Der Weg zur modernen Bildungslandschaft, NZZ, 4.2. von Ernst Baumeler
«Keine Ausgaben tragen so reiche Zinsen wie die Ausgaben für die Jugendbildung.» Was der Zürcher Regierungsrat 1909 schrieb, gilt heute noch und umreisst, was die stetigen Bildungsreformen seit zwei Jahrhunderten bezwecken: junge Menschen schulisch und beruflich so zu formen, dass sie in der anspruchsvollen Arbeitswelt bestehen. Geradlinig ist der Weg von der Schule im alten Zürich zur modernen Bildungslandschaft nicht verlaufen. Im neuen Zürcher Taschenbuch für das Jahr 2014 zeichnet Meinrad Schär die Entwicklung der Zürcher Gymnasial- und Berufsbildung und der Bildungsverwaltung umfassend nach (siehe Kasten).
Bis zum Untergang der alten Eidgenossenschaft 1798 hatte alles seine feste Ordnung. Die Zürcher Obrigkeit und die Zünfte bestimmten und monopolisierten die handwerklich-gewerblich- kaufmännische Berufsausübung zugunsten der Stadtbürger. Schulen höherer Bildung existierten, abgesehen von Winterthur, nur in der Stadt Zürich.
Die Untertanen auf dem Land entbehrten dieser städtischen Privilegien. Erst die liberale Verfassung von 1831 fegte die alte Ständeordnung endgültig weg. Sie brachte die Gleichstellung von Stadt und Land und die Handels- und Gewerbefreiheit. Eine rasante Bevölkerungszunahme, die Industrialisierung und die ausländische Wirtschaftskonkurrenz erforderten es im 19. Jahrhundert laufend, die Konkurrenz- und Arbeitsmarktfähigkeit der Zürcher zu fördern. Ein entscheidender Schlüssel dazu war die Förderung von Mittelschulen und der Berufsbildung. 1833 nahm die Universität als Kind der liberalen Schulreform ihren Lehrbetrieb auf, ebenso die Kantonsschule. Diese umfasste eine gymnasiale Abteilung, hervorgegangen aus der früheren Gelehrtenschule, und eine als Industrieschule bezeichnete, berufsbildende Abteilung, die aus dem privaten Technischen Institut und der Kunstschule entstanden war. Zu den ersten Mittelschulen zählten das Lehrerseminar Küsnacht (1832) und die Tierarzneischule (1834). Die höheren Stadtschulen in Winterthur wurden 1862 zu Kantonsschulen. Mit den Maturitätsschulen in beiden Städten hatte es sein Bewenden. Noch 1951 bestritt der Regierungsrat die Notwendigkeit von Mittelschulen auf dem Lande. Hohe Geburtenzahlen und die Gefahren des Schulwegs wegen des wachsenden Strassenverkehrs zwangen schliesslich aber doch zum Umdenken. 1955 wurde die Kantonsschule Wetzikon eröffnet. Da spielten regionalpolitische Überlegungen hinein: Man wollte die Landflucht eindämmen. Es folgten Oerlikon als erste koedukative Kantonsschule (1971), Bülach (1972) und Urdorf (1973).
Von der beruflichen Bildung hingegen hielt sich der Staat lange fern. Wohl bestritten die kantonalen Behörden nicht, dass Landwirtschaft und Gewerbe wichtig seien für den Volkswohlstand. So gründete der Kanton 1853 die landwirtschaftliche Schule Strickhof. Hingegen lehnten Regierungsrat und Parlament 1849 Petitionen zur Errichtung von Handwerksschulen ab, denn Handwerk und Gewerbe seien Privatsache. Es blieb den Gewerbevereinen oder Gemeinden überlassen, Gewerbeschulen für Lehrlinge und Meister einzurichten. Deren Besuch war freiwillig, und diverse Berufsverbände organisierten seit 1880/1881 freiwillige Lehrlingsprüfungen. Klagen wurden laut, die Lehrlingsausbildung sei mangelhaft, der Meister jage lieber dem schnellen Gewinn nach und habe unter dem Druck der Industrie weder Zeit noch Lust, auf die solide Ausbildung seiner Zöglinge Mühe zu verwenden.
Es brauchte die Nöte des Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise, um im eidgenössischen Berufsbildungsgesetz von 1930 den beruflichen Unterricht und die Lehrabschlussprüfungen für obligatorisch zu erklären. Wer diese bestand, erhielt ein von den kantonalen Behörden ausgestelltes Fähigkeitszeugnis. Wichtige Reformschübe brachten die Etablierung der Allgemeinbildung an Berufsschulen (1963), die ersten Berufsmittelschulen (1970), eine Regelung der Anlehre (1978), die Kantonalisierung der Berufsschulen (1986) und ab den 1990er Jahren Berufsmatura und Fachhochschulen. All dies im Bestreben, die Attraktivität der nichtakademischen Berufsbildung zu steigern, den Jugendlichen Fähigkeiten und Kenntnisse zu vermitteln, die über die spezifische Berufsausbildung hinausgehen, und sie für die Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts fit zu machen.
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