Die Gutenachtgeschichte per Tablet? Bild: Keystone
Quelle: Eine Generation von Autisten, Basler Zeitung, 10.12. von Nadine A. Brügger
Früher sassen auf der Bettkante die Eltern, ein Buch in den
Händen, die Lesebrille auf der Nase. Heute balanciert hier ein iPad. Auch im
Bus, in den Schulpausen, beim Warten: Smartphones und Tablets sind
allgegenwärtig. Sie bieten Spiele, Internet und Chats. Und sie bieten das immer
und überall.
Die einen
verteufeln diese mobile Moderne, in der die Kinder abgekapselt in ihrer
virtuellen Welt leben. Die anderen sehen darin eine Chance. Wie drei
Kindergärten im zürcherischen Adliswil, bei denen seit Frühjahr 2011 pro
Kindergarten zwei iPads zum Inventar gehören. So würden Kinder einen
altersgerechten Umgang mit digitalen Medien lernen, was in der heutigen Zeit
zur Erziehung mit dazugehöre, sagt René Kappeler, Initiator des Projekts.
Problematisch seien nicht die Medien, sondern ein falscher Umgang mit ihnen.
Für viele Eltern
ist es ein schmaler Grat zwischen ungesundem Medienverhalten und der Angst, das
Kind könnte etwas verpassen. Für sie stellt sich die Frage: Muss mein Kind
möglichst früh Medienkompetenzen erwerben, um später im Berufsleben gegen jene
anzukommen, die mit digitalen Medien sozusagen aufwachsen? «Grundsätzlich
brauchen Kinder bis zehn oder zwölf Jahre diese Medien nicht», erklärt Renato
Meier von der Erziehungs- und Familienberatung. «Wenn sie im Sandkasten
spielen, anstatt auf einer Lernförder-App rumzudrücken, verpassen sie überhaupt
nichts.» Im Gegenteil: «Studien belegen, dass Kinder, die die Welt vor allem
durch Apps erfahren, Mühe haben, richtig zu kommunizieren und mit Leuten umzugehen»,
warnt Meier, «aber dieses Wissen brauchen sie, um in Beruf und Alltag bestehen
zu können.»
3-D ist immer
besser
Schulen versuchen,
richtiges Medienverhalten zu vermitteln. Kinder sollen lernen, dass «iPad und
die übrigen Geräte Hilfsmittel sind, sie sollen keinen Selbstzweck erhalten»,
weiss Hans-Ulrich Grunder, Professor für Pädagogik.
Doch meist kommen
die Schulen zu spät. Denn problematisches Medienverhalten beginnt daheim. Wenn
Kinder nächtelang durchspielen, soziale Kontakte vernachlässigen, ihre
schulische Leistung sinkt und sie nur noch eines im Kopf haben: das iPad. Wie
kommt es überhaupt so weit? Wir erinnern uns an das kleine Mädchen im
Kinderwagen, das tief versunken war in sein Spiel mit dem iPhone. «Das ist
total daneben, Kleinkinder haben mit Medien nichts zu tun», sagt
Kinderpsychologin Christiane Ilg zu dem Vorfall. Darunter leide die Entwicklung
des Kindes. Ein iPhone könne man nicht in den Mund nehmen, aber genau das
müssen Kinder in diesem Alter: Tasten, schmecken und ausprobieren. Bei Kindern,
die sich vor allem mit dem Fernsehen und elektronischen Spielzeugen
beschäftigen, bemerkt Ilg immer wieder klare soziale Defizite. «Sie leben in
einer fiktiven Welt, doch der Computer ist kein Partner. Mit ihm lernen sie
nicht echt zu kommunizieren, und so werden sie später Mühe haben, realen
Konflikten zu begegnen.» Kinder, die nicht mehr lernen, mit Mitmenschen zu
kommunizieren, Konflikte zu lösen und Impulse richtig zu deuten, das klingt
tatsächlich nach einer Generation von Autisten.
Asoziale Knaben
Werden die Kinder
älter, sind Knaben oft anfälliger für einen problematischen Medienkonsum als
Mädchen. Denn grundsätzlich sind Mädchen kommunikativer als Burschen. «Wenn
eine Gruppe Mädchen zusammen im Café sitzt, und alle auf ihrem Handy rumdrücken,
finde ich das nicht problematisch, sondern einfach ein Teil unserer neuen
Kultur», erläutert Meier. Die Hauptsache für ihn: Sie treffen sich und pflegen
soziale Kontakte. Jungs dagegen seien oft verschlossener, gleichzeitig
kompetitiver und finden in Onlinegames Bestätigung. Hier sei das Problem, dass
zugunsten der virtuellen Welt die Realität leide, Freunde verloren gingen und
soziale Kompetenzen auf der Strecke blieben. Doch auch Jungs spielen in Gruppen
zusammen, manchmal bis in alle Nacht. «Das ist nicht grundsätzlich schädigend»,
sagt Meier. Erst wenn Kinder alleine spielen, wird es kritisch.
Sehr oft melden
sich Eltern bei der Beratungsstelle, deren Kinder mehr als vier Stunden pro Tag
alleine im Internet und am Gamen sind: «Zu viel», findet Meier. Sobald die
Eltern nicht mehr wissen, wie viel Zeit ihr Kind am Computer oder am iPad
verbringt, soll das Gespräch gesucht werden – auch in einer professionellen
Beratung. Bei Renato Meier kommen Eltern und Kinder, wenn möglich, gemeinsam in
die Sitzung. Das Kind gleichwertig zu behandeln, sei wichtig. Mit Erfolg:
«Kinder sehen das Problem schnell selbst ein. Fragt man sie dann, was zu machen
sei, sagen sie nicht etwa ‹10 Minuten weniger Gamen›, nein, da ist sofort die
Rede von einer Stunde.» Wichtig sei, dass die Kinder Verantwortung übernehmen
für ihren Medienkonsum und ein Gefühl dafür bekommen.
Eine
Trotzreaktion
Oft sei das
Medienverhalten eine Trotzreaktion, ein Protest der Kinder gegen die Eltern.
Während frühere Generationen bloss eine Elvis-CD aufzulegen brauchten, müssen
die Kinder heute schon einiges anstellen, um ihre Eltern an die Grenzen zu
bringen. Auslöser sind oft sozial schwierige Situationen zu Hause, in der
Schule oder mit Freunden. «Fast nie ist wirklich eine Computersucht der Kinder das
ursächliche Problem», betont Meier, «wenn in Familien die Kommunikation nicht
richtig funktioniert, ein Konfliktlöseverhalten fehlt und die Eltern keine
Beziehungskonstante zu ihren Kindern finden können, sind diese grundsätzlich
anfälliger für Suchtverhalten.» Ein Unterschied zwischen mehr und weniger gut
situierten Familien sei dabei nicht erwiesen.
Fest steht, dass
bei Kindern und Jugendlichen von 9 bis 20 Jahren der Computer oft nicht die
Ursache eines Problems ist, sondern dessen Folge. Meist löst die
Familienberatung tiefer gehende Probleme, die Kommunikation und Verhalten
innerhalb der Familie belastet haben. Viele Eltern müssen lernen, ihren Kindern
Grenzen zu setzen. «Dass Kinder wütend werden, gehört zum Elternsein dazu»,
sagt Meier. Ob aus den Kindern von heute eine Generation der iPad-Autisten
wird, haben Eltern grösstenteils selbst in der Hand. Indem sie einmal mehr zum
Buch, statt zur Fernbedienung greifen. Denn Kinder lernen in erster Linie am
Vorbild der Eltern.
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