14. Januar 2021

Auslaufmodell Hausaufgaben

Nach Hause kommen und nichts mehr für die Schule tun müssen: Wovon manche ihre gesamte Bildungskarriere lang träumen, gehört für Erst- bis Drittklässler in Männedorf am Zürichsee seit kurzem zum Alltag. Sie haben seit Oktober keine obligatorischen Hausaufgaben mehr.

Warum in Zürich das Ende der Hausaufgaben naht, NZZ, 14.1. von Lena Schenkel

So könnten sie ihre Freizeit nach einem langen Lerntag sinnvoll nutzen, heisst es dazu in der an die Eltern abgegebenen Broschüre. Anstatt vor dem Abendessen noch Rechenaufgaben lösen oder Englischvokabeln büffeln zu müssen, können sie mit ihren Geschwistern oder Nachbarskindern spielen, mit dem Vater Guetzli backen oder unbeschwert ins Fussballtraining.

Moria Zürrer leitet die Unterstufe der Schule Männedorf. Sie koordiniert das Pilotprojekt, das vom Lehrerteam angestossen worden ist. «Wir möchten, dass die Kinder ihre Freude am Lernen und ihre Lernmotivation möglichst durchgängig erhalten», erläutert sie einen der Hintergründe.

Schüler haben mehr, nicht weniger Eigenverantwortung

Die Sechs- bis Achtjährigen verbrächten schon jetzt sehr viel Zeit an der Schule. «Sie haben sich einen Spiel- und Freiraum in ihrer Kindheit verdient», sagt Zürrer – zumal Kinder heute früher eingeschult würden. Schüler seien in diesem Alter in einer heiklen Lernphase. Übe man zu viel Druck auf sie aus, könne ihnen die Schule schnell einmal verleiden.

Dass die Erst- bis Drittklässler keine obligatorischen Hausaufgaben mehr haben, bedeutet freilich nicht, dass sie nicht mehr selbständig lernen. Die individuelle Lernzeit ist an der Unterstufe Männedorf ein fester Bestandteil des Unterrichts.

«Während das eine Kind also zum Beispiel das Lesen trainiert, üben zwei andere die Vierer- und die Achterreihe. Einige ihrer Klassenkameradinnen widmen sich der Gestaltung eines Plakats, und eine andere Kindergruppe schreibt an ihrer Geschichte weiter», illustriert die Klassenlehrerin Dorothea Fischer Del Prete eine solche Unterrichtssequenz.

In welchem Fach und auf welchem Niveau sie ihre Kenntnisse vertiefen, entscheiden die Schüler in Absprache mit der Lehrerin weitgehend selbst. Für die einzelnen Kinder und Klassen gilt es jedoch, Tages- und Wochenpläne abzuarbeiten. Die Lehrerin beobachtet und unterstützt bei Fragen, oder sie spricht beispielsweise eine Schülerin darauf an, wenn sich diese immer unter- oder überschätzt.

Zu Hause haben nicht alle dieselben Bedingungen

Die Schulleiterin Zürrer sagt dazu: «Das ist für die Lehrerinnen natürlich anspruchsvoller, als den Schülern um 16 Uhr einfach noch ein ‹Ufzgi›-Blatt in die Hand zu drücken.» Sie ist überzeugt davon, dass die Kinder so nicht nur mehr Spass am Lernen haben, sondern Schritt für Schritt das selbständige Arbeiten erlernen – also zu planen, die Zeit einzuteilen und ihr Können einzuschätzen. «Dadurch denken sie auch früh über ihr Lernen nach und übernehmen dafür Verantwortung», sagt Zürrer.

Zudem arbeiteten in der Schule alle unter ähnlichen Bedingungen, während zu Hause die eine Schülerin beim Lösen der Hausaufgaben vielleicht «überbegleitet» werde und die andere beim Lernen komplett unbeaufsichtigt bleibe. Wieder andere hätten vielleicht kein eigenes Zimmer oder es laufe andauernd der Fernseher. Wenn alle dieselben Chancen hätten, sagt Zürrer, sei das auch im Sinne der Bildungsgerechtigkeit.

Hausaufgaben sind nicht obligatorisch

Die Schule Männedorf ist mitnichten die erste im Kanton, welche die Hausaufgaben im klassischen Sinne zumindest teilweise abschafft. Wie viele der 157 Zürcher Primarschulgemeinden die Frage ähnlich handhaben, ist allerdings nicht bekannt. Einen Überblick haben weder das Volksschulamt noch Lehrer- oder Schulleiterverbände.

Grundsätzlich hängt der Entscheid für oder wider Hausaufgaben von der Lehrperson ab und fällt in deren Methodenfreiheit. Ein einheitliches Vorgehen nach Stufe oder Schule sei wünschenswert, aber nicht vorgeschrieben, heisst es beim Zürcher Lehrerverband. Das Volksschulamt hält auf Anfrage fest, dass übergeordnete Entscheide wie jener, auf einer bestimmten Stufe auf Hausaufgaben zu verzichten, mit der Schulleitung und allenfalls der Schulpflege abgesprochen werden müssten.

Es deutet jedoch einiges darauf hin, dass Hausaufgaben in Zürich mittel- bis langfristig zu Schulaufgaben werden, die nicht länger am Kinderzimmerpult oder am Küchentisch erledigt werden. Schon jetzt bieten viele Schulen betreute Aufgabenstunden an: Schülerinnen und Schüler erhalten über Mittag oder nach Schulschluss die Möglichkeit, ihre «Ufzgi» zu erledigen. Eine Lehrerin oder ein Betreuer sorgt für die nötige Ruhe und Ordnung und unterstützt sie allenfalls bei Fragen oder Unklarheiten.

Tagesschule als Treiber von Schulaufgaben

Was ursprünglich vor allem als freiwilliges Angebot für Schulkinder aus bildungsfernen Haushalten gedacht war, könnte mit der zunehmenden Zahl an Tagesschulen für alle zur Norm werden. In der Stadt Zürich ist die sogenannte Aufgabenhilfe jedenfalls ein fixer, wenn auch freiwilliger Bestandteil des Tagesschulmodells, das derzeit an 23 Schulen erprobt wird und dereinst flächendeckend eingeführt werden soll. Das Stadtparlament hatte dafür sogar eigens das Projektbudget erhöht. Weiter hat es beschlossen, die Mittel für Aufgabenstunden auch für Regelschulen ab diesem Schuljahr 2020/21 zu erhöhen. Die Stadt Zürich erarbeitet derzeit in Zusammenarbeit mit Forschenden der Pädagogischen Hochschule ein Positionspapier zum Thema.

Tagesschulen verzahnen Unterricht mit Betreuung und sollen Eltern dabei helfen, Familien- und Berufsleben zu vereinbaren. Da ist es organisatorisch naheliegend, die Hausaufgaben in irgendeiner Form in die schulische Tagesstruktur einzubinden – ob mit Zeitfenstern für eine Aufgabenhilfe wie in der Stadt Zürich oder einer individuellen Lernzeit im Unterricht wie in Männedorf. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die klassischen Hausaufgaben in diesem Modell ganz entfallen.

Die Tagesschule könnte also schleichend und quasi durch die Hintertüre das Ende eines alten Streits für und wider Hausaufgaben einläuten. Von Bildungswissenschaftern werden sie wahlweise als überholtes pädagogisches Ritual oder aber als wirksame Lernform bezeichnet; Studienergebnisse stützen sowohl die eine als auch die andere Aussage. Doch nicht nur unter Lehrern, Schulleiterinnen und Bildungsexperten ist eine Abschaffung umstritten, sondern auch unter Eltern.

Die Eltern müssen mit einbezogen werden

Das zeigt auch eine Umfrage der Kantonalen Elternmitwirkungsorganisation, welche im November durchgeführt worden ist. Von 2531 befragten Zürcher Eltern erachteten zwei Drittel Hausaufgaben als «wichtig» (41 Prozent) oder «sehr wichtig» (19 Prozent). Ein Viertel der Befragten bezeichnete sie dagegen als «wenig wichtig», 8 Prozent als «gar nicht wichtig». In den Hunderten dazu abgegebenen Kommentaren wurde wiederum vor allem Kritik an den Hausaufgaben laut. Die Kinder seien nach den schon langen Schultagen zu müde dafür, lautete eine oft geteilte Meinung.

In Männedorf sorgte das Pilotprojekt zu Beginn ebenfalls für gemischte Gefühle, heisst es beim Elternrat auf Anfrage. Manche Eltern empfänden die Abschaffung als entlastend, da Hausaufgaben in vielen Familien für Stress und Frust sorgten. Sei es, weil die Kinder deren Erledigung aufschöben oder verweigerten und die Eltern sich verpflichtet fühlten, ihnen hinterherzurennen. Sei es, weil sich die Buben und Mädchen durch die Beaufsichtigung und vermeintliche Hilfe ihrer Mütter und Väter schikaniert fühlten.

Es gebe aber auch Eltern, die sich um den schulischen Erfolg ihrer Kinder sorgten. Sie befürchten, dass ihre Kinder weniger Schulstoff lernen und ohne Hausaufgaben im Bildungswettbewerb schlechtere Karten hätten. Andere bemängelten, dass sie den Einblick in den Schulalltag und die Kontrolle über den Lernfortschritt ihrer Kinder verlören.

An der Unterstufe Männedorf gibt es deshalb neu einen «Zeigetag»: Die Primarschüler bringen zum Beispiel eine gelungene Zeichnung oder Mathe-Aufgaben nach Hause und berichten den Eltern von einem Lernerlebnis. Zudem legen Lehrer mit Schülerinnen und Eltern in Fördergesprächen gemeinsam Lern- und Entwicklungsziele fest.

Projekt wird wissenschaftlich ausgewertet

Hinsichtlich der zu erreichenden Lernziele strebe die Schule Männedorf eine «maximale Transparenz» gegenüber den Eltern an, sagen die Projektverantwortlichen. Was das befürchtete schulische Defizit betrifft, verweisen sie auf den bekannten neuseeländischen Bildungswissenschafter John Hattie. Dessen Forschungsergebnisse hätten gezeigt, dass gerade bei jüngeren Kindern der Effekt von den Hausaufgaben auf den Lernerfolg unbedeutend sei. Deshalb hat die Schule Männedorf vorerst nur die Unterstufe von den obligatorischen Hausaufgaben befreit. Eine Ende Schuljahr geplante Evaluation werde zeigen, in welche Richtung sich das Pilotprojekt bewegen werde, sagt die Schulleiterin Zürrer.

 

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