26. November 2020

Wer in die Tastatur haut, lernt nicht weniger

Wer den Verlust der Zukunft im Allgemeinen und den der Jugend im Besonderen beklagen möchte, findet an Schulen und Universitäten besten Treibstoff für seine Tiraden. Schüler und Studierende verbringen immer mehr Zeit vor Bildschirmen, eine Entwicklung, die durch die Corona Pandemie verstärkt wird und weit verbreitete Elternängste bedient: Die Vorbehalte gegen alles Digitale sind mächtig, jede passende Nachricht wird gierig aufgesogen, verbreitet und ist kaum mehr aus der Welt zu schaffen, selbst wenn sie sich als unwahr entpuppt. 

Handschriftstudie hat weder Hand noch Fuss, Basler Zeitung, 26.11. von Sebastian Herrmann

Im Jahr 2014 publizierten die Psychologen Pam Mueller von der Princeton University und Daniel Oppenheimer von der University of California in Los Angeles eine Studie, die seither ein Eigenleben führt. Im Fachjournal «Psychological Science» berichteten die Wissenschaftler von einem vermeintlichen Nachteil des Laptops gegenüber der guten alten Handschrift. Per Hand gefertigte Notizen seien digitalen Mitschriften insofern überlegen, so legten Experimente mit 67 Probanden nahe, als sie Lerninhalte tiefer verfestigten. Wer also zum Beispiel in einer Vorlesung auf einem Laptop mitschreibt, würde demnach weniger lernen als jene Studenten, die mit einem Stift auf Papier Notizen machen. 

«Deutlich mehr Evidenz» 

«Der Stift ist mächtiger als die Tastatur», betitelten Mueller und Oppenheimer ihre Studie. Das klingt schmissig, und die Aussage verfügt über hohe Alltagsplausibilität – trifft aber wohl nicht zu. Gerade hat ein grosses Team von Wissenschaftlern um die Psychologin Heather Urry von der Tufts University eine Arbeit publiziert, die den ursprünglichen Befund erschüttert. In einer Wiederholung der Experimente von Mueller und Oppenheimer fanden sich keine Belege dafür, dass handschriftliche Notizen im Vergleich zu digitalen Mitschriften zu überlegenen Lernleistungen verhelfen. 

Zudem werteten die Psychologen acht weitere, sehr ähnliche Studien für eine Mini-Meta-Analyse aus, die ebenfalls keinen Hinweis für die Überlegenheit handschriftlicher Notizen erbrachte. Die ursprünglichen Versuche wurden bereits mehrmals weitgehend erfolglos wiederholt. «Schreibt den Laptop noch nicht ab», heisst es in der Studie des Teams um Urry, die bald ebenfalls in «Psychological Science» erscheinen soll. 

«Die neue Studie liefert deutlich mehr Evidenz als die Originalstudie», sagt der Medienpsychologe Malte Elson von der Ruhr-Universität Bochum. Die neue Arbeit baut zum Beispiel auf einer grösseren Stichprobe auf als die von Mueller und Oppenheimer. Zudem dränge sich die Frage auf, ob das Ergebnis überhaupt theoretisch plausibel sei, sagt Elson: «Warum soll eine Art magischer Effekt eintreten, wenn man mit der Hand schreibt, statt mit der Hand zu tippen?» 

Die Mutmassung lautete bisher, dass die Schreibgeschwindigkeit die entscheidende Rolle spiele. Mit dem Laptop notierten die Probanden sowohl in der Originalstudie als auch in der Replikation mehr Wörter in der gleichen Zeit, und sie blieben in ihren Formulierungen näher am Originalwortlaut. Dass die nicht tippenden Teilnehmer der ursprünglichen Studie bei einem späteren Wissenstest vermeintlich besser abschnitten, liege daran, dass sie mit der Hand etwas langsamer geschrieben hätten. 

Allein schon deswegen seien sie dazu gezwungen gewesen, die Inhalte zu verarbeiten, indem sie diese abkürzten oder umformulierten. Per Hand zu schreiben, zwinge zu einer kleinen Transferleistung, so die Idee. Klingt gut, scheint aber nicht so zu sein. «Das ist vor allem eine sehr schöne Geschichte, die Kritiker der Digitalisierung begeistert aufgenommen haben», sagt Elson. «Dabei hat schon die Originalstudie nicht die starke Evidenz geliefert, als die sie oft dargestellt wurde.» Die Öffentlichkeit stürzte sich jedenfalls begeistert auf die Arbeit von Mueller und Oppenheimer. Bis zum Sommer 2020 wurde die Studie mehr als tausendmal zitiert und zählt zu den meistbeachteten Publikationen der vergangenen Jahre. 

Ablenkungsmöglichkeiten 

«Es gibt gute Gründe, den Einsatz von Bildschirmen im Lernkontext zu kritisieren», sagt Elson, «aber wenn man wissenschaftliche Studien heranzieht, dann bitte richtig.» Für den Medienpsychologen spielt zum Beispiel in der gegenwärtigen Pandemiesituation ein anderer Aspekt eine wesentliche Rolle: «Die meisten Jugendlichen haben schlicht und ergreifend keine Übung darin, an einem Gerät zu lernen, das so viele Ablenkungsmöglichkeiten bietet wie ein Computer.» Und das ist ein Problem, das sich auch ohne Studien sofort begreifen lässt: Wer am Rechner seine Zeit vertrödelt und sich im Internet mit irgendwelchem Kram ablenkt, statt Dozenten oder Lehrern zuzuhören, wird gewiss weniger lernen, als wenn er konzentriert bei der Sache ist. Anders gesagt: Wer sich gar keine Notizen macht, merkt sich sehr wahrscheinlich weniger.

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