Quelle: LP21 - Nein danke!, von Bruno Nüsperli
Der LP21 bricht hauptsächlich aus zwei Gründen mit
bisher üblichen Lehrplänen. Er
ersetzt den klassischen Fächerkanon (Sprachen,
Mathematik, Physik, Biologie,
Geschichte, Turnen etc) durch neu definierte Fachbereiche (z.B. Natur, Mensch,
Gesellschaft; NMG). Diese enthalten anstelle konziser
Inhaltsangaben ein
Sammelsurium von sogenannten Kompetenzen, die alle mit dem Term beginnen:
“Schülerinnen und Schüler können ...” (ausnahmsweise: “...
wissen). Im Folgenden
wird das Augenmerk hauptsächlich auf diese Kompetenzen
gerichtet.
Statt einer langatmigen Definition seien einige
Beispiele aufgeführt: Schülerinnen
und Schüler
können Informationen aus Hörtexten entnehmen (Deutsch) ... wissen,
dass unsere
Schrift von links nach rechts verläuft (Deutsch) ... können im
Zahlenraum bis
100 von beliebigen geraden Zahlen aus in 2er Schritten vorwärts
und rückwärts
zählen (Mathematik) ... können eigene Vorstellungen zu Himmel,
Himmelskörpern
und Weltall beschreiben, austauschen und vergleichen (NMG) ...
können das
Gegenüber gezielt aus dem Gleichgewicht bringen (Sport) ... können die
Wirkung von
kunstorientierten Methoden erproben und einsetzen (Gestalten) ...
können eine
einfache relationale Datenbank erstellen (mit 1:n Beziehungen) (ITC) ...
können zu einem
ausgewählten Material zur Weltgeschichte im 19. Jahrhundert
zusätzliche
Informationen finden (Bild, Text, Karikatur) (Natur,
Welt, Gesellschaft) ...
können sexuelle
Orientierungen (Hetero- und Homosexualität) nicht diskriminierend
benennen sowie
Partnerschaft und Sexualität mit Liebe, Respekt, Gleichwertigkeit
und
Gleichberechtigung verbinden (BNE Gender und Gleichstellung) ...
Undsoweiter ... total 5300 Kompetenzen und sonst gar
nichts - hinter
verschlossenen Türen ausgeheckt von weltfremden
Pädagogen und abgehobenen
Experten! Ein Kritiker sagte es so: “Das Wissen dieser
Welt wird in Tausenden
kleiner Staubkörnchen atomisiert der Jugend vorgesetzt”
- man wundert sich und
fragt: Wo bleibt das Verständnis für die Zusammenhänge, für die Hintergründe,
für das Warum? Nicht: “... kann die
Schweizergrenze auf einem Papier
aufzeichnen”, sondern: “Weiss, warum die Schweizergrenze Zacken hat wie
eine
Säge”.
Tatsächlich wendet sich eine solche Mikrokosmos-Schule
von der wichtigsten
Zielsetzung ab, welche bisher das Bildungswesen im
abendländischen Kulturraum
bestimmt hat: Die Tatsache, dass unsere Schulen eher
Bildung vermitteln als
Ausbildung. Letzteres bleibt Aufgabe der tertiären
Stufe (Berufsausbildung und
Hochschule). Bildung jedoch lässt sich nicht in kleine
Stücke schneiden und
häppchenweise vermitteln. Bildung heisst, einzelne
Wissens- (nicht Könnens-)
Bausteine zu verstehen und untereinander
in Beziehung zu bringen, und: Bildung
vermitteln braucht einen Menschen, die Lehrperson.
Blosse Lehrmittel, Bücher und
Wikipedia reichen dazu nicht aus. Der LP21 degradiert Lehrerinnen und Lehrer
zu blossen
Briefträgern von vorgegebenen “Kompetenzen”!
Unsere Volksschulen entstanden in der ersten Hälfte
des 19.Jahrhunderts und
waren geprägt vom Humanismus als Weltanschauung.
Dieser orientiert sich an den
Interessen, den Werten und der Würde des einzelnen
Menschen. Toleranz, Gewaltund
Gewissensfreiheit gelten als wichtige humanistische
Prinzipien menschlichen
Zusammenlebens. Der berühmte Humanist Humboldt, von
Hause auf
Wissenschafter, definierte als wichtigstes
Bildungsziel die Entwicklung des
Individuums zum freien Bürger. Damit schlug er die
Brücke von der Schule zur
Demokratie; dass eine Demokratie ohne freie Menschen
nicht funktioniert, kann
heute in vielen Teilen der Welt beobachtet werden. Bei
uns fand der Humanismus
Eingang in die kantonalen Schulgesetze, zum Beispiel
im Kanton Basel-Landschaft:
“Das Bildungswesen weiss sich der christlichen,
humanistischen und
demokratischen Tradition verpflichtet.” Der Aargau
will die Jugend “zu selbständigen
und verantwortungsbewussten Bürgern erziehen” -
praktisch jeder Kanton stellt die
Entwicklung der Persönlichkeit an erste Stelle, noch
vor reinem Wissen; von
blossem Können ist nicht die Rede. Die zugehörigen
gesetzlichen Aufträge an die
Schule sind alle vom Volk sanktioniert. Die EDK hat
sich über die kantonale Hoheit
hinweggesetzt und einen eigenen Auftrag an die Schule
formuliert, wo an erster
Stelle von “grundlegenden Kenntnissen und Kompetenzen”
die Rede ist, von
“Grundbildung, welche den Zugang zur Berufsbildung und
zur Sekundarstufe II
ermöglicht”; erst am Schluss werden Persönlichkeit und
soziale Kompetenzen
erwähnt.
Die Kompetenzorgie des LP21 beschert noch weitere
pädagogische
Fragwürdigkeiten. Kompetenzen sind schwierig bis gar
nicht überprüfbar, weshalb
Noten und Prüfungen weitgehend entfallen: Abkehr vom
Leistungsprinzip. Sie
orientieren sich häufig an kurzlebigen Moden, am
gesellschaftlichen Mainstream
oder sind vom permanenten technischen Wandel abhängig
(siehe ITCKompetenzen!).
Damit aber verwehren sie den Blick für das
Wesentliche, für Werte,
wie sie der Humanismus liefert und welche den
gehätschelten Wandel überleben.
Die kurze Halbwertszeit vieler Kompetenzen ruft geradezu
nach einem
Kompetenzengenerator auf Bundesebene. Am schlimmsten
aber ist die
Kombination von Kompetenzen mit den neugeschaffenen “Fächerübergreifenden
Themen unter der Leitidee Nachhaltiger Entwicklung BNE”:
Türöffner für beliebige
ideologisch belastete Einflussnahmen auf Kinder und
Jugendliche, vorbei an Familie
und Elternhaus. Näheres dazu kann unter den
Themenbereichen Gesundheit,
Globale
Entwicklung und Frieden, Gender und Gleichstellung etc. nachgelesen
werden.
Vielleicht ist alles nicht so schlimm. Seit die
Lehrerschaft von der Basis her
aufzuwachen beginnt, zeichnet sich nämlich ab, dass
der 550 Seiten dicke Wälzer
mit seinen 5300 Kompetenzen kaum umsetzbar ist. Ohne
Lehrpersonen geschieht
gar nichts! Der LP21 sollte deshalb schleunigst
zurückgewiesen werden - nicht an
den Absender, der sich als unfähig erwiesen hat,
sondern an eine demokratisch
legitimierte Instanz. Sie muss nebst pädagogischer
Erfahrung vor allem über eines
verfügen: über gesunden Menschenverstand.
Verbleibt die Frage: Warum hat keiner der 21
Bildungsdirektoren, verantwortlich für
die Bildung in ihren Kantonen, dies nicht eher
gemerkt?
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