9. Dezember 2013

Der Lehrplan 21 degradiert die Lehrer

In einem Aufsatz macht sich Bruno Nüsperli Gedanken zum Lehrplanentwurf 21 und stellt fest, dass die Konzentration auf Kompetenzen den Lehrer degradiert. "Bildung vermitteln braucht einen Menschen, die Lehrperson. Blosse Lehrmittel, Bücher und Wikipedia reichen dazu nicht aus".
Quelle: LP21 - Nein danke!, von Bruno Nüsperli


Der LP21 bricht hauptsächlich aus zwei Gründen mit bisher üblichen Lehrplänen. Er
ersetzt den klassischen Fächerkanon (Sprachen, Mathematik, Physik, Biologie,
Geschichte, Turnen etc) durch neu definierte Fachbereiche (z.B. Natur, Mensch,
Gesellschaft; NMG). Diese enthalten anstelle konziser Inhaltsangaben ein
Sammelsurium von sogenannten Kompetenzen, die alle mit dem Term beginnen:
“Schülerinnen und Schüler können ...” (ausnahmsweise: “... wissen). Im Folgenden
wird das Augenmerk hauptsächlich auf diese Kompetenzen gerichtet.
Statt einer langatmigen Definition seien einige Beispiele aufgeführt: Schülerinnen
und Schüler können Informationen aus Hörtexten entnehmen (Deutsch) ... wissen,
dass unsere Schrift von links nach rechts verläuft (Deutsch) ... können im
Zahlenraum bis 100 von beliebigen geraden Zahlen aus in 2er Schritten vorwärts
und rückwärts zählen (Mathematik) ... können eigene Vorstellungen zu Himmel,
Himmelskörpern und Weltall beschreiben, austauschen und vergleichen (NMG) ...
können das Gegenüber gezielt aus dem Gleichgewicht bringen (Sport) ... können die
Wirkung von kunstorientierten Methoden erproben und einsetzen (Gestalten) ...
können eine einfache relationale Datenbank erstellen (mit 1:n Beziehungen) (ITC) ...
können zu einem ausgewählten Material zur Weltgeschichte im 19. Jahrhundert
zusätzliche Informationen finden (Bild, Text, Karikatur) (Natur, Welt, Gesellschaft) ...
können sexuelle Orientierungen (Hetero- und Homosexualität) nicht diskriminierend
benennen sowie Partnerschaft und Sexualität mit Liebe, Respekt, Gleichwertigkeit
und Gleichberechtigung verbinden (BNE Gender und Gleichstellung) ...
Undsoweiter ... total 5300 Kompetenzen und sonst gar nichts - hinter
verschlossenen Türen ausgeheckt von weltfremden Pädagogen und abgehobenen
Experten! Ein Kritiker sagte es so: “Das Wissen dieser Welt wird in Tausenden
kleiner Staubkörnchen atomisiert der Jugend vorgesetzt” - man wundert sich und
fragt: Wo bleibt das Verständnis für die Zusammenhänge, für die Hintergründe,
für das Warum? Nicht: “... kann die Schweizergrenze auf einem Papier
aufzeichnen”, sondern: Weiss, warum die Schweizergrenze Zacken hat wie eine
Säge”.
Tatsächlich wendet sich eine solche Mikrokosmos-Schule von der wichtigsten
Zielsetzung ab, welche bisher das Bildungswesen im abendländischen Kulturraum
bestimmt hat: Die Tatsache, dass unsere Schulen eher Bildung vermitteln als
Ausbildung. Letzteres bleibt Aufgabe der tertiären Stufe (Berufsausbildung und
Hochschule). Bildung jedoch lässt sich nicht in kleine Stücke schneiden und
häppchenweise vermitteln. Bildung heisst, einzelne Wissens- (nicht Könnens-)
Bausteine zu verstehen und untereinander in Beziehung zu bringen, und: Bildung
vermitteln braucht einen Menschen, die Lehrperson. Blosse Lehrmittel, Bücher und
Wikipedia reichen dazu nicht aus. Der LP21 degradiert Lehrerinnen und Lehrer
zu blossen Briefträgern von vorgegebenen “Kompetenzen”!
Unsere Volksschulen entstanden in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts und
waren geprägt vom Humanismus als Weltanschauung. Dieser orientiert sich an den
Interessen, den Werten und der Würde des einzelnen Menschen. Toleranz, Gewaltund
Gewissensfreiheit gelten als wichtige humanistische Prinzipien menschlichen
Zusammenlebens. Der berühmte Humanist Humboldt, von Hause auf
Wissenschafter, definierte als wichtigstes Bildungsziel die Entwicklung des
Individuums zum freien Bürger. Damit schlug er die Brücke von der Schule zur
Demokratie; dass eine Demokratie ohne freie Menschen nicht funktioniert, kann
heute in vielen Teilen der Welt beobachtet werden. Bei uns fand der Humanismus
Eingang in die kantonalen Schulgesetze, zum Beispiel im Kanton Basel-Landschaft:
“Das Bildungswesen weiss sich der christlichen, humanistischen und
demokratischen Tradition verpflichtet.” Der Aargau will die Jugend “zu selbständigen
und verantwortungsbewussten Bürgern erziehen” - praktisch jeder Kanton stellt die
Entwicklung der Persönlichkeit an erste Stelle, noch vor reinem Wissen; von
blossem Können ist nicht die Rede. Die zugehörigen gesetzlichen Aufträge an die
Schule sind alle vom Volk sanktioniert. Die EDK hat sich über die kantonale Hoheit
hinweggesetzt und einen eigenen Auftrag an die Schule formuliert, wo an erster
Stelle von “grundlegenden Kenntnissen und Kompetenzen” die Rede ist, von
“Grundbildung, welche den Zugang zur Berufsbildung und zur Sekundarstufe II
ermöglicht”; erst am Schluss werden Persönlichkeit und soziale Kompetenzen
erwähnt.
Die Kompetenzorgie des LP21 beschert noch weitere pädagogische
Fragwürdigkeiten. Kompetenzen sind schwierig bis gar nicht überprüfbar, weshalb
Noten und Prüfungen weitgehend entfallen: Abkehr vom Leistungsprinzip. Sie
orientieren sich häufig an kurzlebigen Moden, am gesellschaftlichen Mainstream
oder sind vom permanenten technischen Wandel abhängig (siehe ITCKompetenzen!).
Damit aber verwehren sie den Blick für das Wesentliche, für Werte,
wie sie der Humanismus liefert und welche den gehätschelten Wandel überleben.
Die kurze Halbwertszeit vieler Kompetenzen ruft geradezu nach einem
Kompetenzengenerator auf Bundesebene. Am schlimmsten aber ist die
Kombination von Kompetenzen mit den neugeschaffenen “Fächerübergreifenden
Themen unter der Leitidee Nachhaltiger Entwicklung BNE”: Türöffner für beliebige
ideologisch belastete Einflussnahmen auf Kinder und Jugendliche, vorbei an Familie
und Elternhaus. Näheres dazu kann unter den Themenbereichen Gesundheit,
Globale Entwicklung und Frieden, Gender und Gleichstellung etc. nachgelesen
werden.
Vielleicht ist alles nicht so schlimm. Seit die Lehrerschaft von der Basis her
aufzuwachen beginnt, zeichnet sich nämlich ab, dass der 550 Seiten dicke Wälzer
mit seinen 5300 Kompetenzen kaum umsetzbar ist. Ohne Lehrpersonen geschieht
gar nichts! Der LP21 sollte deshalb schleunigst zurückgewiesen werden - nicht an
den Absender, der sich als unfähig erwiesen hat, sondern an eine demokratisch
legitimierte Instanz. Sie muss nebst pädagogischer Erfahrung vor allem über eines
verfügen: über gesunden Menschenverstand.
Verbleibt die Frage: Warum hat keiner der 21 Bildungsdirektoren, verantwortlich für
die Bildung in ihren Kantonen, dies nicht eher gemerkt?

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