Hanspeter Amstutz runzelt die Stirn. «Aha, der Weihnachtsstress macht sich bei den Schülern bemerkbar», murmelt er und zückt den Rotstift. Der Sekundarlehrer aus Effretikon sitzt im Zürcher Café «Mandarin» und korrigiert Französischprüfungen. Obwohl seine Schüler diesmal nur mässig abgeschnitten haben, ist seine Stimmung glänzend. «Endlich hat der Wind gedreht», sagt er bei einem Kaffee, «der Glanz der Reformen ist weg.»
Amstutz ist ein politisch engagierter Lehrer, der von «progressiven» Bildungspolitikern lange als Fossil belächelt wurde. Er hält den gemeinsamen Klassenunterricht – heute abschätzig «Frontalunterricht» genannt – für ein probates Mittel, um die «Generation Facebook» bei Laune zu halten. Und er kämpft seit Jahren gegen praxisferne Reformen, mit denen pädagogische Hochschulen und Bildungsdirektionen die Schulen beglücken: zwei Fremdsprachen an der Primarschule, grenzenlose integrative Förderung, Lernprogramme für Lehrer, die zu «Coaches» degradiert werden. Am 25. November gelang ihm und anderen Reformkritikern der grosse Coup. Die Zürcher Stimmbürger lehnten die Einführung der Grundstufe ab, welche die Schulen gezwungen hätte, Kindergärtler und Erstklässler gemeinsam zu unterrichten. Ein Modell, das Lehrer Amstutz für eine typische Kopfgeburt hält: Es hätte teure Investitionen in neue Strukturen verursacht, ohne dass irgendein Mehrwert erkennbar gewesen wäre.
Die Befürworter – darunter die Bildungsdirektion – behaupteten, dass die Grundstufe die Kinder zu sozialeren Wesen machen werde. Dahinter steckte der alte Glaube der Bildungsreformer, dass der Mensch durch neue Systeme geformt und verbessert werden kann. «Man versucht, die Schule von oben umzukrempeln», sagt Amstutz, «aber das funktioniert nicht.» Das Nein der Stimmbürger zur Grundstufe hat in der Presse bereits einen Abgesang auf die «Bildungsturbos» ausgelöst. Ihre Zeit sei vorbei, titelte der Sonntag. Bricht jetzt die Ära der Realisten an? Ein etwas gewagter Schluss, wie drei aktuelle Beispiele zeigen.
1 – An den Schulen gilt seit einigen Jahren das Prinzip der Integrativen Förderung (IF). Es verlangt, dass möglichst alle Kinder, vom Behinderten bis zum Genie, in einer Klasse unterrichtet werden. Die Lehrpersonen werden dabei von Heilpädagogen unterstützt. Kleinklassen für auffällige oder behinderte Kinder sind in den Augen der IF-Vordenker untauglich, weil sie Separation und Diskriminierung förderten. Die Integration, so die Theorie, erzieht alle Schüler zu toleranteren und sozialeren Menschen. Doch im Alltag zeigen sich ganz andere Phänomene. «Die verhaltensauffälligen und lernschwachen Schüler beanspruchen derart viel Aufmerksamkeit, dass wir uns kaum noch um die anderen kümmern können», sagt eine Lehrerin aus dem Raum Zürich, «es herrscht eine permanente Unruhe.»
Auch das Hauptziel der IF-Übung, die Zahl der gesondert unterrichteten Schüler zu senken, ist verfehlt worden. Wie die NZZ am Sonntag in ihrer letzten Ausgabe berichtete, bleibt ihre Zahl auf hohem Niveau konstant. Denn viele Integrationsversuche scheitern. «Wir hatten behinderte Schüler, die von ihren vermeintlichen Gschpänli derart fertiggemacht wurden, dass sie in private Sonderschulen flüchteten», erzählt eine Lehrerin aus dem Aargau, «dort sind sie wenigstens unter sich.» Eine Oberstufenlehrerin aus dem Zürcher Oberland berichtet von einem «extrem verhaltensauffälligen» Schüler, der in die Oberstufe integriert werden sollte, obwohl er bereits in der Primarschule mehrere Kinder spitalreif geschlagen hatte. Der Versuch endete damit, dass der Schüler in eine private Sonderschule gesteckt wurde. Die Kosten, rund 40 000 Franken im Jahr, trägt die Gemeinde. «Integration ist ja gut und recht», sagt die Lehrerin, «aber wo liegt die Schmerzgrenze? Darüber redet niemand.»
Die Grenze des Erträglichen ist vielerorts erreicht, wie politische Vorstösse zeigen. In der Stadt Luzern wollen zwei CVP-Gemeinderätinnen in einer Anfrage an den Stadtrat wissen, ob das Experiment IF rückgängig gemacht werden könne. In Uster verlangen zwei SVP-Gemeinderätinnen, dass die Kosten des Modells evaluiert werden. Beide Anfragen sind hängig. «Falls die IF keinen Nutzen bringt, sollte sich die Schulgemeinde eine Rückkehr zu den Kleinklassen überlegen», sagt Claudia Bekier, SVP-Gemeinderätin in Uster. Einfach, das ist ihr bewusst, wird das nicht sein: Ein Teil der Heilpädagogen, die heute in Regelklassen arbeiten, müsste entlassen werden. Gerade in dieser Gilde steht das Modell aber aus naheliegenden Gründen hoch im Kurs. «Die Zukunft», verkündete der Verband der Bündner Heilpädagogen im letzten März, «gehört der integrierten Förderung.»
2 – Das altersdurchmischte Lernen (AdL) ist der jüngste Versuch der Bildungstheoretiker, neue Strukturen und damit bessere Schüler zu schaffen. Kinder verschiedener Altersklassen sollen auf allen Stufen gemeinsam unterrichtet werden. Nutzen soll das in der Theorie sowohl den Kindern (sie profitieren voneinander und werden sozialer) als auch den Lehrern (sie haben mehr Zeit für individuelle Förderung). In mehreren Kantonen können die Gemeinden das AdL freiwillig einführen, wobei die Kompetenz nicht beim Souverän, sondern bei den Schulbehörden liegt. Glaubt man den pädagogischen Hochschulen, ist AdL das Modell der Zukunft. Und glaubt man offiziellen Verlautbarungen, ist es in der Praxis ein voller Erfolg. Im zürcherischen Wetzikon, wo das AdL im Sommer eingeführt wurde, wusste man bereits nach wenigen Wochen Bescheid: «Es herrscht ein lernfreudiges Klima», verkündete die Schulpflege, «die Kinder sind einerseits stolz, wenn sie den Jüngeren Unterstützung bieten können, und geniessen es andererseits, sich auch mal von einem Älteren etwas erklären zu lassen.» Es hat wohl selten Versuchskaninchen gegeben, die eine Theorie schneller und exakter «bewiesen» haben. Denn genau diese Sätze stehen im Lehrbuch.
Die Realität, man ahnt es, sieht auch in Sachen AdL etwas anders aus. «Wir haben, auf Deutsch gesagt, einen verdammten Salat», sagt ein Schulpfleger aus einer Gemeinde in der Zentralschweiz, die seit zwei Jahren auf Mehrjahrgangsklassen setzt. Da Erst- und Zweitklässler, Dritt- und Viertklässler sowie Fünft- und Sechstklässler gemeinsam unterrichtet werden, müssen jedes Jahr neue Klassen gebildet werden. Mit der Folge, dass die Kinder kaum Freundschaften schliessen, die über die gesamte Schulzeit halten. So etwas wie «Klassengeist» entstehe schon gar nicht mehr. «Man will die Kinder dazu zwingen, dass sie es mit allen lustig haben», sagt der Schulpfleger, «dabei wollen sich die jüngeren und älteren voneinander abgrenzen, und das sorgt für Unruhe.» Am Ende würden die Kinder nicht sozialer, sondern asozialer. Obwohl es auch in der Elternschaft brodelt, hält eine Mehrheit der Schulbehörde eisern an ihrem Experiment fest, der kritische Schulpfleger wird regelmässig überstimmt. Für ihn ist das Ganze absurd: «Wir stimmen an der Gemeindeversammlung über jede Abwasserleitung ab, aber nicht über das Schulsystem.»
3 – Der «Lehrplan 21» ist ein nationales Prestigeprojekt, das ab 2014 den Unterricht in den 21 Deutschschweizer Kantonen normieren soll. Seit zwei Jahren wird daran gearbeitet. Die Federführung liegt bei der Deutschschweizer Erziehungsdirektoren-Konferenz (D-EDK); in Steuer- und Begleitgruppen arbeiten rund siebzig Bildungspolitiker, Fachdidaktiker der pädagogischen Hochschulen und Lehrer mit. Über den Gang der Dinge wird nur spärlich informiert. Erst im Sommer 2013 sollen Schulen, Parteien, Verbände konsultiert werden. Danach wird das Papier allenfalls überarbeitet und von der Plenarversammlung der EDK verabschiedet. Weder die Stimmbürger noch die kantonalen Parlamente – diese können sich einzig über Finanzfragen einmischen – werden etwas zu sagen haben. Dabei ist der Sinn eines harmonisierten Lehrplans höchst umstritten. Der Bieler Lehrer Alain Pichard hält ihn für «Chabis»: «Man will die Mentalitäten vereinheitlichen, aber das hat in der Schweiz noch nie geklappt.» Wenn heute 16 bis 20 Prozent der Schulabgänger nicht mehr richtig lesen könnten, sollte man eigentlich andere Sorgen haben, als Geld für einen «Papiertiger» zu verschwenden, das man woanders dringend benötige.
Hinter den Mauern der D-EDK ist ein Seilziehen zwischen Theoretikern und Praktikern im Gang. Zu Letzteren gehört Armin Stutz, einer der wenigen Lehrer in der Begleitgruppe. «Wir fordern einen klar lesbaren Lehrplan», sagt er, «und eine angemessene Vorbereitung der Schüler auf das Berufsleben.» Dass sich Lehrer wie Stutz in der EDK einbringen dürfen, ist als positives Signal zu werten. Noch vor wenigen Jahren hätten sich Wissenschaftler und PH-Didaktiker wohl gar nicht dreinreden lassen. Den Ton geben sie allerdings noch heute an, wie sich bei der Gewichtung der Themen zeigt. Für die Berufs- und Studienwahlvorbereitung sind in einem ersten Entwurf gerade mal 39 Stunden pro Jahr vorgesehen, wie die NZZ kürzlich berichtete – «viel zu wenig», wie Lehrer kritisieren.
Dafür sollen die Schüler eine ordentliche Portion «nachhaltige Entwicklung» verabreicht bekommen. Unter diesen Begriff fallen fächerübergreifende Themen, die an den pädagogischen Hochschulen gerade im Trend liegen: Umwelt, Migration, interkulturelle Verständigung, Gender und Gleichstellung, Diskriminierung, soziale Gerechtigkeit. Vor 25 Jahren wäre wohl auch das Waldsterben dabei gewesen. Auch die Sprache des Lehrplans ist nicht unbedingt geeignet, die Angst der Lehrerschaft vor einem bürokratischen Machwerk zu zerstreuen. So heisst es über den Schwimmunterricht: «Die Schülerinnen und Schüler erwerben die wasserspezifischen Kernelemente.» «Ich hoffe nur, dass die Lehrer nicht so reden werden», spottet ein pensionierter Lehrer, «sonst versteht sie kein Mensch.»
Das Problem scheint erkannt. Laut D-EDK-Geschäftsleiter Christoph Mylaeus wird der Lehrplanentwurf derzeit überarbeitet. Ziel sei unter anderem eine «bessere Verständlichkeit». Über Inhalte will er erst reden, wenn die überarbeiteten Entwürfe vorliegen, also 2013. Die Verschwiegenheit der EDK sorgt in der Lehrerschaft für Unmut. «Offensichtlich hat man hat Angst vor einer öffentlichen Debatte», sagt Hanspeter Amstutz. «Dabei sollte gerade jetzt über die Volksschule diskutiert werden.» Die Taktik der Bildungstheoretiker ist verständlich: Je weniger das Volk mitredet, desto weniger sind ihre Pläne gefährdet.
Aus: Weltwoche, 13.12. von Lucien Scherrer
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