13'000 Jugendliche entscheiden sich in der Schweiz jedes Jahr für eine Lehre zur Kauffrau oder Kaufmann. Sie lernen die Grundlagen des Berufs in Banken, bei Versicherungen oder bei Reisebüros. Das «KV» ist beliebt – und mit Abstand die am meisten gewählte Berufslehre in der Schweiz.
2022 soll die Lehre komplett umgekrempelt werden. Folgend einige Auszüge
aus der Reform:
- Aus Fächern werden Handlungskompetenzen. Anstatt Deutsch und
Mathematik steht dann auf dem Stundenplan «Interagieren in einem
vernetzten Arbeitsumfeld» oder «Gestalten von Kunden- und
Lieferantenbeziehungen».
- Neu
ist nur noch eine Fremdsprache obligatorisch*.
Eine weitere kann als Wahlpflichtfach belegt werden. Welche Sprache
obligatorisch ist, soll der jeweilige Kanton festlegen.
- Andere
bisherige Pflichtfächer wie Finanz-
und Rechnungswesen werden neu zur Option.
- Bisher
konnten die KV-Lernenden zwischen drei verschiedenen Profilen wählen: der
Basisbildung (B-Profil), der erweiterten Grundausbildung (E-Profil) und
der Berufsmatura (M-Profil). Das B- und E-Profil sollen gestrichen und mit «flexibleren Möglichkeiten
ersetzt werden».
Schülerinnen und Schüler sollen nach Handlungskompetenzen beurteilt werden. Ein Beispiel des Handlungskompetenzbereich «Gestalten von Kunden- und Lieferantenbeziehungen». bild: zvg
Die Reform treibt die Schweizerische Konferenz der Kaufmännischen
Ausbildungs- und Prüfungsbranchen (SKKAB) voran. Die SKKAB ist verantwortlich
für die Qualität und die Entwicklung der kaufmännischen Grundbildung. Seit 2018
arbeitet die Konferenz an der Reform. Nun liegt der Ball beim Staatssekretariat
für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI).
«Ich habe Angst,
dass die Jugendlichen einen hohen Preis für dieses Experiment bezahlen.»
Fachfrau betriebliche Ausbildung
Bis zum 20. April sammelt das SBFI Rückmeldungen zur Reform. Bis vor
einer Woche zählte das SBFI 20 Stellungnahmen, die Erfahrung zeige aber, dass
die meisten Rückmeldungen «in den letzten Tagen der Anhörung eintreffen», so
eine Sprecherin.
Widerstand gegen die Reform
Die Rückmeldungen sind nicht alle positiv. Im Gegenteil: Es regt sich
Widerstand an vielen Fronten. «Ich habe Angst, dass die Jugendlichen einen
hohen Preis für dieses Experiment bezahlen», so eine Fachfrau der betrieblichen
Ausbildung. Sie will anonym bleiben, weil sie sich vor Konsequenzen fürchtet.
«Die Reform geht nicht auf die Bedürfnisse der Jugendlichen ein. Sie ist
ein Bildungskonzept für Erwachsene. Eine 16-jährige Lernende kann wenig mit
selbstorganisiertem Lernen und Selbstreflexion anfangen», kritisiert die
Fachfrau. «Lernende brauchen Anleitung und Begleitung in der Arbeitswelt.»
Anstatt produktiv zu arbeiten, müssten Lernende und Berufsbildende stundenlang
reflektieren und dokumentieren, fügt die Fachfrau an. «Das ist ein Lehrstellen-Killer.»
Sie ist mit der Kritik nicht alleine. Auch die Lehrpersonenkonferenz
Berufsfachschulen Kanton Zürich (LKB) sind mit dem Bildungsplan
unzufrieden. Die Leistungsziele seien zum Teil sehr allgemein formuliert. «Die
Lernenden sollen recherchieren, reflektieren und kritisieren. Um diesen
Forderungen gerecht zu werden, ist ein fundiertes Grundlagenwissen zwingend»,
schreibt die LKB in einer Stellungnahme, die watson vorliegt. «Im Bildungsplan ist
jedoch nicht ersichtlich, wann und in welchem Umfang Grundlagenwissen
vermittelt wird.»
LKB-Präsidentin Denise Sorba führt aus: «Die KV-Lehre muss reformiert werden und sich weiterentwickeln. Bei der geplanten Reform bleibt aber kein Stein auf dem anderen. Weil die Veränderungen so umfassend sind, sehen viele Berufslehrkräfte in eine ungewisse Zukunft.»
Angst vor fehlendem Sprach- und
Fachwissen
Der Aargauer Regierungsrat Alex Hürzeler (SVP) bläst ins gleiche Horn:
Handlungskompetenzen seien unbestritten wichtig, so der Vorsteher des
Bildungsdepartements. Dass Schulfächer Handlungskompetenzen weichen müssten,
schwäche jedoch den Erwerb von wichtigen Fachkompetenzen, so Hürzeler weiter
und konkretisiert: «Ein Treuhandunternehmen will wissen, ob seine Lernenden
über ausreichende Kenntnisse im Rechnungswesen verfügen. Das ist der Kern einer
kaufmännischen Ausbildung.» Weil aber Fächer wie Finanz- und Rechnungswesen
nicht mehr zwingend belegt werden müssen, ist dieses Wissen nicht gesichert.
«Der Leitsatz ‹kein
Abschluss ohne Anschluss› wird hier über den Haufen geworfen.»
Fachfrau betriebliche Ausbildung
Gefährdete Anschlusslösungen
Auch die Idee, eine zweite Fremdsprache nur als Wahlpflichtfach
anzubieten, sei für die KV-Ausbildung «nicht haltbar», so der Regierungsrat
weiter. Weil die Kantone die Pflichtsprache bestimmen, könnten sich Zürich und
Aargau, die weit weg von der Westschweiz sind, für Englisch entscheiden. Viele
Lernende würden dann gar kein Französisch mehr büffeln. «So würde Französisch
auch an den Sekundarschulen an Bedeutung verlieren», sagte SP-Nationalrätin
Martina Munz gegenüber der «NZZ am Sonntag».
Mit nur einer Sprache als Pflichtfach entsteht ein weiteres Problem: Die
Anschlussfähigkeit ist nicht immer gewährleistet. «Mit nur einer Fremdsprache
und ohne Kenntnisse im Finanz- und Rechnungswesen fehlen den Lernenden die
Voraussetzungen zum erfolgreichen Bestehen einer Berufsmaturität», kritisiert
die LKB in der Stellungnahme an das SBFI. Ohne die Berufsmatur bleibt den
Lernenden der Zugang zu einer Fachhochschule verwehrt. «Der Leitsatz ‹kein
Abschluss ohne Anschluss› wird hier über den Haufen geworfen», kritisiert auch
die Fachfrau der betrieblichen Ausbildung.
Ehrgeiziger Zeithorizont und
intransparente Kommunikation
Nicht nur die Inhalte der Reform, sondern auch die Art und Weise, wie
darüber kommuniziert wird, sorgt hinter den Kulissen für rote Köpfe. Bereits im
Januar 2020 schrieb der «Tages-Anzeiger»,
dass mehreren Zürcher KV-Schulen und deren Lehrkräfte ein Maulkorb verpasst
wurde. Man durfte sich nicht kritisch zu «Kaufleute 2022» äussern. Ein Grund,
warum auch die Fachfrau für betriebliche Ausbildung nicht mit Namen genannt
werden will: «Viele Branchenvertreter und Lehrpersonen fürchten Konsequenzen,
wenn sie sich öffentlich äussern.»
«Uns macht Sorge,
dass die Lehrbetriebe nicht vertieft über KV 2022 informiert wurden.»
KV Zürich
Fragt man bei der Wirtschaftsschule KV Zürich auf offiziellem Weg nach
einem Feedback zur KV-Reform heisst es dort: Man unterstütze das Vorhaben,
könne aber die gestellten Fragen nicht beantworten. Ein Statement sei ohne
Einverständnis «diverser übergeordneter Stellen undenkbar». In einem internen
Dokument, das watson vorliegt, spart die Zürcher Wirtschaftsschule aber nicht
mit Kritik. Man mache sich Sorgen darüber, dass die Lehrbetriebe nach wie vor
«nicht vertieft über KV 2022 informiert wurden» und dass «trotz Corona und
vielen ungeklärten Fragen» nach wie vor am Einführungszeitpunkt August 2022
festgehalten werde.
Auch für den Aargauer Regierungsrat Hürzeler ist die Einführung der
Reform auf das Schuljahr 2022 «zu ambitiös», wie er sagt. «Eine derartig
grundlegende Reform in einem so relevanten Berufsfeld braucht eine deutlich
breitere und vertiefte Diskussion.»
Kritikpunkte sind bekannt
Auf die Kritikpunkte reagiert die Treiberin hinter der Reform, die
Konferenz der kaufmännischen Ausbildungs- und Prüfungsbranchen (SKKAB),
gelassen. Deren Geschäftsleiter Roland Hohl weiss um die umstrittenen Punkte.
«Weil kurz vor Abschluss der Anhörung stehen, befassen sich viele verschiedene
Personen mit unterschiedlichem Wissensstand mit der Reform», so Hohl. Besonders
den Lehrpersonen und Berufsfachschulen stünden grosse Veränderungen bevor. Das
sei mit Befürchtungen verbunden, die man aber ernst nehme. Inzwischen seien
bereits Weiterbildungsmassnahmen und Umsetzungshilfen angelaufen.
Zum Streitpunkt Fremdsprachen sagt Hohl: «Diese Diskussion über die
Fremdsprachen sorgte bereits beim Lehrplan21 für grosse Wellen.» Man habe aber
bereits reagiert und die Verbundpartner der Berufsbildung seien daran, eine
«tragfähige und innovative Lösung» zu finden.
«Die kaufmännische
Berufslehre soll noch konsequenter auf die Berufspraxis ausgerichtet werden.
Das machen wir mit dieser Reform.»
Roland Hohl, Geschäftsleiter SKKAB
Vom Vorwurf des Maulkorbs und der intransparenten Kommunikation will
Hohl nichts wissen. Er räumt aber ein, dass man anfänglich wohl zu defensiv
über die Reform kommuniziert habe, auch weil vieles noch unklar war.
«Unterdessen informieren wir im Hinblick auf die Umsetzung monatlich über den
Stand der Entwicklung.»
Für den SKKAB-Geschäftsleiter bringt «Kaufleute 2022» die längst nötigen
Anpassungen. «Die kaufmännische Berufslehre soll noch konsequenter auf die
Berufspraxis ausgerichtet werden. Das machen wir mit dieser Reform.»
Unterstützung erhält er dabei von der Schweizerischen Bankiervereinigung, die
ebenfalls Berufsleute ausbildet. «Die Reform trägt dazu bei, dass die
Bankgrundbildung attraktiv, modern und qualitativ hochwertig bleibt», schreibt
eine Sprecherin auf Anfrage.
Feedback wird gesammelt
Und auch Michael Kraft, Leiter Bildung des Kaufmännischen Verbandes Schweiz,
der ebenfalls in den Reformprozess involviert war, ist ein «grosser Fan» der
geplanten Umstellungen. Kraft sieht aber auch die Schwierigkeiten bei einem so
grossen Projekt: «Es sind viele verschiedene Akteure betroffen. Von
Lehrpersonen zu den Ausbildenden und vom kleinen Reisebüro bis zur Grossbank.»
Man müsse die zahlreichen Rückmeldungen ernst nehmen und bei Kritik genau
hinhören.
Bis zum 20. April dauert die Anhörung zu «Kaufleute 2022» noch. Danach
sitzen die am Revisionsprojekt beteiligten Partner wieder zusammen und brüten
über den Rückmeldungen. Sind diese gesichtet, wird über die nächsten Schritte
entschieden.
* Im E- und M-Profil belegen die Lernenden Englisch und Französisch. Nur
das B-Profil beschränkt sich auf Englisch.
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