26. Dezember 2016

Passepartout-Schreckmümpfeli

Meine Schwiegermutter, eine gebürtige Budapesterin, war einst im Zuge des Ungarnaufstandes in die Schweiz gekommen und hatte hier, gemeinsam mit ihrem Mann, ihre zwei Kinder grossgezogen. Letztes Wochenende war sie bei uns zu Gast, um mit unseren Kindern Weihnachtsplätzchen zu backen. Meine Tochter Aline* geht in die 3. Klasse.
Passepartout-Schreckmümpfeli, 22.12. 


Oma: "Du Aline, sag mal, was lernt ihr jetzt eigentlich im Französisch?"

Aline überlegt.

Oma: "Sag doch mal "Ich heisse Aline" auf Französisch."

Aline: "Das kann ich nicht."

Oma: "Was? Aber du hast doch jetzt seit August Französisch."
(zu mir gewandt) "Wieso kann das Kind das nicht sagen?"

Aline: "Das müssen wir nicht können."

Oma: "Und was müsst ihr dann können?"

Aline: "Meistens machen wir so Spiele oder singen etwas."

Oma: "Oh, schön! Singst du mir etwas auf Französisch?"

Aline singt ein Lied über Farben, die Aussprache und Intonation derselben („scho“ für „jaune“; „blöi“ für „bleu“; orangsch für „orange“; „wert“ für „vert“) verursacht jedoch migräneartige Schmerzen bei allen Französischkundigen im Raum.

Oma (nachsichtig über die mangelhafte Aussprache hinwegschauend): "Ah, dann habt ihr also die Farben gelernt. Welche Farbe heisst denn nun was?"

Aline: "Das weiss ich nicht genau. Ich glaube..."

Oma (zu mir gewandt): "Du, sag mal, bin ich blöd? Wieso wissen die Kinder nicht, was sie singen?"

Aline reimt sich die Farben so einigermassen zusammen.

Oma: "Und was für Wörtli müsst ihr zuhause lernen?"

Aline: "Das müssen wir nicht."

Oma: "Ja aber ich habe mit meinen Kindern doch immer Franzi-Wörtli zuhause lernen müssen! Und der alte Graber*, unser Nachbar, den habe ich immer auf dem Balkon mit seinem Sohn Remo* Wörtli üben gehört und der arme Junge konnte sie nicht und der Alte hat geflucht (lacht; fahrt dann an mich gewandt weiter). Aber im Ernst: Man muss doch Wörtli lernen, wenn man eine neue Sprache lernen will. Ich musste, als ich in die Schweiz kam, auch Schritt für Schritt die deutschen Wörter mir aneignen. Zuerst die häufigsten, dann immer mehr dazu. Und von einfachen Sätzen zu schwierigeren, langsam ausweiten. Zuerst Sätze wie "Ich heisse..." und dann "Mein Bruder heisst..." und so weiter."

Ich: "Ich finde, du solltest dich als Fachdidaktikerin an der PH bewerben. Du verstehst mehr davon als die."

Oma: "Aber sag mir jetzt bitte: Was lernen die Kinder denn, wenn sie keine Wörtli lernen, die Aussprache auch nicht und Sätze können sie auch nicht bilden?"

Ich: "Strategien."

Oma flucht auf Ungarisch...
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Jean Néassez*, Sekundarlehrer aus einem Passepartout-Kanton

*Namen geändert


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