14. Januar 2021

Mythen zu Hausaufgaben

Für Generationen von Schülerinnen und Schülern gehörte die Frage zum Nachhausekommen wie das Amen in die Kirche: «Was häsch als Ufzgi?» Und wer erinnert sich nicht an die unschönen Diskussionen mit Mutter oder Vater, die mitunter folgen konnten.

Hausaufgaben sollen auch Schulaufgaben sein dürfen, NZZ, 14.1. von Lena Schenkel

Eine Schule ohne Hausaufgaben scheint bis heute für viele undenkbar. Schafft eine Gemeinde diese ab, geht zuverlässig ein Aufschrei oder zumindest ein Raunen durch die Medien – ob 2016 im thurgauischen Arbon, 2018 im luzernischen Kriens und im bernischen Köniz, 2019 im obwaldnerischen Lungern oder wie jüngst im zürcherischen Männedorf, wo Erst- bis Drittklässler seit Herbst keine Aufgaben mehr mit nach Hause nehmen.


Dabei gehören Hausaufgaben weder zum Bildungsauftrag der Volksschule, noch sind sie obligatorisch. Ob Hausaufgaben erteilt werden oder nicht, liegt zumindest theoretisch im alleinigen Ermessen des Lehrers oder der Lehrerin. Im Zürcher Volksschulgesetz zum Beispiel finden sie noch nicht einmal Erwähnung.


Im kantonalen Lehrplan ist lediglich festgehalten, dass Schüler allfällige Aufgaben verstehen müssen und sie ohne Hilfe der Eltern lösen können sollten. Ausserdem dürfen keine Hausaufgaben über Feiertage oder Ferien erteilt werden. Der in Zürich oft angegebene Richtwert, wonach auf Primarstufe 10 Minuten pro Tag und Schuljahr anfallen sollten (in der zweiten Klasse also 20, in der dritten 30 und so fort), ist ebenfalls nur ein ungeschriebenes Gesetz.


Vorwurf der «Kuschelpädagogik»

Doch wie so häufig bei Themen an der Schnittstelle zwischen Schule und Elternhaus wird es auch in Sachen Hausaufgaben schnell emotional – zumal es sich um eine pädagogische Tradition handelt, die seit dem 15. Jahrhundert verbürgt ist.


Als die Schwyzer Regierung 1993 die Hausaufgaben abschaffte, war der Protest von Politikerinnen, Lehrern und Eltern derart gross, dass sie ihren Entscheid vier Jahre später revidierte. «Kuschelpädagogik» wurde dem Kanton unter anderem vorgeworfen. Auch als sich der Deutschschweizer Schulleiterverband 2016 für eine Abschaffung aussprach, schlug dies hohe Wellen, und er vermochte nicht die kantonalen Sektionen hinter sich zu scharen.


Über Sinn und Unsinn von Hausaufgaben streiten sich Pädagoginnen und Erziehungswissenschafter, Schulleiter und Lehrerinnen sowie Eltern schon lange und immer noch, wobei die Gräben mitten durch die Gruppen hindurch verlaufen. Die einen betrachten sie als ideales Mittel, um Kindern Selbständigkeit beizubringen, und befürchten schulische Leistungseinbussen, wenn sie entfallen. Andere sehen Hausaufgaben als sinnlose Beschäftigungstherapie oder sogar Schikane, die nur für unnötige Konflikte in den Familien sorgt.


Tagesschulen bringen einen Kulturwandel

In Zürich hat die Diskussion pro und contra Hausaufgaben mit dem Ruf nach mehr Tagesschulen neuen Auftrieb erhalten. Denn wenn die Schule allein schon aufgrund der dort verbrachten Zeit zum zweiten Zuhause wird, ist es sinnvoll, auch die Hausaufgaben in den Schulalltag einzubinden – zumindest auf den unteren Schulstufen. Das kann mit selbständigen Lerneinheiten in der Schulstunde oder über fixe Zeitfenster in der unterrichtsfreien Zeit geschehen. Schon jetzt bieten die meisten Schulen sogenannte Aufgabenhilfe-Stunden an.


Der Kulturwandel durch die Tagesschulen dürfte also dazu führen, dass die Haus- zu Schulaufgaben werden. Zeit, mit ein paar Mythen aufzuräumen:

 

Die Kinder lernen nicht mehr selbständig zu arbeiten

Die Vorstellung, dass Kinder ohne Hausaufgaben den Unterrichtsstoff nicht mehr eigenverantwortlich vertiefen oder repetieren, geht von einer Schule aus, in welcher der Lehrer zumeist an der Wandtafel steht und mit der ganzen Klasse den Stoff durchpaukt. Diese Zeiten sind längst vorbei. Neben dem klassischen Frontalunterricht hat eine Vielzahl von Unterrichtsformen im Klassenzimmer Einzug gehalten. Ziel der modernen Schule ist ein bestmöglich auf das einzelne Kind zugeschnittener Unterricht, der es mit verschiedenen Aufgabenformen fordert und fördert.


Das selbständige Lernen gehört selbstverständlich dazu – wobei Hausaufgaben nur ein mögliches Gefäss dafür sind. Natürlich ergibt es aus lerntheoretischer Sicht wenig Sinn, Vokabeln in der ganzen Klasse zu repetieren. Doch dafür lassen sich Zeitfenster im Unterricht finden. Vor allem Erst- bis Drittklässler haben sehr viele Lektionen bei ihrer Klassenlehrperson. Das gibt viel Gestaltungsspielraum für fächerübergreifendes Arbeiten. Etwa mit Atelierunterricht, bei dem die Kinder eigenständig an individuellen Wochenzielen arbeiten.


Hausaufgaben sollten eigenständig erledigt werden

Wenn das Ziel von Hausaufgaben das selbständige Arbeiten ist, sollten sie idealerweise auch entsprechend erledigt werden – also ohne Mutter oder Vater, die mehr oder weniger intervenierend über die Schulter schauen. Bloss hat dies mit der Realität wenig gemein. Schulkinder aus bildungsnahen Haushalten werden eher dazu angehalten, die Hausaufgaben zu erledigen, und bei Fragen unterstützt.


Kinder aus benachteiligten Familien wiederum haben vielleicht noch nicht einmal die nötige Ruhe oder einen passenden Raum dafür. Auch im Corona-Lockdown hat sich gezeigt, dass vor allem diejenigen Kinder im Fernunterricht leistungsmässig zurückfielen, deren Eltern nicht die Zeit oder die Ressourcen hatten, sie zu unterstützen. Das gilt auch für die Hausaufgaben. Sie in den Schulalltag zu integrieren, ist deshalb auch im Sinne einer grösseren Bildungsgerechtigkeit.


Die Kinder verlernen, sich selbst zu motivieren

Selbstkontrolle ist nur begrenzt lernbar, indem man Hausaufgaben aufgibt. Dass im Lockdown manche Kinder mit dem selbständigen Arbeiten im Fernunterricht besser zurechtkamen als andere, dürfte neben den Bedingungen im Elternhaus auch mit ihrer Persönlichkeitsstruktur zusammenhängen.


Wenn Haus- zu Schulaufgaben werden, besteht auf lange Sicht allerdings tatsächlich die Gefahr eines Dauersupports. Spätestens ab der Sekundarstufe ist es sinnvoll, Hausaufgaben aufzugeben, damit die Jugendlichen lernen, sich ihre Zeit ausserhalb von geregelten Strukturen selbst einzuteilen und sich aus eigenem Antrieb zu motivieren. Jüngere Kinder sind jedoch von sich aus lernbegierig und müssen nicht speziell dazu gedrillt werden. Vielmehr sollte ihnen der Spass am Lernen erhalten bleiben. Wenn das selbständige Arbeiten im Unterricht genügend oft geübt wurde, sollte der Übergang kein Problem sein.


Kinder lernen weniger, wenn sie daheim nur noch spielen

Spielen ist auch Lernen. In jungen Jahren ist das freie Spiel sogar zentral für die kindliche Entwicklung. Kinder trainieren damit ihre motorischen Fähigkeiten und ihr räumliches Denken. Spielen sie allein, lernen sie, sich selbständig zu beschäftigen. Spielen sie mit anderen, profitieren sie auf der sozialen und auf der sprachlichen Ebene. Kinder lernen beim Spielen, zu führen oder geführt zu werden, zu gewinnen und zu verlieren. Kurzum: Das freie Spiel fördert die sogenannt überfachlichen Kompetenzen.


Weil Kinder heute früher eingeschult werden, verkürzt sich diese wichtige Phase für viele von ihnen, denn im schulisch und familiär durchgetakteten Alltag kommt es häufig zu kurz. Dass es daheim keine Hausaufgaben mehr zu erledigen gibt, heisst freilich nicht, dass es verboten ist, sich auch dort mit schulnahen Aufgaben zu beschäftigen. Diejenigen Kinder, die Freude daran haben, können und sollen zu Hause immer noch freiwillig lesen, das Einmaleins üben oder ein chemisches Experiment wagen.


Ohne Hausaufgaben kommt es zu Leistungsdefiziten

Wissenschaftliche Forschungsergebnisse zur Wirksamkeit von Hausaufgaben sind nur begrenzt aufschlussreich. Zum einen lassen sich internationale Studien aufgrund der unterschiedlichen Schulsysteme nur schwer auf hiesige Verhältnisse übertragen. So haben Hausaufgaben etwa in Deutschland, wo in der Regel um 13 Uhr Schulschluss ist, einen anderen Stellenwert als an Schweizer Schulen mit ihren dichten Stundenplänen. Gesichert scheinen aus wissenschaftlicher Sicht aber folgende vier Erkenntnisse: Zunächst sind Hausaufgaben nur einer von vielen Faktoren für den Lernerfolg. Sie belegen in einer Studie des neuseeländischen Bildungsforschers John Hattie Rang 88 von 138 und haben somit einen eher geringen Einfluss.


Daraus zu schliessen, dass Hausaufgaben gar nichts bringen, wäre aber falsch. Die zweite Erkenntnis lautet nämlich, dass sie auf höheren Schulstufen und bei einer guten Qualität durchaus höhere Effekte erzielen können. Drittens ist die Hilfe der Eltern entscheidend. Sie kann indes kontraproduktiv sein, wenn die Schulkinder sich dadurch unter Leistungsdruck gesetzt fühlen. Viertens schliesslich ist der Lerneffekt von Hausaufgaben abhängig von der Persönlichkeit beziehungsweise Arbeitsweise der Schüler: Je gewissenhafter, desto effektiver. Insgesamt lässt sich aber durchaus argumentieren, dass sich Hausaufgaben angesichts des eher geringen Ertrags zumindest auf den unteren Schulstufen nicht lohnen.


Hausaufgaben erhöhen die Übungszeit

Über die neun Jahre der Volksschule gesehen, fehlten ohne Hausaufgaben an die 700 Stunden Lernzeit, rechnen deren Verfechter vor. Abgesehen davon, dass die maximal 30 Minuten am Tag auf der Unterstufe zeitmässig kaum ins Gewicht fallen, ist nicht die Dauer, sondern die Qualität der Aufgaben laut wissenschaftlichen Erkenntnissen entscheidend. «Minütele» ist auch bei den Hausaufgaben die falsche Strategie, und man braucht im Falle einer Abschaffung auch nicht die Lektionenzahl zu erhöhen. Zudem geben manche Lehrerinnen viele, andere fast keine Hausaufgaben auf.



Eltern verlieren den Einblick in den Schulalltag

Es gibt für Mütter und Väter zahlreiche Alternativen, sich über das schulische Geschehen zu informieren, etwa an Elternabenden oder Besuchstagen, aber auch mittels regelmässiger Standortgespräche mit dem Lehrer der Tochter. Daneben können Wochenjournale oder ähnliche Gefässe den Eltern einen Überblick zum Lernstand verschaffen. Ohnehin hängen wohl die wenigsten an den Hausaufgaben an sich. In vielen Familien sorgen sie für Streit, Frust und Dauerstress. Laut Untersuchungen ist das Entfallen der Hausaufgaben für viele Eltern sogar ein Grund, ihre Söhne und Töchter auf eine Tagesschule zu schicken.


Seit es Hausaufgaben gibt, wird wohl über ihren Nutzen diskutiert. Es ist deshalb zu begrüssen, dass die Tagesschule die Diskussion neu lanciert. Denn es gibt längst gute und bewährte Alternativen, kleine Kinder zum selbständigen Lernen zu motivieren. Ab einem bestimmten Alter sollten sie jedoch mit Hausaufgaben auf den Ernst des Lebens vorbereitet werden. Schliesslich ist genau das der Auftrag der Volksschule: sie fit fürs Arbeitsleben zu machen.


Als Lehrling oder Studentin müssen sie, bildlich gesprochen, ohne Schwimmhilfen auskommen. Die Berufsschule findet nur noch an einem Wochentag statt. Es gilt, innert Wochenfrist Aufträge abzuarbeiten und den Stoff eigenständig zu vertiefen. An der Universität hält einem niemand mehr die Hand, wenn es ums Pauken geht, und wer fristgerecht Seminararbeiten einreichen will, muss sich organisieren können.


Spätestens ab der Sekundarstufe ergibt es deshalb Sinn, Schülerinnen und Schülern Hausaufgaben im klassischen und wörtlichen Sinn mit nach Hause zu geben. Sie lernen daraus aber nur, wenn auch ihre Eltern es schaffen, sie tatsächlich selbständig arbeiten zu lassen, und nicht mit der Trillerpfeife und Rettungswesten am Beckenrand stehen.

 

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