29. Dezember 2013

"Unser Bildungssystem hat Besseres verdient"

Die wachsende Regulierung der Schulen entmündigt die Lehrpersonen. Der Lehrplan 21 ist ein weiteres Beispiel dafür. Er schlägt alle Schüler über einen Leisten und führt zu einer Gleichschaltung des Bildungssystems, findet René Donzé.
Der Bündner Bauernbub tickt anders als das Zürcher Agglokind, NZZaS, Kommentar von René Donzé

Dieser Tage läuft die Konsultationsfrist für den Lehrplan 21 aus. Kantone, Verbände und Parteien durften sich zum Regelwerk äussern, welches den Unterricht harmonisieren soll. Das Resultat ist ernüchternd: Vielstimmig ist die Kritik, eintönig der Tenor. Zwar will niemand am Grundsatz eines gemeinsamen Lehrplans für alle Deutschschweizer Kantone rütteln. Und doch heisst es unisono: Das Werk ist mit seinen mehr als 500 Seiten zu umfangreich. Es ist überladen mit seiner Fülle an Zielvorgaben. Es stellt zu hohe Ansprüche an Schüler und Lehrer.
Die Kritik kommt nicht etwa nur aus der Ecke wertkonservativer Reformgegner. Gegen die weitgehende Gleichschaltung des Schweizer Schulsystems wehren sich auch liberale Parteien, Wirtschaftsverbände, Erziehungswissenschafter und nicht zuletzt die Lehrer und Schulleiter. Das mag überraschen. Zur Erarbeitung des Lehrplans haben die Erziehungsdirektoren eine ausgeklügelte Organisation aufgezogen, viel Zeit und Geld investiert, einen Fachbeirat, eine Begleitgruppe und ein Expertenteam installiert. Auch rund 40 Lehrpersonen haben mitgewirkt. Daraus müsste ein breit abgestützter Konsens entstehen, sollte man meinen. Stattdessen hat sich die Organisation selbst referenziert und ist dabei in Sphären gelangt, in die ihr die Basis weder folgen kann noch will.
In der Tat liest sich das Werk als Wunschliste einer intellektuellen Elite und nicht als Zielkatalog für eine Schule des Volkes. Dieses muss in seiner Heterogenität wahrgenommen werden. Während sich Pestalozzi noch auf die Förderung von «Kopf, Herz und Hand» der Schüler konzentrierte, sollen die Lehrer mit ihnen heute Tausende von Kompetenzen erreichen. Fernab der Schulstuben wurden teilweise absurd anmutende Vorstellungen entwickelt. So lautet eines der Ziele für 16-jährige Oberstufenschüler: «Sie können Grundlagen für Entscheidungen bei politischen Raumgestaltungsprozessen erarbeiten und entsprechende Vorhaben untersuchen (z. B. Siedlungsraumgestaltung, Raumplanung, Umzonung).»
Solche Ideen halten der Realität niemals stand. Manch ein Oberstufenlehrer wäre schon froh, wenn seine Zöglinge saubere Bewerbungen schreiben könnten. Es ist eine Tatsache, dass laut Pisa-Studie etwa jeder siebte Jugendliche am Ende der Schulzeit nicht einmal grundlegende Fähigkeiten in Lesen, Schreiben und Rechnen erreicht. Warum sollen dann Stufe für Stufe für alle dieselben hochgesteckten Ziele gelten? Es ist klar, dass eine Klasse an der Zürcher Goldküste anders zusammengesetzt ist als in Bern Bethlehem. Und kaum jemand zweifelt daran, dass der Bündner Bauernbub anders tickt als das Zürcher Agglokind.
Gewiss ist es erstrebenswert, dass alle Schüler am Ende der obligatorischen Schulzeit in grundlegenden Fächern denselben Stand erreichen, etwa in Deutsch und Mathematik. Auch ist es durchaus sinnvoll, wenn dafür Etappenziele pro Schulstufe definiert werden, um einen Wohnortswechsel von Familien zu erleichtern. Doch ausgerechnet in diesem Punkt erfüllt der Lehrplan seine Aufgabe nicht: Das Berner Kind, das in der fünften Klasse nach Zürich zieht, wird im Englisch drei Jahre Rückstand auf seine Gspänli haben. Die Kantone legen nach wie vor nach eigenen Gutdünken fest, mit welcher Fremdsprache sie beginnen.
Die wichtigsten zu erreichenden Kompetenzen könnten auf wenigen Seiten beschrieben werden. Damit würde der Vorgabe des Bildungsartikels in der Bundesverfassung Genüge getan, der am Anfang der ganzen Übung stand. Stattdessen haben die Erziehungsdirektoren ohne demokratische Legitimation ein Regelwerk geschaffen, das die hintersten Winkel des Stundenplans durchdringt und selbst von Sport, Singen und Handarbeit nicht ablässt. Ursprünglich hiess es, der Lehrplan belege 80 Prozent der Unterrichtszeit, der Rest sei Gestaltungsraum. Doch in Tat und Wahrheit ist selbst mit 100 Prozent Einsatz nicht alles erreichbar.
Die breite Ablehnung des Werks ist nur teilweise sachlich begründet, ihr liegt auch ein prinzipielles Unbehagen zugrunde. In den letzten Jahren wurde die Schule als Organisation zunehmend in ein Korsett gepresst. Gesetze, Verordnungen und Weisungen reglementieren jedes Detail. Allein das Zürcher Volksschulamt verschickt jährlich gegen 50 Leitungszirkulare, «denen die Adressaten Folge leisten müssen», wie auf der Website steht. Sie regeln unter anderem personalrechtliche Fragen, obligatorische Lehrmittel, Weiterbildungskurse und Tests. Ein starres System legitimiert sich auf die Dauer selbst. Entmündigte Personen werden abhängig von Strukturen.
Eine ähnliche Entwicklung zeichnet sich mit der Überreglementierung der Bildungsinhalte ab: Lehrpersonen werden sich aus Unsicherheit oder Resignation vermehrt auf standardisierte Lehrmittel beschränken, die wegen des Lehrplans 21 überhaupt erst geschrieben wurden. Ironischerweise wird das Regelwerk, das konsequent auf die Förderung von Kompetenzen der Schüler ausgerichtet ist, die Kompetenzen der Lehrer beschneiden. Ihr pädagogisches Feuer droht unter dem Haufen der an sie gestellten Anforderungen zu ersticken. Die Geschichte des Kommunismus zeigt, wie mit Entmündigung Innovation und Produktivität abgewürgt werden. Unser aufgeklärtes Bildungssystem hat Besseres verdient.

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