2. August 2017

Freie Schulwahl profitiert von überforderter Volksschule

Enid Oita sitzt im Café und wartet. An ihren Ohren baumeln weisse Federohrringe, vor ihr liegen Unterlagen, ein ellenlanger Mail-Verkehr mit Schulbehörden. Weder die Pädagogen noch die Behörden hätten etwas tun können, damit sich ihr Kind in der Schule wohlfühle. Ein Schulhauswechsel sei nicht zustande gekommen, und die Gesprächstermine wurden so kurzfristig angesetzt, dass die berufstätige Frau Lohneinbussen in Kauf nehmen musste, um die Termine wahrnehmen zu können. Sie fühlt sich als alleinerziehende Mutter von den Behörden nicht ernst genommen: «Ich bin Krankenschwester, arbeite regelmässig, trinke nicht, rauche nicht, gehe kaum in den Ausgang.» Doch ihr Sohn sei ohne ihr Einverständnis zu einer Heilpädagogin gebracht worden, die ihm auf informellem Weg eine kindliche Depression diagnostizierte. «Er wird als Kranker abgestempelt, ohne dass man sich überlegt, dass es Kinder gibt, die einfach mal wagen, Nein zu sagen», sagt sie. 
"Bürokraten fürchten den Einfluss der Eltern", Basler Zeitung, 24.7. von Franziska Laur


Die heilpädagogische Mühle 
Ihr Fall ist einer, wie ihn immer mehr Eltern erleben: Sie haben ein Kind, das nicht ins schulische System passt und in die Räder der heilpädagogischen Mühlen gerät. «Es sollte doch möglich sein, dass Eltern mitbestimmen dürfen, in welche Schule ihr Kind gehen soll», sagt Oita. Daher will sie die Elternlobby in Basel-Stadt installieren. Momentan gibt es keine Anlaufstelle. 

Der schweizerische Verein Elternlobby stellt seit Jahren fest, dass bei schulischen Problemen die Schulbehörden häufig keine den Bildungsbedürfnissen des Kindes dienende Lösung treffen. So stellen viele Eltern Fehleinschätzungen fest. Leon (alle Namen der Kinder geändert) beispielsweise hat eine immobile Zunge. Anstatt in die Sprachheilschule wollen ihn die Behörden trotz Gegenwehr der Heilpädagogin in eine Sonderschule für geistig behinderte Kinder schicken. 

Julia hat ADHS, und die Pädagogen empfehlen, ihr Ritalin zu verabreichen. Dagegen wehren sich die Eltern, was nicht goutiert wird. 

Und es gibt Kinder, die depressiv werden, wenn sie im Schulalltag eingespannt sind. Der BaZ sind einige Fallbeispiele bekannt, wo die Kleinen erst wieder aus ihrem Loch herausfanden, als in einer privaten Schule vermehrt auf ihre Individualität eingegangen wurde. Die Schicksale sind zahlreich, die Geschichten bedrückend. 

Überforderte Volksschulen 
Seit 2011 richtet sich Basel-Stadt nach dem Sonderpädagogik-Konkordat und unterrichtet Kinder und Jugendliche mit Behinderung, Lernschwäche oder besonderer Begabung in denselben Klassen. Doch die Volksschule ist mit der heterogenen Zusammensetzung der Kinder überfordert, denn das ausgebildete Personal fehlt. Die Folge: Immer mehr ungenügend ausgebildete Personen entscheiden über krank oder gesund. So geraten auch Kinder in die Mühle der Pathologisierung, die lediglich nicht in den normativen Rahmen passen. Schweizweit haben weit über 50 Prozent der Schülerinnen und Schüler Förderbedarf und immer mehr Kinder werden heilpädagogisch betreut. 

«Die Staatsschulen können nicht mehr alles abdecken», sagt auch Pia Amacher, Präsidentin Elternlobby Schweiz. Sie wohnt in Basel und kämpft für mehr Wahlmöglichkeiten bei der Bildung der Kinder. Manchmal entspreche ein System einfach nicht den Bedürfnissen des Kindes oder es stimme die Chemie zwischen Lehrer und Kind nicht. Wenn sie von Kindern hört, die an Depressionen leiden, weil sie sich einem unpassendes Schulsystem unterordnen müssen, so leidet auch sie. Und sie hört immer wieder Erfolgsgeschichten, wenn solche Kinder die Schule wechseln können. 

«Seine Depressionen sind verschwunden, er lächelt endlich wieder und geht gerne zur Schule. Auch von Selbstmord redet er nicht mehr. Was bleibt, ist das Unverständnis, dass die Schulgemeinde einem nicht diesen Betrag bezahlt, den das Kind in der normalen Schule kosten würde», schreibt ein Elternpaar auf der ElternlobbyHomepage. So wie ihnen geht es vielen «Privatschuleltern». Kinder, die in der Volksschule als langsam, hyperaktiv oder zu sensibel diagnostiziert werden, blühen auf, wenn sie in eine passende Schule wechseln können. 

Aufgrund dieser Erfahrungsberichte ist für Pia Amacher unverständlich, dass die Volksschule auf ihrem Monopol besteht. Sie stellt fest: «Die Bürokraten fürchten den Einfluss der Eltern.» Das Grundrecht, dass Eltern über die Art der Bildung für ihre Kinder bestimmen können, werde mit Füssen getreten. «Meist entscheiden bei Schwierigkeiten die Schulbehörden, was das Beste für das Kind ist, und nicht die Eltern. Doch laut Menschenrecht haben die Eltern das Recht, über die Art der Bildung ihrer Kinder zu entscheiden.» Sie vermutet, dass hinter dem Entscheidungsmonopol der Volksschulen handfeste Gründe stecken: «Es geht um Macht, Geld und Pfründe.» 

Unterstützung aus der Politik 
Doch die Streiterinnen für eine freie Schulwahl haben in den vergangenen Monaten und Jahren eine gewichtige Unterstützung bekommen. Katja Christ, 45 Jahre alt, Grossrätin der Grünliberalen, ist Juristin. Aufrechter Gang, forscher Schritt, klare Haltung: Die ehemalige Tangotänzerin weiss, wofür sie kämpft und sie weiss, dass ihr Weg kein einfacher ist: «Wovor habt ihr Angst?», rief sie im Grossen Rat ihren Ratskollegen zu. Sie spürte zwar viel Sympathie für ihren Antrag betreffend freie Wahl des Unterrichtsmodells. Doch in den Volksschulen können die Eltern nicht bestimmen, sondern lediglich wünschen. Ob der Wunsch erfüllt wird, ist den Bildungsbürokraten überlassen. 

Katja Christ wollte die Wunschmöglichkeit in eine verbindliche Form umwandeln. Doch nicht einmal das kam durch. Die Linken stemmten sich vehement dagegen. 

Tief verwurzelter Glaube 
«Wovor habt ihr Angst?» Diese Frage, die Katja Christ wie einen Schlachtruf in den Grossratssaal gerufen hat, beschäftigt sie heute noch, und sie hat teilweise Antworten gefunden. Es seien die Zweifel, die Skepsis, ob Eltern aus bildungsfernen Schichten mit einer freien Bildungswahl nicht überfordert wären. «Es gibt in der Schweiz einen bis tief ins bürgerliche Lager verwurzelten Glauben, dass der Staat am besten wisse, was gut für die Kinder ist», sagt sie. 

Für sie würde eine freie Schulwahl unter folgenden Kriterien gelingen: «Der Staat hat die Oberaufsicht und definiert die Rahmenbedingungen.» Ausserdem müssten für alle teilnehmenden Schulen, ob öffentlich oder privat, die gleichen Regeln gelten. Schulen, die an der freien Schulwahl teilnehmen würden, sollen pro Schüler einen fixen Betrag erhalten, der kostendeckend ist. Es wäre untersagt Zusatzgebühren zu verlangen. Ausserdem wären die Schulen verpflichtet, alle Schüler anzunehmen. Wenn sie überbucht wären, müssten die freien Plätze verlost werden

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