Meine Schwiegermutter, eine gebürtige
Budapesterin, war einst im Zuge des Ungarnaufstandes in die Schweiz gekommen
und hatte hier, gemeinsam mit ihrem Mann, ihre zwei Kinder grossgezogen.
Letztes Wochenende war sie bei uns zu Gast, um mit unseren Kindern Weihnachtsplätzchen
zu backen. Meine Tochter Aline* geht in die 3. Klasse.
Passepartout-Schreckmümpfeli, 22.12.
Oma: "Du Aline, sag mal, was
lernt ihr jetzt eigentlich im Französisch?"
Aline überlegt.
Oma: "Sag doch mal "Ich
heisse Aline" auf Französisch."
Aline: "Das kann ich
nicht."
Oma: "Was? Aber du hast doch
jetzt seit August Französisch."
(zu mir gewandt) "Wieso kann
das Kind das nicht sagen?"
Aline: "Das müssen wir nicht
können."
Oma: "Und was müsst ihr dann
können?"
Aline: "Meistens machen wir
so Spiele oder singen etwas."
Oma: "Oh, schön! Singst du
mir etwas auf Französisch?"
Aline singt ein Lied über Farben,
die Aussprache und Intonation derselben („scho“ für „jaune“; „blöi“ für „bleu“;
orangsch für „orange“; „wert“ für „vert“) verursacht jedoch migräneartige
Schmerzen bei allen Französischkundigen im Raum.
Oma (nachsichtig über die
mangelhafte Aussprache hinwegschauend): "Ah, dann habt ihr also die Farben
gelernt. Welche Farbe heisst denn nun was?"
Aline: "Das weiss ich nicht
genau. Ich glaube..."
Oma (zu mir gewandt): "Du,
sag mal, bin ich blöd? Wieso wissen die Kinder nicht, was sie singen?"
Aline reimt sich die Farben so
einigermassen zusammen.
Oma: "Und was für Wörtli
müsst ihr zuhause lernen?"
Aline: "Das müssen wir nicht."
Oma: "Ja aber ich habe mit
meinen Kindern doch immer Franzi-Wörtli zuhause lernen müssen! Und der alte Graber*,
unser Nachbar, den habe ich immer auf dem Balkon mit seinem Sohn Remo* Wörtli
üben gehört und der arme Junge konnte sie nicht und der Alte hat geflucht
(lacht; fahrt dann an mich gewandt weiter). Aber im Ernst: Man muss doch Wörtli
lernen, wenn man eine neue Sprache lernen will. Ich musste, als ich in die
Schweiz kam, auch Schritt für Schritt die deutschen Wörter mir aneignen. Zuerst
die häufigsten, dann immer mehr dazu. Und von einfachen Sätzen zu schwierigeren,
langsam ausweiten. Zuerst Sätze wie "Ich heisse..." und dann
"Mein Bruder heisst..." und so weiter."
Ich: "Ich finde, du solltest
dich als Fachdidaktikerin an der PH bewerben. Du verstehst mehr davon als
die."
Oma: "Aber sag mir jetzt
bitte: Was lernen die Kinder denn, wenn sie keine Wörtli lernen, die Aussprache
auch nicht und Sätze können sie auch nicht bilden?"
Ich: "Strategien."
Oma flucht auf Ungarisch...
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Jean Néassez*, Sekundarlehrer aus einem Passepartout-Kanton
Jean Néassez*, Sekundarlehrer aus einem Passepartout-Kanton
*Namen geändert
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