Ein Arzt über den "Besuch der Sextante D." in der Schulklasse seiner Tochter, Andor Simon, Basler Zeitung, 25.2.
Diese
sehr kurze Gesamtschau der Reaktionen zeigt auf, dass der eigentliche Kern der
Sache zu keinem Zeitpunkt diskutiert wurde, weder durch die Presse noch durch
die Schulleitung. Vielmehr scheint mir, dass der Beitrag dazu benutzt wurde, um
einerseits politisch anmutende Nebenschauplätze in den Vordergrund zu drängen
und um andererseits – beinahe im Stile des Kommissars Kniepel –
Beweise zu bemühen, dass der Beitrag gar nicht aus der Hand der Klasse 3s
stammte. Erstaunlich.
In
unserer schnelllebigen Zeit lohnt es sich hin und wieder, einen Moment lang
innezuhalten und zu reflektieren. So wollen wir auch nochmals dem Beitrag der
Klasse 3s jene besondere Würdigung geben, die ihm gebührt, und uns dem Kern der
Angelegenheit widmen, ohne uns durch den Lärm irgendwelcher Nebenschauplätze
aus der Ruhe bringen zu lassen.
Dass
Eltern und Erwachsene sich mehr «aufregen», ist korrekt. Das ist nicht
aussergewöhnlich und soll anders auch nicht sein. Erwachsene greifen auf
grössere Erfahrungsschätze zurück, die ihnen signalisieren, wenn etwas nicht
mehr ganz korrekt läuft. Dass die Rückmeldungen der Schüler via Fragebogen
grösstenteils positiv ausfielen, ist kein Argument, dass Eltern, die sich über
solche Schulungsmethoden entsetzen, falschliegen.
Fragebogen
bilden nicht immer ab, was erlebt wurde. In der wissenschaftlichen Literatur
ist solide beschrieben, dass Fragebogen bei Erhebungen oft gemäss sozialer
Erwartung und Konformität ausgefüllt werden, gerade wenn nicht sicher ist, wie
anonym der Fragebogen behandelt wird. Können wir mit einem Fragebogen erfassen,
was die Langzeitauswirkungen unbedachter und grenzüberscheitender Aussagen
sind? Dass ein Fragebogen am Ende eines langen Kurstages mit der notwendigen
Sorgfalt ausgefüllt wird, um den Anforderungen der Repräsentanz zu genügen,
darf infrage gestellt werden. Schliesslich muss ein valider Fragebogen auch
genügend breit und umfangreich erfassen.
In den
letzten Jahren wurde ich einige Male zu den «Xundheitstagen» des Gymnasiums
Oberwil eingeladen, über die neurobiologischen Auswirkungen von Cannabiskonsum
auf das sich entwickelnde adoleszente Gehirn zu referieren. Würde ich nun im
selben Stile verfahren, wie am Pubertätstag in der Klasse 3s geschehen, so
müsste ich nebst dem Vermitteln der sachlichen Informationen auch noch zum
aktiven Cannabiskonsum auffordern. Ja mehr noch: Ich müsste erklären, wie man
die besten Cannabispflanzen mit möglichst viel THC und möglichst wenig
Cannabidiol züchtet, und ich würde dann als Zückerchen noch erklären, wie man
sich härteren Stoff besorgt und an welcher Körperstelle man diesen am besten
appliziert. Selbstverständlich und völlig zu Recht würde ich die Gemüter aller
Eltern erhitzen und hätte damit wohl mein allerletztes Schulreferat hinter
mir.
Wenn
Sie nun denken, dies sei ein groteskes Beispiel, dann gebe ich Ihnen recht.
Ebenso grotesk ist es, dass bereits im Vorjahr in der Schulung der Klasse 3s
den damals 12- bis 13-jährigen Schülerinnen Masturbationsmethoden empfohlen und
dieses Jahr nun über bevorzugte Sexualstellungen und bevorzugte Anatomien des männlichen
Genitals «referiert» wurde.
Es ist
richtig, dass wir Eltern im Vorfeld des Pubertätstages durch die Schulleitung
darüber informiert wurden, dass dieser stattfinden wird, nicht aber, dass
dieser oben genannte Themen miteinschliessen würde. Ich nehme auch nicht an,
dass die Schulleitung darüber informiert war.
Dass
die Klasse 3s realisierte, dass hier die Grenzen nicht nur überschritten,
sondern gar nicht mehr beachtet wurden, ist der Klasse hoch anzurechnen und
Ausdruck eines ausgeprägten Sozialsinnes, den ich bisher so in kaum einer
anderen Klasse erleben konnte. Zum Glück wurde der Klasse 3s ermöglicht, einen
Beitrag zu veröffentlichen, auch wenn die postwendende Reaktion der
Schulleitung diesen Schritt kritisch bewertete und der Klasse somit eine doch
zwiespältige Haltung zur freien Meinungsäusserung vermittelt wurde. Es bedarf
angesichts ihrer alters- und entwicklungsspezifischen Scham für diese jungen
Menschen einer besonderen Überwindung, die Kursinhalte zu Hause anzusprechen,
zumal diese ihnen teilweise noch so fremd sind und sie potenziell auch
überfordern können. Wenn der «Pfupf» in einer Beziehung mit 53 Jahren weg ist:
Ja, wie ist es dann bei meinen Eltern? Spielen die mir nur etwas vor? Und
sollte ich selbst nicht lieber gleich Vollgas geben, weil mit 53 Jahren sowieso
alles schon längst aus ist?
Wäre es
möglich gewesen, aufzuzeigen, dass in jedem Lebensalter eine Beziehung hohe
Qualität behalten kann, und somit zu vermitteln, dass es sich lohnt, in die
Kontinuität einer Beziehung zu investieren? Wenn die Anatomie des Genitals so
wichtig ist: hat die Ausbildnerin bedacht, dass gerade in diesem Alter –
und bei vielen Menschen auch in allen weiteren Lebensabschnitten – andere
Kriterien viel wichtiger sind in einer Beziehung und dass durch solche Aussagen
unsichere Anteile in der eigenen psychischen Struktur, die im adoleszenten
Lebensalter zur Norm gehören und gerade auch den Körper betreffen, verstärkt
werden und auch zu psychischen Krisen führen können?
Es
mutet an, dass hier persönlich gefärbte Meinungen einer Ausbildnerin, ausgehend
von einer initial komplett anderen Zielgruppe, auf eine Gruppe Adoleszenter
heruntergebrochen wurden, ohne sich nach den Grenzen zu orientieren, die in
unseren Leben so wichtig sind und deren Pflege uns den Erhalt unserer Werte
sichern – auch in einer Gesellschaft, die schon länger an vielen Ecken und
Enden Werte abschafft. Inhärent in unserer Rolle als Eltern sind wir Vermittler
dieser Werte, und ebenso ist es die Schule.
Die
Schulleitung Binningen müsste sich gar nicht zu viele Gedanken machen über den
Ruf ihrer Schule: Es ist uns ausreichend bekannt, wie herausfordernd der
Lehrerberuf und die Pubertät sein können. Die Schulleitung hat in all den
Jahren, in denen meine Kinder die Sekundarschule Binningen besuchten, in
schwierigen Situationen in aller Regel vorbildlich reagiert und informiert. Sie
hätte ihren Ruf gar verbessern können, hätte sie sich in ihrem aktuellen
Schreiben nicht so bedeckt gehalten, sondern klar Stellung bezogen und den
Schülern den Rücken gestärkt. Stellung beziehen, dass die hier kritisierten
Inhalte am Pubertätstag, der für sich eine ausgesprochen wichtige Funktion hat
und in welchem gerade auch einer Aufklärung über Aids durch die Kompetenz der
AHBB hohe Bedeutung zukommt, klar nicht hineingehören. Mich als Vater hätte
dies noch mehr versichert, dass unsere Kinder dort, wo sie einen Grossteil
ihres Alltags verbringen, auch weiterhin die Werte gelehrt erhalten, die wir
ihnen wünschen, um auch später ein wertvolles Leben zu leben.
Andor
Simon ist Arzt und Vater einer Schülerin der Klasse 3s von der Sekundarschule
Binningen.
Dass die Klasse 3s
realisierte, dass hier Grenzen gar nicht mehr beachtet wurden, ist ihr hoch
anzurechnen.
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