"Fichez-nous la paix", lasst uns in Ruhe.
Sprachenstreit: "ça suffit", Weltwoche, 21.8. von Markus Schär
Jetzt gelte ich selbst
unter den Scheuklappen-Schweizern als Hinterwäldler. Ich lernte an der
Sekundarschule in Weinfelden und an der Kantonsschule in Frauenfeld (das ist
die Hauptstadt des Kantons Thurgau, wie nur wenige Freundeidgenossen wissen)
sechseinhalb Jahre Französisch. Mein Maturazeugnis zierte eine Sechs, weil ich
alles Nötige über die Grammatik und die Literatur der Sprache von Racine, Molière
und Marquis de Sade wusste; ich kann allerdings bis heute kein Telefonat auf
Französisch führen, weil es nicht in mein alemannisches Maul passt. Mit
dem directeur romand von Avenir Suisse, einem Diplomaten der
Schweizerischen Eidgenossenschaft, oder dem Präsidenten der ETH Lausanne, einem
Freiburger, pardon: Fribourgeois, sprach ich immer Englisch, damit
wir uns verstanden.
Aber eben, seit letzter
Woche sprechen mir die compatriotes nicht nur die
Französischkenntnisse, sondern sogar jede Verständigungsbereitschaft ab. Unter
mehreren Deutschschweizer Kantonen, in denen Vorstösse laufen, das
Frühfranzösisch in der Primarschule wieder abzuschaffen und dafür den Unterricht
in der Sekundarschule auszubauen, entschied zufällig im Thurgau das Parlament
zuerst. Es überwies mit 71 gegen 49 Stimmen eine SVP-Motion – gegen
Erziehungschefin Monika Knill (SVP). Die SVP stellt im Thurgau zwar die mit
Abstand grösste Fraktion, aber diese zählt nur 41 Mitglieder. Auf eine Mehrheit
kam der Vorstoss im 130-köpfigen Rat, weil ihn Parlamentarier fast aller
Parteien mittrugen: von FDP, CVP/GLP, EDU/EVP, sogar der SP und der geschlossenen
Fraktion der Grünen. Viele Lehrkräfte sprechen sich dafür aus; eine Studie der
Pädagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen (au lac de Constance,
rechts oben auf der Landeskarte) zeigt, dass Frühfranzösisch nichts bringt.
«Die Abriegelung der Schweiz»
Ohne sich um störende
Fakten zu scheren, zog Nationalrat Roger Nordmann (SP) über den Thurgau her.
«Ich werde den Verdacht nicht los, dass die SVP mit dem Kampf gegen
Frühfranzösisch noch viel mehr bezweckt: eine monokulturelle deutsche Schweiz»,
unkte der Vaudois im Tages-Anzeiger: «Dass es ihr
auch darum geht, die Abriegelung der Schweiz voranzutreiben.» Er rief deshalb
die Thurgauer Eltern dazu auf, Frühfranzösisch vor Bundesgericht zu erzwingen:
«Bildung eines Grundrechts» (mit Aufnahme in die EMRK?).
Die
Waadtländer Erziehungschefin Anne-Catherine Lyon (SP) hetzte gegen den
Thurgau, der sich «isoliere». Der Aargauer Nationalrat Cédric Wermuth (SP)
höhnte auf dem ihm eigenen Niveau, man solle einen Monat lang die Thurgauer
Äpfel boykottieren, bis das Parlament kippe. Und Bundesrat Alain Berset (SP)
drohte einmal mehr, der Bund könne in die Bildungshoheit der Kantone
eingreifen – obwohl es in Bundesverfassung und Sprachengesetz dafür keine
Grundlage gibt. Die Genossen fordern also – in verdankenswerter
Unverfrorenheit –, die Freundeidgenossen sollten mit den Thurgauern umgehen wie
die EU mit der Schweiz: beschimpfen und bedrohen, das Recht beugen und den
Volkswillen brechen.
Ich arbeite
jetzt im Medienzentrum in Bundesbern, einem der Bollwerke der eidgenössischen
Verständigung nach dem Grundsatz: Jeder spricht seine Muttersprache, die
anderen können ihm folgen. Mein Französisch nach nur sechseinhalb Schuljahren
tut es dafür vollauf, bei den Welschen, vor allem bei den Parlamentariern im Bundeshaus,
bin ich da nicht so sicher.
Ich spreche immer noch nicht lieber Französisch, aber es reicht, um
meinen compatrioteszuzurufen: «Nehmt uns Thurgauer wie bisher
einfach nicht zur Kenntnis und lasst uns in Ruhe – fichez-nous la paix, ça
suffit.»
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