21. April 2016

Streit um Kompetenzbegriff

18 Kantone haben beschlossen, Lehrpläne einzuführen, die auf dem Lehrplan 21 basieren. Einzelne Kantone debattieren noch über eine solche Einführung. Ein Hauptstreitpunkt zwischen Befürwortern und Gegnern betrifft den Begriff «Kompetenz». Warum muss man darüber so heftig streiten?
Schwammiger Begriff heizt Streit um Dokument an, bz Basel, 20.4. von Hans Fahrländer


Während in Basel bereits nach dem Deutschschweizer Lehrplan 21 unterrichtet wird, bereiten sich etliche Kantone auf eine hitzige Schlacht um ebendiesen Lehrplan vor.
Am Sonntag befindet an der Landsgemeinde in Appenzell zum ersten Mal ein kantonaler Souverän via eine Einzelinitiative über die Einführung.
Am 5. Juni findet im Baselbiet die Volksabstimmung über eine «lehrplanfeindliche» Initiative statt, in den Kantonen Aargau und Zürich folgen sie in den Jahren 2017 oder 2018.
Im Kanton Solothurn rechnet man in rund einem Monat mit der Einreichung eines Volksbegehrens.
Ein Hauptstreitpunkt zwischen Befürwortern und Gegnern betrifft den Begriff «Kompetenz»: Erstmals ist ein Volksschullehrplan «kompetenzorientiert» aufgebaut. Was genau heisst das? Und: Warum muss man darüber so heftig streiten?

«Ein semantisches Unglück»
Urs Moser, Titularprofessor für Pädagogik an der Universität Zürich und Leiter des Instituts für Bildungsforschung, erklärt: «Früher wurden in Lehrplänen Ziele in Form von Wissen und Inhalten definiert, heute versucht man zu definieren, was die Schüler auf welcher Stufe wissen und können müssen. Mit der Kompetenzorientierung wird der Fokus auf die tatsächlich erreichten Lernergebnisse gerichtet und nicht nur auf das, was im Unterricht durchgenommen werden soll.»
Das leuchtet ein – erklärt aber noch nicht den erbitterten Streit. «Das Problem ist, dass der Begriff mittlerweile inflationär verwendet wird. Kompetenz ist ein Modewort, das für alles steht, was innovativ tönt. Von daher ist der vieldeutige Begriff ein semantisches Unglück. Er hat den Eindruck erweckt, als würde nun alles ganz anders, als würden keine traditionellen Inhalte mehr vermittelt, sondern nur noch gesellschaftlich verwertbare Ziele verfolgt und der Lehrplan sei einzig auf die Wirtschaft ausgerichtet. Das stimmt natürlich nicht.»

Zu viel in den Begriff gepackt
Daniel Hunziker war Leiter einer Privatschule, heute ist er selbstständiger Schulentwickler. Von ihm ist kürzlich ein Buch mit dem Titel «Hokuspokus Kompetenz?» erschienen. Er stellt fest: «Die Frage nach dem Kompetenzbegriff macht deutlich, dass beim Lehrplan 21 in erster Linie ein Kommunikationsproblem besteht. Die Verantwortlichen haben es versäumt, die Frage verständlich zu beantworten.»
Auch Daniel Hunziker stellt fest, dass (zu) viel und Falsches in den Kompetenzbegriff verpackt wird.
«Im Lehrplan heisst es zum Beispiel: ‹Schülerinnen und Schüler können schriftlich addieren und subtrahieren.› In den meisten Lehrerzimmern wird nun angenommen, dass darunter Kompetenzen zu verstehen sind. Dabei ist das schlicht ein Lernziel aus einem alten Lehrplan, dem man ‹Schülerinnen und Schüler können …› vorangestellt hat. Im Lehrplan-Kontext sind Kompetenzen eine bunte Mischung aus Fachwissen, Lehrzielen und tatsächlichen Kompetenzen.»
Seine Definition von Kompetenz: «… die Fähigkeit, in neuen Lebens- und Berufssituationen aufgrund eigener Ideen und Entscheidungen eigenverantwortlich und sinnvoll handeln zu können.»

Einheitlichkeit und Föderalismus
Hunziker verweist auf die tiefgreifenden Veränderungen in Gesellschaft und Berufswelt.
«Heute hat die Halbwertszeit von Wissen eine immer kürzere Dauer, weshalb das Vermitteln von statischem Wissen immer fragwürdiger wird. Für eine Schule, welche für sich den Anspruch hat, die Kinder und Jugendlichen auf die Zukunft vorzubereiten, ist die Ausrichtung auf Kompetenzen – im Sinne von Selbstorganisationsfähigkeit – schlicht ein Muss.»
Urs Moser erinnert an den Harmonisierungsauftrag, den das Volk vor zehn Jahren der Schule erteilt hat. Diese Harmonisierung könne nicht nur über Strukturen laufen, sondern müsse auch Inhalte umfassen.
Der Lehrplan 21 verordne aber nicht totale Einheitlichkeit: «Gewisse Kompetenzen können mit unterschiedlichen Inhalten vermittelt werden, womit kantonalen Bedürfnissen besser entsprochen werden kann. Der Kanton Obwalden hat zum Beispiel das Thema Niklaus von Flüe als verbindlich erklärt.»

«Für die Volksschule grundfalsch»
Harald Ronge ist Mathematiklehrer an der Bezirksschule Bremgarten und Mitinitiant der aargauischen Volksinitiative «Ja zu einer guten Bildung – Nein zum Lehrplan 21».
Für ihn ist klar: «Die Kompetenzen betonen das blosse Können und bauen nicht auf Wissen und Inhalten auf.»
Was in höheren Schulen allenfalls funktioniere, sei für die Volksschule grundfalsch. «Mit hohem finanziellem Aufwand wurde ein komplett neuer Lehrplan auf der Basis von Kompetenzen erstellt. Dieser Aufwand wurde kaum getrieben ohne ein ‹pädagogisches› Ziel der Veränderung. Nun zu behaupten, der Lehrplan 21 bringe nichts Neues, ist kaum nachvollziehbar.»
Für Ronge setzt der Lehrplan fort, was in Lehrerbildung und Lehrmitteln schon länger im Gang ist:
«Die Kompetenzen sollen mit selbstentdeckendem, selbst organisiertem Lernen erworben werden. Doch diese Ausrichtung ist schon länger überholt. Gemäss John Hattie und anderen Bildungsforschern braucht es einen strukturierten und lehrerzentrierten Unterricht. Diese Art des Unterrichtens soll mit dem Lehrplan 21 faktisch abgeschafft werden.»
Der Bezirksschullehrer ist überzeugt: «Zum Erwerben neuer Informationen ist ein breites Grundwissen unabdingbar. Diese Aufgabe muss die Volksschule erfüllen. Gemäss Lehrplan 21 erfüllt sie sie nicht mehr. In der Mathematik kennen die Schülerinnen und Schüler die Produkte des Einmaleins nur noch. Selbst können würde hier noch mehr bedeuten. Dafür wird bereits in der Primarschule der Taschenrechner eingeführt. Und in verschiedenen Fachbereichen soll nur noch an exemplarischen Beispielen gelernt (entdeckt) werden. Ein systematischer Aufbau ist nicht mehr vorgesehen.»

Ungenügend für den Unterricht
Folgt jetzt der Kompromiss in der Einschätzung? Peter Bonati war 20 Jahre Direktor der Abteilung für das Höhere Lehramt der Universität Bern. Er ist Verfasser mehrerer kompetenzorientierter Lehrpläne der Sekundarstufe II.
Bonatis Urteil über den Lehrplan 21 fällt gemischt aus: «Seine Stärke ist die Systematik der Kompetenzen. Man weiss genau, was von den Lernenden auf welcher Schulstufe verlangt wird. Das ergibt eine exakte Grundlage für Prüfungen und Tests – aber noch nicht für den Unterricht. Zwar werden die Kompetenzen mit Unterrichtsinhalten verknüpft, aber deren Reihenfolge ist im Gegensatz zu den Kompetenzen nicht festgelegt. Lehrpersonen mit wenig Unterrichtserfahrung werden damit Mühe bekunden. Dieses Ungleichgewicht zwischen Inhalten und Kompetenzen ist die Schwäche des Lehrplans 21.»

Wo liegt der kleinste Nenner?
Sucht man in den Expertenmeinungen einen gemeinsamen Nenner, könnte er so lauten: Der Lehrplan 21 bietet (noch) zu wenig konkrete Handlungsanweisungen für den Unterricht. Zunächst kommt es nun auf die Kantone an, was sie ergänzend und konkretisierend in das Dokument einfügen. Und dann kommt es auf den Lehrer, die Lehrerin an, wie sie mit dem Lehrplan arbeiten. Ihr Handlungsspielraum bei der Wahl der Inhalte und Lehrmethoden wird grösser, nicht kleiner.
Weiterführende Lektüre: Daniel Hunziker: «Hokuspokus Kompetenz?», hep-Verlag, Bern 2015
«Einspruch!» Kritische Gedanken zu Bologna, Harmos und Lehrplan 21, auch aus liberaler und linker Sicht, gesammelt von Alain Pichard und Beat Kissling, Januar 2016






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen