17. Oktober 2015

Träges Bildungswesen

1798 war es, in der kurzen Zeitspanne der Helvetik. Da mahnte der damalige Minister für Erziehung und Kultur, Philippe Albert Stapfer, bei der Ausarbeitung des ersten Volksschulgesetzes: «Primär muss die Sicht aufs grosse Ganze Vorrang haben - im Geiste eines zu schaffenden Esprit public, eines Gemeinsinns der ganzen Bürgergesellschaft.» Diese Forderung von damals ist angesichts des verstärkten Standortföderalismus und des komplexer gewordenen Bildungswesens inzwischen noch dringlicher geworden.
Anforderungen der Wissensgesellschaft, NZZ, 17.10. Gastkommentar von Hans Zbinden


Zwar zählt die Schweiz laut internationalen Vergleichsstudien seit Jahren zur Spitzengruppe der innovativsten Länder der Erde. Sie verdankt diese Position nicht zuletzt auch ihrem gut ausgebauten Bildungswesen. Doch dieser erste Blick übersieht oft, dass unser Bildungsnetzwerk zugleich auch zu den teuersten weltweit gehört. Nicht zuletzt als Folgen seiner luxuriösen Infrastrukturen und seines professionellen und gesellschaftlich geschätzten Lehrpersonals. Aber auch merklich bedingt durch seine komplexen demokratisch-föderalen Strukturen, Gremiengeflechte und administrativen Mehrspurigkeiten. Sie machen das Ganze schwerfällig und kaum steuerbar. Und nicht zuletzt: Die letztlich damit erbrachten Schülerleistungen fallen im internationalen Vergleich durchzogen aus, meist ordentlich gut, aber nie spitzenmässig.
Im Weiteren fällt dabei auf, wie sich bei uns die sozialen, ethnischen und regionalen Ungleichheiten bei den Bildungschancen weiterhin verfestigt haben. Auch die Ausschöpfung des Begabungspotenzials ausländischer Zuwanderer ist unzureichend geblieben. Und der inländische Fachkräftemangel ist mittlerweile chronisch geworden. Diese zwiespältige Bilanz hinderte den Staatssekretär des SBFI, Mauro dell'Ambrogio, jedoch nicht, den Forderungen nach einer gemeinsam durchdachten und breit abgestützten nationalen Bildungsstrategie selbstgefällig eine Absage zu erteilen.
Im Zeitalter der Wissensgesellschaft leisten wir uns den Luxus, den Bildungsföderalismus mit seinem kollektiven Wissen und seinen vielfältigen Erfahrungen zu wenig für das ganze Bildungswesen zu nutzen. So weiss es denn heute gar nicht, was es eigentlich wissen könnte! Es gibt weder ein gemeinsames Organisationsgedächtnis noch ein Wissensmanagement von Bund und Kantonen. So fehlt etwa ein gemeinsam betriebener «Bildungsradar». Mit ihm würden die vielerorts praktizierten Neuerungen der Bildungsbereiche gezielt gesammelt und geordnet, um sie anschliessend als Good-and-best-practice-Modelle allen interessierten Kreisen zugänglich zu machen. Doch dieses kollektive Lernen im Zeitalter der Wissensteilung widerspricht diametral dem gängigen Motto: «Jeder lernt für sich und gegen die andern!» Als hätte der verstärkte Standortföderalismus die verfasste bundesstaatliche Kantonsgemeinschaft in eine Konkurrenzveranstaltung unter eigensinnigen Mitgliedern umgewandelt! So bauten alle Kantone auf kostspielige Weise immer mehr Vollangebote an Diensten und Leistungen auf. Von der Bildungsverwaltung über Planungsabteilungen, Beratungsdienste und Reformprojekte bis hin zu 18 kantonalen pädagogischen Hochschulen.

Ausgeprägtes Gegenwartsdenken und verstärkter Standortföderalismus verleiteten die bestehende Bildungspolitik dazu, den Blick in die Zukunft des schweizerischen Bildungswesens zu verkürzen und zu verengen. 
Entgrenzung der institutionalisierten Lern- und Bildungsräume: Die bisherigen Lern- und Bildungsprozesse in abgegrenzten, stationären, stabilen und strukturierten Schul- und Lernräumen verschwimmen. Die Schule wird so immer mehr nur noch als ein zwar wichtiges Lernumfeld neben anderen wahrgenommen. Ergänzt wird es durch informelle Lern- und Bildungsräume im familiären, nachbarschaftlichen und urbanen Alltagskontext der Menschen. Die Zukunft gehört deshalb integralen Bildungslandschaften mit koordinierten formalen, non-formalen und informellen Bildungsangeboten. 
Digitalisierungskonzept für das Bildungswesen: Neueste Studien belegen, dass das Bildungswesen mit seinen Institutionen und Mitgliedern heute der am weitesten fortgeschrittene Gesellschaftsbereich auf dem Weg zur «digitalen Reife» im Umgang mit digitalen Werkzeugen ist. Doch die Möglichkeiten und Grenzen der damit verbundenen Herausforderungen pädagogischer, kultureller, politischer und finanzieller Art sind noch nicht ausreichend konzeptionell durchdacht und in praktikable Programme gegossen. 
Ermöglichung von Hybridmodellen (duale und triale Komponenten, Kombinationen von Ausbildung und Arbeit) auf den Stufen der nachobligatorischen Bildung: Die in der Schweiz politisch vorgegebene Aufteilung auf der Sekundarstufe II und der Tertiärstufe in zwei strikt getrennte binäre institutionelle Pfeiler (Allgemeinbildung und Berufsbildung) ist angesichts der real stattfindenden wechselseitigen Imitationen prospektiv zu überwinden. Mittels Projekten mit intelligenten Kooperations- und Hybridmodellen (Kombinationen Ausbildung und Arbeit, duale Hochschulen und Maturitätsschulen, triale Modelle von Betrieb, Berufsfachschule, Hochschule).
Hans Zbinden ist Bildungswissenschafter und Präsident der Eidgenössischen Fachhochschulkommission. Er war Initiant der neuen Bildungsverfassung von 2006.

3 Kommentare:

  1. "Bildungslandschaft": Willkommen im Club des angesagtesten pädagogischen Neusprechs.
    Siehe dazu auch bei http://schuleschweiz.blogspot.ch/2015/10/ungeschminkte-einmischung.html

    AntwortenLöschen
  2. Neoliberale Domestizierung des Bildungswesens von links

    Der für den zentralistischen Bildungsartikel in der Bundesverfassung verantwortliche Reformguru der ersten Stunde, Hans Zbinden SP, kritisiert offenbar den Gastkommentar von Mauro Dell'Ambrogio, dem Staatssekretär für Bildung, Forschung und Innovation im neuen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF (vormals EVD) in der NZZ vom 3. März 2015 http://www.nzz.ch/meinung/debatte/und-sie-bewegt-sich-doch-die-schweizer-bildungspolitik-1.18493801.

    Seine mehrfachen Auslassungen gegen den Föderalismus, die Hoheit der Kantone im Bildungswesen und seine undemokratischeVorliebe für zentralistische Steuerung von oben, zeigen welch Geistes Kind er ist. Offenbar geht ihm die Umwandlung des Schweizer Bildungswesens in ein marktkonformes Einheitsprodukt nach den neoliberalen Vorgaben internationaler Wirtschaftsorganisationen (OECD, IWF usw.) zu wenig schnell.

    Er verfälscht dazu auch die Aussagen von Dell’Ambrogio, der u.a. in seinem Artikel Folgendes gesagt hat (Zitat): „Hier und dort wird behauptet, der Schweiz mangle es an einer Bildungsstrategie. Diese Behauptung ist indessen nur selten von Vorschlägen begleitet, wie denn eine solche aussehen könnte. Wenn aber doch, dann sind die Vorschläge extrem einseitig oder in Verkennung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeiten oder zuweilen naiv und kaum zu einem breiten Konsens fähig.“ (..)

    „Die heute international anerkannte Stärke des Schweizer Bildungssystems ist auch eine Folge davon, dass die Schweiz nie eine national gesteuerte Bildungspolitik gehabt hat. Das hat uns nicht nur erlaubt, eine Vielfältigkeit zu bewahren und das Potenzial, innovativ zu bleiben, sondern wir haben so auch unwiderrufliche Fehler vermeiden können. Solche haben verschiedene andere Länder in früheren Jahrzehnten, vom Zeitgeist verlockt, begangen, etwa indem sie die Berufslehre mit dem irrtümlichen Ziel «Chancengleichheit» zugunsten des Universitätszuganges für alle geopfert haben.“

    AntwortenLöschen
  3. Er will es uns einhämmern: dreimal „ verstärkter Standortföderalismus“ plus „Luxus des Bildungsföderalismus“ und „komplexe demokratisch-föderale Strukturen“.
    Geht es wirklich um Chancengleichheit (… sozialen, ethnischen und regionalen Ungleichheiten)? Zweifel sind angebracht. Den Beleg für die „ungenügende Ausschöpfung des Begabungspotenzials ausländischer Zuwanderer“ im internationalen Vergleich bleibt er schuldig, aber er fällt ihm auf. Und der politische Kampfbegriff „Fachkräftemangel“ darf natürlich nicht fehlen. Auch der ist nicht belegt, aber „mittlerweile chronisch“. Der Begriff, oder der Mangel, ist die Frage.
    Der Autor wünscht sich „Entgrenzung der institutionalisierten Lern- und Bildungsräumen“ zugunsten von „integralen Bildungslandschaften“, ein „Digitalisierungskonzept“ möchte er in Programme gegossen haben und ein „Hybridmodell mit dualen und trialen Komponenten“.
    Das hört sich an wie aus einem Forschungsbeitragsgesuch. Die Aussicht, ein so hässlicher Bürokratenschwurbel könnte dereinst den ganzen „Bildungsraum“ erfassen, müsste die Bildungsbürger geradezu nötigen, „den Luxus des Bildungsföderalismus“ bis zum letzten Blutstropfen zu verteidigen.
    Ich glaube nicht, dass der Autor im Namen von Pilippe Albert Stapfer sprechen kann. Bürokratieabbau im Bildungssektor ist in der Tat dringlich geboten, wie aber der Esprit public von Zbindens Reformgelüsten profitieren könnte, erschliesst sich mir nicht.

    AntwortenLöschen