Das neue Zauberwort in der
Bildung heisst «Kompetenzorientierung». Dies ist auch die zentrale Richtlinie
des letzte Woche von den Erziehungsdirektorinnen und -direktoren der 21 Deutschschweizer
Kantone in die Konsultation geschickten neuen Lehrplans 21. Zu dieser
«Kompetenzorientierung» gehört zwar auch noch etwas Wissen, doch dieses wird
zunehmend in den Hintergrund gedrängt. Schliesslich gibt es heute das Internet,
wo man alles Wissenswerte nachschauen kann, und da braucht man das Gehirn nicht
mehr mit Wissen zu belasten. Also kann man sich von der alten «Paukerschule»
verabschieden und den Schülern stattdessen den Erwerb neuer wichtiger
überfachlicher Fähigkeiten wie «methodische Kompetenzen» (z. B. Information
nutzen), «soziale Kompetenzen» (z. B. Kooperationsfähigkeit) oder «personale
Kompetenzen» (z. B.
Selbstreflexion) ermöglichen.
«Kompetenzorientierung»
bedeutet somit in der gelebten Realität, dass der Unterricht seines Inhalts
entleert wird. Das ist aber einer tatsächlich relevanten Bildungsqualität nicht
förderlich. Wir brauchen nicht Schüler, die lernen, wie man sich bestimmter
Worthülsen bedient, ohne zu verstehen, was damit eigentlich gemeint ist. Doch
genau in diese Richtung geht auch der Lehrplan 21.
Zwar behaupten die
Erziehungsdirektoren, dass mit dem Lehrplan 21 die inhaltlichen Ziele der
Volksschule in den Kantonen harmonisiert werden. Was aber in Wirklichkeit
harmonisiert wird, sind abstrakte Formulierungen, bei denen es um Ziele,
Kompetenzen, Strategien und Fokussierungen geht, die vom tatsächlichen
Schulalltag meilenweit entfernt sind. Wie in anderen Politikbereichen wird auch
in der Bildung zunehmend ein intellektuell klingendes Geschwätz auf Metaebenen
zelebriert, das sich in der Realität als hohle Phrasendrescherei entpuppt.
Letztlich ist der Lehrplan
21 von der hehren Vorstellung geprägt, man könne die Schulen von oben herab
zentralistisch steuern und damit immer kompetentere Menschen heranbilden. Doch
das ist eine Illusion. Lehrerfolg und Bildungsqualität hängen in erster Linie
von der konkreten Lernsituation ab und nicht von immer grossartiger
formulierten Lehrplänen. Selbst wenn man wie im Lehrplan 21 Hunderte von
abstrakten Kompetenzen definiert und formuliert, wird dadurch das tatsächliche
Können der Schülerinnen und Schüler noch lange nicht verändert. Dazu braucht es
konkret vermittelten Lernstoff, wozu es umso eher kommt, je weniger Lehrer
durch immer zahlreichere abstrakte Vorgaben behindert und demotiviert werden.
Es ist eine vollkommene Illusion, wenn man glaubt, Kompetenzen wie Selbstreflexion,
Eigenständigkeit, Beziehungsfähigkeit, Konfliktfähigkeit oder das Vermögen, Informationen
zu nutzen, liessen sich in der Schule dadurch erlernen, dass sie in einem
Lehrplan festgeschrieben werden.
Die fehlende Realitätsnähe
der «Kompetenzorientierung» zeigt sich schon bei der Definition. So heisst es
in den Grundlagen zum Lehrplan 21: «Mit der Kompetenzorientierung ergibt sich
eine veränderte Sichtweise auf den Unterricht. Lernen wird verstärkt als
aktiver, selbstgesteuerter, reflexiver, situativer und konstruktiver Prozess
verstanden.» Das klingt alles sehr wichtig und kompetent. Nur, was das konkret
heisst, bleibt im Dunkeln. Hier geht es um typische Begriffe in der heutigen
Bildungslandschaft, die alles und nichts aussagen. Der gesunde
Menschenverstand sagt uns bereits, dass jedes Lernen, welches diesen Namen
verdient, konstruktiv sein muss, und es lässt sich auch gar nicht anders als
situativ vermitteln. Wozu dann also solche nichtssagenden Worthülsen?
Die Erziehungsdirektoren
glauben offenbar, dass sich diese inhaltsleeren Begriffe auch noch dazu eignen,
die Bildungsqualität in verschiedenen Schulen zu überprüfen. Denn, so wird
argumentiert, bei vielen traditionellen Lehrplanformulierungen lässt sich nur
vage beurteilen, ob die Schülerinnen und Schüler die Ziele auch wirklich
erreicht haben. Der Lehrplan 21 soll hier mit seinen präziseren
Können-Formulierungen mehr Klarheit schaffen. Aus diesem Grund seien die im
Lehrplan beschriebenen Kompetenzen klar und messbar formuliert. Das zumindest
behauptete Christian Amsler, der Präsident der deutschsprachigen
Erziehungsdirektorenkonferenz, in einem in der NZZ publizierten
Streitgespräch mit SVP-Politiker Ulrich Schlüer.
Nun zeichnen sich wahre
Kompetenzen aber gerade dadurch aus, dass sie nicht exakt fassbar und nicht
messbar sind. Dass dies dem verantwortlichen Bildungsdirektor nicht bewusst
ist, stimmt nachdenklich. Wie soll man etwa überprüfen, ob Schüler wichtige
Veränderungen und Entwicklungen in Städten charakterisieren können? Oder wie
will man messen, ob Schüler in verschiedenen Erfahrungsbereichen (etwa
Generationen, Peers, Schule, Religion, Kunst) und Fachgebieten (etwa
Geschichte, Biologie, Physik, Recht, Ökonomie) unterschiedliche Fragestellungen
und Weltsichten erkennen können? Dies sind nur zwei Beispiele von im Lehrplan
21 formulierten Kompetenzen, die deutlich machen, dass die Behauptung der
Messbarkeit in diesem Zusammenhang absurd ist. Hier wird eine Scheinpräzision
in Bezug auf Kompetenzen vorgegaukelt, die in Wirklichkeit weder überprüfbar
noch messbar sind.
Schauen wir uns den
Lehrplan 21 aber noch etwas konkreter an. Dieser teilt sich auf in sechs
Fachbereiche (z. B.
Mathematik oder Sprachen), drei fächerübergreifende Themen (z. B. ICT und
Medien) sowie in die eingangs erwähnten überfachlichen Kompetenzen. Nehmen wir
zum Beispiel den Religionsunterricht. Klar, dass dies in einem modernen Lehrplan
eine vollkommen veraltete Bezeichnung darstellt. Denn Religionsunterricht im
traditionellen Sinn ist für einen modernen Lehrplan viel zu konkret und
wissensorientiert. Dort lernte man in früheren Zeiten nämlich vor allem die
Geschichten der Bibel kennen, und dies auch noch völlig unreflektiert und ohne
dass der Bibel andere Religionsentwürfe gegenübergestellt wurden. So etwas darf
bei «Kompetenzorientierung» nicht mehr sein.
Deshalb ist
Religionsunterricht jetzt Teil des Kompetenzaufbaus «Natur, Mensch, Gesellschaft»,
wozu der Teilbereich «Ethik, Religionen, Gemeinschaft (mit Lebenskunde)»
gehört. Was in der Bibel konkret steht, brauchen Schüler nicht mehr zu wissen,
denn auch das lässt sich mittlerweile im Internet nachschauen. Gemäss Lehrplan
21 können die Schüler hingegen neu «in alltäglicher Umgebung, in kulturellen
Lebensweisen oder Lebensstilen religiöse Symbole identifizieren und im Kontext
ihrer Verwendung deuten». Oder sie «können in der Werbung Motive religiöser
Traditionen erkennen sowie ihre religiöse Herkunft und ihre Verfremdung erschliessen».
Das ist alles schön und
gut, doch solche Kompetenzen ohne Wissen sind sinnlos. Ohne die Bibel und damit
die eigene Religion zu kennen, verkommen die im Teilbereich «Ethik, Religionen,
Gemeinschaft» formulierten Kompetenzen zu hohlen Phrasen. Erst wenn man die
Geschichten der Bibel kennt, kann man in der Schule auch «Verfremdungen
religiöser Traditionen erschliessen». Hier haben wir ein konkretes Beispiel
für Entinhaltisierung des Unterrichts. Schüler und Schülerinnen werden dazu
erzogen, pseudokompetent über Dinge zu reflektieren und zu diskutieren, die sie
in Wirklichkeit nicht kennen und nicht verstehen. Das entspricht exakt auch
unserer gesellschaftlichen Tendenz, wonach immer mehr Menschen und insbesondere
auch Politiker «kompetent» über Dinge sprechen, von denen sie in Wirklichkeit
keine Ahnung haben. Doch solange die Diskussion nur um abstrakte Begriffe wie
«Strategien», «Kompetenzen» oder «Fokussierungen» geht, braucht man vom Inhalt
auch nicht viel zu wissen. Eine solche inhaltsleere Geschwätzkultur sollte aber
nicht auch noch zur Basis unserer Lehrpläne werden.
Ein anderes Beispiel ist
die Wirtschaft. Diese ist im Lehrplan 21 ebenfalls Teil des Kompetenzaufbaus
«Natur, Mensch, Gesellschaft» und erscheint dort im Teilbereich «Wirtschaft,
Arbeit, Haushalt». Da sollen dann die Schüler über folgende Kompetenzen
verfügen: «Sie können soziokulturelle Bedingungen (z.B. Einfluss der Peers,
Rolle der Medien, aktuelles Marktangebot) beim Konsumieren erkennen und deren
Einfluss auf eigene Konsumhandlungen reflektieren.» Oder «sie können
verantwortungsbewusste Konsumentscheide charakterisieren und aufzeigen, welche
Zielkonflikte und Unsicherheiten für sie/ihn als Konsument/in dabei entstehen».
Das ist alles ein bisschen viel verlangt, wenn man die Funktionsweise der
Wirtschaft noch gar nicht versteht und grundlegendes Wissen dazu fehlt.
Es sei hier darauf
hingewiesen, dass es auch vernünftig formulierte Kompetenzen gibt, wie etwa den
ebenfalls dem Kompetenzaufbau «Natur, Mensch, Gesellschaft» zugehörigen
Teilbereich «Schweiz in Tradition und Wandel verstehen». Hier handelt es sich
letztlich um das Fach Geschichte, in dessen Zusammenhang der Lehrplan 21
richtig erkannt hat, dass die reine «Kompetenzorientierung» nicht ausreicht.
Deshalb ist hier auch klammheimlich wieder die Kenntnis wichtiger
Geschichtsdaten und Ereignisse mit in den Lehrplan aufgenommen worden.
Generell gilt also: Es ist gefährlich, die traditionelle
Wissensorientierung in der Schule einem neuen Modebegriff wie der
«Kompetenzorientierung» zu opfern. Wissensorientierung darf jedoch nicht mit
sinnloser Paukerei gleichgesetzt werden. Doch wo wird das heute noch
praktiziert? Der Lehrplan 21 rennt hier offene Türen ein, die man nicht
einzurennen braucht. Reines Auswendiglernen hat mit echter Wissensorientierung
nichts zu tun. Aber ein gewisses Auswendiglernen gehört dazu und ergibt Sinn.
Es hilft, wenn man ein paar Eckdaten der Geschichte weiss, auch wenn dies nicht
die Daten der Punischen Kriege einige Jahrhunderte vor Christus sein müssen.
Nicht selten sind wir später froh, auf unser erlerntes und aufgefrischtes
Wissen wie Kopfrechnen, Rechtschreibung oder Geschichte zurückgreifen zu
können. Natürlich darf die Schule neben dem reinen Wissen dann auch Kompetenzen
vermitteln, aber diese entstehen nicht dadurch, dass sie detailliert und
möglichst realitätsfern in einem Lehrplan aufgelistet werden. Sie ergeben sich
automatisch im konkreten Schulalltag, da ein guter Lehrer Wissen gar nicht ohne
die dazugehörenden Kompetenzen vermitteln kann.Quelle: Weltwoche 27/13, Kompetenz ohne Wissen von Mathias Binswanger
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