Runen schnitzen statt Schulstoff pauken, NZZ, 13.1. von Sibilla Bondolfi
Nicht nur musische Fächer wie Musik, Kunst und Theater haben an
Rudolf-Steiner-Schulen einen hohen Stellenwert, auch der praktische,
erlebnisorientierte Unterricht ist fester Bestandteil des Schulprogramms. Ob
Feldvermessungslager, Meeresbiologiepraktikum auf einer französischen
Atlantikinsel oder ein Steinhau-Projekt in der Toskana: An Steiner-Schulen
lernen Schüler, wie es sich anfühlt, mit beiden Händen anzupacken.
Explodierende
Schülerzahlen
Angesichts der zunehmenden Praxisentfernung im staatlichen Bildungswesen
erstaunt es nicht, dass die Steiner-Schulen mit dem an Pestalozzi angelehnten
Lernkonzept «Kopf, Herz und Hand» wieder grossen Zulauf haben: Seit 2009 sind
die Schülerzahlen an den Steiner-Schulen Adliswil, Winterthur und Zürich um 40
Prozent gestiegen. Nicht zuletzt die neu geschaffenen Abschlussmöglichkeiten an
einigen Steiner-Schulen - Fachmatur sowie gymnasiale Matur - mögen zum
Schülerboom beigetragen haben.
Mit einkommensabhängigen Familienbeiträgen zwischen 500 und 3000 Franken
monatlich sind Steiner-Schulen zudem relativ günstige Privatschulen - vor allem
für kinderreiche Familien. Die bescheidenen Preise sind möglich, weil sich die
Schulen zu einem guten Teil durch Spenden finanzieren.
Steiner-Schulen sind allerdings nicht bloss erlebnis-, gestaltungs- und
praxisorientierte Schulen. Sie zeichnen sich in erster Linie dadurch aus, dass
sie auf der anthroposophischen Pädagogik nach Rudolf Steiner (1861-1925) basieren.
Die Anthroposophie ist in den letzten Jahren allerdings unter Beschuss geraten
- unter anderem wegen Rassismusvorwürfen und sektiererischem Gebaren. Die
Anthroposophie umfasst viele Lebensbereiche: Von der anthroposophischen Medizin
über die biologisch-dynamische Landwirtschaft bis hin zur anthroposophischen
Ernährungslehre befolgen die Anhänger Rudolf Steiners seine zum Teil
umstrittenen Lehren.
Die Steiner-Schulen erwarten zwar offiziell nicht, dass die Eltern ihrer
Schüler zu Anthroposophen werden. Doch besucht ein Kind die
Steiner-Schule, kann das durchaus grössere Auswirkungen auf das Privatleben
einer Familie haben als der Besuch einer staatlichen Schule. So wird von Eltern
zum Beispiel erwartet, dass sie beim Schulhausputz mithelfen.
Kindergärtnerinnen und Lehrerpersonal führen zudem Hausbesuche bei den Familien
durch. Dabei müssen sich Eltern auch kritische Fragen gefallen lassen. «Bei
Familienbesuchen werden der Umgang mit elektronischen Medien und der TV-Konsum
thematisiert», sagt Cornelius Bohlen von der Schulleitung der Atelierschule
Zürich.
Geht diese Einmischung in den Familienalltag nicht etwas gar weit?
Bohlen relativiert: «Die Skepsis in der Waldorf-Bewegung gegenüber Geräten wie
Handy, Computer und TV darf man nicht verwechseln mit einem generellen Verbot.»
Auch von einem Fussballverbot oder von Kleidervorschriften will Bohlen nichts
wissen. Vielmehr stuft er entsprechende Fragen der Journalistin als Klischees
ein, die aus den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts stammten.
Die
verschwundenen Stiefel
Wirklich nur Klischees? Ein Artikel der Eurythmistin und
Steiner-Schul-Lehrerin Bettina Mehrtens in der Zeitschrift «Schulkreis» der
Rudolf-Steiner-Schulen relativiert dieses Bild. Sie begegne auch heute noch antipathischen
Reaktionen bei Kolleginnen, wenn zum Beispiel Kinder mit bedruckten
Kleidungsstücken im Unterricht erschienen, beide Eltern berufstätig seien oder
der Konsum von elektronischen Medien zum Familienalltag gehöre.
Mehrtens bestätigt damit auch Schilderungen von Eltern ehemaliger
Schüler verschiedener Rudolf-Steiner-Schulen, die von kuriosen Einmischungen
einzelner Lehrpersonen berichten. So erzählt eine Mutter, sie habe ihrem Sohn
Gummistiefel mit einem «Capt'n Sharky»-Logo gekauft, da er sich diese sehr
gewünscht habe. «Mein Vater hat meinen Sohn vom Kindergarten abgeholt und mir
später erzählt, er habe ihn barfuss mitnehmen müssen, die Stiefel seien
nirgends auffindbar gewesen.» Am nächsten Morgen sei ihr von der
Kindergärtnerin und der Tagesbetreuerin mit ernster Miene angekündigt worden,
es müsse ein Elterngespräch geben. «Von zwei Seiten wurde mir dann gepredigt,
dass der Aufdruck satanisch-diabolisch sei und man sich fragen müsse, ob meine
Kinder ein schadhaftes Umfeld hätten.»
Eine andere Mutter erzählt, wie sie ihrem Sohn erlaubte, in einem
Fussballclub zu spielen, was ebenfalls ein Elterngespräch zur Folge hatte. «Es
hiess, mein Sohn spiele mit Mutter Erde», erzählt sie. Eine andere Mutter
berichtet, ihr Sohn habe Schlagzeug spielen wollen, doch von Lehrerseite sei
ihr die Leier ans Herz gelegt worden, um den Sohn «geistig auszugleichen».
Einer weiteren Mutter ist nach eigenen Angaben vom Turmspringen als Hobby für
die Tochter abgeraten worden, weil dieses gegen den heileurythmischen Bewegungsablauf
verstosse.
In Einzelfällen haben sich Betroffene gar an eine Sekten-Beratungsstelle
gewandt: «Einige Ehemalige, die sich an Infosekta gewandt haben, berichteten
von psychischer Belästigung und einem engen, rigiden Schulklima», sagt Susanne
Schaaf von Infosekta, der Fachstelle für Sektenfragen. «Wenn die
Herkunftsfamilie sich ebenfalls in einem anthroposophischen Milieu bewegte, war
es für die Betroffenen sehr schwierig, sich zu lösen», so Schaaf. In einzelnen
Fällen sei sogar eine therapeutische Begleitung nötig gewesen.
Der Lehrer im
Zentrum
Eine Besonderheit der Rudolf-Steiner-Schulen ist die zentrale Rolle des
Klassenlehrers. Kinder werden in der Regel von der ersten bis zur achten Klasse
von derselben Lehrperson unterrichtet. Die Allmacht des Klassenlehrers birgt
aber auch Missbrauchspotenzial. Der extrem grosse Einfluss des Klassenlehrers
könne zwar fruchtbar und segensreich sein, aber auch völlig schiefgehen,
schreibt selbst die anthroposophische Redaktorin Laura Krautkrämer in einem
«Schulkreis»-Artikel über Prävention von sexuellem Missbrauch an
Rudolf-Steiner-Schulen. Es braucht auch deshalb ein grosses Vertrauen in die
Lehrer, weil ihnen nach der Steiner-Pädagogik bei der Gestaltung des
Unterrichts von der Schulleitung weitgehend freie Hand gewährt wird.
Laut Bohlen werden deshalb alle Anwärter auf eine Lehrerstelle auf Herz
und Nieren geprüft. Doch: «Eine der grössten Herausforderungen der nächsten
Jahre wird für die Steiner-Schulen der Lehrermangel sein», sagt Bohlen und
räumt ein, dass in solchen Mangelsituationen die Anforderungen an das
Lehrerpersonal heruntergeschraubt würden. Am Ende ist es möglicherweise nicht
die Kritik an der Anthroposophie, die den Steiner-Schulen zum Stolperstein
wird, sondern der eigene Erfolg.
Vom 17. bis 31. Januar 2014 öffnen 16 Steiner-Schulen der Regionen Bern,
Basel und Zürich ihre Türen. Informationen unterwww.steinerschule.ch.
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