nur etwas vor? Und sollte ich selbst nicht lieber gleich Vollgas geben, weil mit 53 Jahren sowieso alles schon längst aus ist?
Wäre es möglich gewesen, aufzuzeigen, dass in jedem Lebensalter eine Beziehung hohe Qualität behalten kann, und somit zu vermitteln, dass es sich lohnt, in die Kontinuität einer Beziehung zu investieren? Wenn die Anatomie des Genitals so wichtig ist: hat die Ausbildnerin bedacht, dass gerade in diesem Alter – und bei vielen Menschen auch in allen weiteren Lebensabschnitten – andere Kriterien viel wichtiger sind in einer Beziehung und dass durch solche Aussagen unsichere Anteile in der eigenen psychischen Struktur, die im adoleszenten Lebensalter zur Norm gehören und gerade auch den Körper betreffen, verstärkt werden und auch zu psychischen Krisen führen können?
Es mutet an, dass hier persönlich gefärbte Meinungen einer Ausbildnerin, ausgehend von einer initial komplett anderen Zielgruppe, auf eine Gruppe Adoleszenter heruntergebrochen wurden, ohne sich nach den Grenzen zu orientieren, die in unseren Leben so wichtig sind und deren Pflege uns den Erhalt unserer Werte sichern – auch in einer Gesellschaft, die schon länger an vielen Ecken und Enden Werte abschafft. Inhärent in unserer Rolle als Eltern sind wir Vermittler dieser Werte, und ebenso ist es die Schule.
Die Schulleitung Binningen müsste sich gar nicht zu viele Gedanken machen über den Ruf ihrer Schule: Es ist uns ausreichend bekannt, wie herausfordernd der Lehrerberuf und die Pubertät sein können. Die Schulleitung hat in all den Jahren, in denen meine Kinder die Sekundarschule Binningen besuchten, in schwierigen Situationen in aller Regel vorbildlich reagiert und informiert. Sie hätte ihren Ruf gar verbessern können, hätte sie sich in ihrem aktuellen Schreiben nicht so bedeckt gehalten, sondern klar Stellung bezogen und den Schülern den Rücken gestärkt. Stellung beziehen, dass die hier kritisierten Inhalte am Pubertätstag, der für sich eine ausgesprochen wichtige Funktion hat und in welchem gerade auch einer Aufklärung über Aids durch die Kompetenz der AHBB hohe Bedeutung zukommt, klar nicht hineingehören. Mich als Vater hätte dies noch mehr versichert, dass unsere Kinder dort, wo sie einen Grossteil ihres Alltags verbringen, auch weiterhin die Werte gelehrt erhalten, die wir ihnen wünschen, um auch später ein wertvolles Leben zu leben.
Andor Simon ist Arzt und Vater einer Schülerin der Klasse 3s von der Sekundarschule Binningen.
Dass die Klasse 3s realisierte, dass hier Grenzen gar nicht mehr beachtet wurden, ist ihr hoch anzurechnen.

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