18. Oktober 2015

Wie weiter mit der Integration von Sonderschülern?

Schulen müssen so viele schwierige Kinder integrieren wie noch nie. Erste Kantone ergreifen Massnahmen.













Starker Anstieg der Sonderschülerzahl in den Kantonen, Bild: Sonntagszeitung
Sonderschüler treiben Lehrer ans Limit, Sonntagszeitung, 18.10. von Nadja Pastega


Im Lehrerkollegium gilt die Klasse als «Horrorjahrgang». Ein normaler Schulbetrieb ist oft kaum möglich. 23 Schüler sitzen in der Sek-Klasse, Niveau B, in Zürich. Davon sind rund zwei Drittel Sonderschüler, einige haben die Diagnose: verhaltensauffällig. So lautet der Fachbegriff für massive soziale Defizite. Sie schlossen sich zu «einer kleinen Mafia» zusammen, die den Unterricht torpedierte, berichtet die Klassenlehrerin, sie machten keine Hausaufgaben, schwänzten die Schule, pöbelten im Klassenzimmer herum. Drei Heilpädagogen, die für neun Lektionen pro Woche in den Unterricht kamen, versuchten zu helfen, sorgten aber eher noch für zusätzliche Unruhe. Ein Lehrer warf entnervt das Handtuch und hat ein Time-out genommen.

Schweizer Schulen müssen so viele Sonderschüler integrieren wie noch nie. Nicht nur verhaltensauffällige Jugendliche, sondern auch Kinder mit Lernschwierigkeiten, Autismusstörungen und tiefem IQ unter 75.

«Heute wird zu schnell irgendetwas diagnostiziert»
Im Kanton Zürich hat sich die Zahl der Sonderschüler seit dem Jahr 2000 mehr als verdoppelt. 5067 Kinder und Jugendliche sind aktuell laut Angaben der Bildungsdirektion als Sonderschüler eingestuft – so viele wie noch nie. Ihr Anteil an der gesamten Schülerschaft legte von 1,7 auf 3,7 Prozent zu. Die Kosten stiegen zwischen 2005 und 2013 von 240 auf 370 Millionen Franken jährlich (neuere Zahlen waren nicht erhältlich).

Auch andere Kantone kennen das Problem. In Luzern kletterte die Quote der Sonderschüler seit 2005 von rund 2 auf 3,4 Prozent, inzwischen sind 1335 Kinder Sonderschüler und erhalten intensive Betreuung. Auch das ein Höchststand. Im Kanton Bern stieg die Zahl von 1641 auf 2406 – eine Zunahme um 50 Prozent. Allein in den letzten fünf Jahren explodierten die Kosten für Sonderschüler im Kanton Bern um 22 Prozent auf jährlich 217 Millionen Franken.

Die Zunahme ist vor allem auf die steigende Zahl von Sonderschülern zurückzuführen, die in die normalen Regelklassen integriert werden – gleichzeitig nimmt die Schülerzahl an den herkömmlichen Sonderschulen kaum ab. Mit der integrierten Sonderschulung sei ein neues Angebot geschaffen worden, das zusätzliche Nachfrage generiere, sagt Kaspar Vogel, Präsident des Lehrerverbands Sek ZH und Sekundarschullehrer in Winterthur. «Heute wird zu schnell irgendetwas diagnostiziert und therapiert.»

Die Behörden treiben die Integration der Sonderschüler vielerorts voran, eine Folge des Behindertengleichstellungs-Gesetzes, dem die Schweizer 2002 zugestimmt haben. Keiner soll mehr von den Regelschulen ausgeschlossen werden. Sonderschulen gelten als Einrichtung von gestern.

Doch die Aufgabe für die Schulen ist gewaltig – und der Boom der Sonderschüler auch ein Zeichen von Überforderung. Längst werden nicht nur Kinder mit offenkundigen Behinderungen als Sonderschüler eingestuft, sondern immer öfter erhalten auch Kinder mit leichten Lernschwierigkeiten und verhaltensauffällige Radau-Kids diesen Status. Gilt ein Kind als Sonderschüler, bekommen die Schulen zusätzliche Stellenpensen für die Betreuung durch Heilpädagogen. Anders, so klagen Lehrer, sei der Unterricht oft kaum zu bewältigen.

Sie erzählen von Schülern, die den Unterricht mit Dauergelärm lahmlegen, mit der Faust an die Tafel hämmern, wenn man sie nach den Hausaufgaben fragt, oder nach schlecht verlaufenen Prüfungen den Stuhl durch das Zimmer werfen. Manchmal sei kein Unterricht möglich, weil einer durchdreht und über die Tische springt. Bei Schülern mit ADHS und Autismusstörungen müsse man Prüfungen zum Teil eine Woche im Voraus schriftlich ankündigen, den Stoff detailliert in schriftlicher Form abgeben und die Prüfungsaufgaben in Darstellung, Länge und Stoffumfang individuell anpassen. Manche Schüler weigern sich trotzdem, den Leistungstest zu schreiben – aus Angst vor Misserfolg. Das treibt viele Lehrer ans Limit.

Die Städte Zürich und Winterthur haben inzwischen spezielle Integrationsklassen geschaffen. Hier lernen drei, vier behinderte mit nicht behinderten Kindern zusammen. Damit das funktioniert, werden die Klassen in jeder Stunde von zwei Pädagogen betreut, einem Lehrer und zusätzlich einem Heilpädagogen.

Der Kanton Schwyz hat Teilmoratorium eingeführt
Gegen steigende Sonderschulzahlen und ungebremst wachsende Kosten haben erste Kantone Massnahmen ergriffen. Mit einem Monitoring will Zürich die Zuweisungspraxis in jenen Gemeinden überprüfen, «die auffällig hohe Sonderschulungsquoten haben», sagt Urs Meier, stellvertretender Amtschef in der Zürcher Bildungsdirektion. Zudem führe man «gestaffelt ein standardisiertes Abklärungsverfahren ein», damit die Schulpsychologen den Sonderschulbedarf der Kinder nach einheitlichen Kriterien abklären. Inzwischen sei es gelungen, so Meier, die Sonderschulquote zu stabilisieren.


Rigoros griff der Kanton Schwyz durch: Nachdem die Zahl der Sonderschüler in wenigen Jahren um 30 Prozent in die Höhe schnellte, erliess er 2010 ein Teilmoratorium – verhaltensauffällige Schüler erhalten keine sonderschulische Betreuung mehr. Wie viele Sonderschüler schweizweit in den Regelklassen sitzen, weiss niemand. Die Zahlen wurden bisher nicht zentral erfasst. Derzeit brüten die Experten des Bundesamts für Statistik an einem Raster, um die kantonalen Variationen bei der Sonderschulung einheitlich zu erfassen. Die erste nationale Statistik soll Anfang 2017 vorliegen.

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