10. Dezember 2013

Medienerziehung hinkt Technologie hinterher

Stephan Oetiker, Direktor von Pro Juventute, fordert die Integration der Medienkompetenz in den Lehrplan 21. Dies sei nötig, da die heutige Jugend fundamental anders aufwachse als frühere Generationen. Cyber-Aufklärung müsse wie Drogenaufklärung oder Sexualkunde behandelt werden.
Aufwachsen im Web-2.0-Zeitalter, NZZ, 10.12. von Stephan Oetiker

In der Schweiz gibt es eine Vollabdeckung mit Internet und Handys. Wir kommunizieren per E-Mail, rufen uns per Video-Chat an und arbeiten online: Unser gesamtes Leben spielt sich heute auch online ab. Diese Digitalisierung hat unser gesamtes Leben verändert, vergleichbar mit einschneidenden Veränderungen in der Geschichte wie der industriellen Revolution: von der Methode, wie wir arbeiten und produzieren, über unsere Art, miteinander in Kontakt zu stehen, bis hin zu den Grundfesten unserer Wissensvermittlung. Mit der Möglichkeit, zu jeder Zeit an jedem Ort mit allem in Kontakt zu stehen und Informationen abzurufen und zu verbreiten, haben sich sogar unsere Definitionen von Raum und Zeit verschoben.

Medienerziehung hinkt hinterher

Als Mitte des letzten Jahrhunderts die ersten PC aufkamen, wurde deren Potenzial von IT-Leuten auf wenige hundert geschätzt. Heute mögen wir darüber schmunzeln. Dabei sind wir in Sachen Mediennutzung ähnlich unwissend wie damals unsere Kollegen. So erfragten, als in der Schweiz die meisten Haushalte über Internetzugang verfügten, verschiedene Studien die Mediennutzung von Jugendlichen. Sie ergaben, dass Kinder zwischen ungefähr zwanzig Minuten und sechs Stunden pro Woche im Netz waren.
Die Experten waren sich einig, dass dies etwa die maximale Zeit sein würde, die Kinder im Netz verbringen, weil die Kinder ja gar nicht mehr Zeit zu Hause vor dem PC, also ausserhalb von Schule, Schlafen oder Essen, zur Verfügung hätten. Die Umfragen wurden regelmässig wiederholt, das Ergebnis blieb das gleiche, und für die Experten bestätigte sich damit ihre Prognose. Einige Jahre später wurde die Mediennutzung wieder erfragt. Das Resultat: Die Mediennutzung von Kindern betrug plötzlich über zehn Stunden, eine Zunahme um zwei Drittel. Was war passiert? Die Smartphones waren auf den Markt gekommen. Das Beispiel zeigt, wie unbeholfen selbst die Experten sind, weil die technische Innovation so massiv ist, dass sich viele Änderungen nicht vorhersehen lassen und vermeintliche Grenzen über Nacht weggewischt werden können.
Was dabei unbeachtet bleibt: wie stark diese Veränderung unseres Lebens die Kinder und Jugendlichen tangiert. Diese kommunizieren nicht nur digital, sie wachsen auch digital auf. Das Aufwachsen der heutigen Jugend ist im Zeitalter des Web 2.0 komplett anders, als die Erwachsenen dies kennen. Sie machen Hausaufgaben über Onlineportale, studieren per Internetdatenbank und verabreden sich über Instant-Messaging. Dass die neuen Technologien das Aufwachsen unserer Kinder völlig verändert haben, ist aber in den Köpfen vieler Erwachsenen noch nicht angekommen. Die Medienerziehung hinkt der Technologie hinterher. Es fehlt sowohl an Wissensvermittlung als auch an Prävention.
Wie können sich Kinder sicher im Web bewegen? Welche Fertigkeiten müssen sie erlernen, um das digitalisierte Leben zu meistern? Welche Konsequenzen hat ihr Handeln von heute für das digitale Gedächtnis von morgen? Diese Fragen werden mit Kindern oft nicht thematisiert. Werden heute Fragen zu neuen Medien angegangen, handelt es sich meist um Einzelmassnahmen. So wurde der (Online-)Konsum von Kinderpornografie kürzlich endlich unter Strafe gestellt.
Das Grooming, das Angehen von Kindern durch Erwachsene mit sexuellen Absichten, ist indes weiterhin kein Offizialdelikt. Man stelle sich vor, ein Erwachsener würde auf offener Strasse auf ein Kind zugehen und es mit Fragen nach Geschlechtsmerkmalen oder Sexualpraktiken belästigen. Die neuen Medien sind allgegenwärtig – und gleichzeitig komplett unreguliert.

Konsequenzen für das Bildungssystem

Die Digitalisierung unseres Lebens ist in den letzten zehn Jahren eingetreten. Und sie muss jetzt Konsequenzen haben. In der Politik, die sinnvolle Gesetze schaffen wie auch angemessene Information zur Verfügung stellen muss, in der Schule, die mit der Integration der Medienkompetenz in den Lehrplan 21 endlich eine angemessene Wissensvermittlung schaffen muss, und in allen Fragen der Gesellschaft, die unsere Jugendlichen tangieren, damit diese sich zu kompetenten Erwachsenen entwickeln können.
Dazu braucht es ein Umdenken in der Gesellschaft, in erster Linie von den Personen, die als Parlamentarier Gesetze erlassen, die als Bildungspolitiker Lehrpläne festlegen oder die als Betreuungspersonen Kinder erziehen. Besonders gefragt ist dabei neben dem Elternhaus das Bildungssystem. Cyber-Aufklärung muss integriert werden, so wie es Drogenaufklärung oder Sexualkunde gibt.
Die heutige Situation rund um die neuen Medien lässt sich mit der Phase des Aufkommens des motorisierten Strassenverkehrs in der Schweiz in den 1920er Jahren vergleichen. Als die ersten Autos auf den Strassen rollten, gab es keine Regulierung und keinerlei Prävention. Sicherheitsgurte, Verkehrsampeln und Verkehrszeichen waren inexistent. Man stand ganz am Anfang einer explosiven Entwicklung, ohne Erfahrung, ohne Sicherheitsbestimmungen, ohne passende Gesetze oder Informationen an die Bevölkerung.
Heute dagegen ist es normal, dass jedes Kindergartenkind lernt, wie es sich im Strassenverkehr als Fussgänger zu verhalten hat, der Strassenverkehr ist geregelt, Präventionskampagnen sorgen für ein erhöhtes Risikobewusstsein. Die Jahre mit den meisten Verkehrstoten waren in den 1960ern, danach nahm die Zahl ab, obwohl das Verkehrsaufkommen laufend zunahm.
Genau das müssen wir auch schaffen: dass die Anzahl Opfer der neuen Medien, etwa von Cyber-Mobbing, tief bleibt, auch wenn der Mediengebrauch zunimmt. Medienaufklärung muss so normal werden wie Strassenverkehrsaufklärung. Dazu braucht es entsprechende Bemühungen der Eltern, adäquate Gesetze und ein Bildungssystem, das dem Aufwachsen im Web 2.0 gerecht wird.

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