Lange haben
wir sie hinter uns gelassen, die Zeiten, als die weibliche Bevölkerungshälfte
durch das generische Maskulinum systematisch unterschlagen wurde, als etwa in
Schulverordnungen nur von Schülern und nicht von Schülerinnen und Schülern die
Rede war. Dank unzähligen amtlichen Leitfäden sind die Frauen heute fast
allgegenwärtig. Aber eben nur fast. Ausnahmen werden gerne gewährt, wenn es um
unerwünschtes soziales Verhalten geht. Auf Wendungen wie Abzockerinnen und
Abzocker, Chaotinnen und Chaoten oder Alkoholikerinnen und Alkoholiker pocht
niemand mit Eifer. Aber sonst sind die Frauen sichtbar – und die Texte umso
länger und holpriger. Lesbarkeit und Eleganz des Ausdrucks haben zurückzutreten
für das höhere Gut der Geschlechtergerechtigkeit.
So lässt sich
zum Beispiel in einer Mitteilung der Patientenstelle Aargau-Solothurn Folgendes
über die medizinische Schweigepflicht nachlesen: «Grundsätzlich untersteht
jeder Arzt / jede Ärztin der Schweigepflicht. Es gibt jedoch Ausnahmen. Wenn
der Patient / die Patientin die Ärztin / den Arzt von der Schweigepflicht
entbindet, darf diese/r Auskunft erteilen. (. . .) Der/die behandelnde
Arzt/Ärztin ist verpflichtet, den Kantonsarzt / die Kantonsärztin über
Infektionskrankheiten wie zum Beispiel Aids zu informieren.»
Wer diesen
sprachlichen Hürdenlauf aus Schrägstrichen und penetranten Wiederholungen bis
zum Ende durchzuhalten vermag, darf jetzt ganz sicher sein: Die gesetzlichen
Regelungen zur medizinischen Schweigepflicht gelten – sollte noch irgendjemand
daran gezweifelt haben – tatsächlich für Männer und für Frauen.
Ob diese
Information eine solche Entstellung der deutschen Sprache rechtfertigt, darf
zumindest aus sprachpflegerischer Sicht infrage gestellt werden. Denn die
Doktrin der geschlechtergerechten Sprache macht das Lesen solchermassen
«gerechter» Texte nicht nur fast unerträglich. Sie basiert auch auf einem
linguistischen Grundirrtum, weil es das biologische Geschlecht mit dem
grammatischen Genus gleichsetzt.
Aus: Neusprech für Fortgeschrittene, NZZ, 8.7. von Claudia Wirz. Der Text ist online verfügbar und kann hier weitergelesen werden.
Lautsprecher als Beispiel männlicher Hegemonie? Bild: Gudrun Bramsiepe
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