9. November 2020

Schulischer Handlungsbedarf

Der ehemalige AZ-Chefredaktor Hans Fahrländer hat am 23.Oktober fünf Thesen zu unserem Bildungssystem formuliert. Ich stimme diesen grosso modo zu, möchte sie aber ergänzen. Als einer, der zeitlebens im Bildungssystem Schweiz, zuletzt im Aargau, tätig war, sehe ich folgenden Handlungsbedarf, der sich aus den Thesen ergibt:

Wo liegt der Handlungsbedarf im Bildungswesen? Aargauer Zeitung, 5.11. von Martin Straumann

Digitale Medien:
Besonders für den Kindergarten und die ersten beiden Klassen der Primarschule mindert der Einsatz digitaler Medien das direkte Erfahrungslernen in der Natur. Auf dem Bildschirm sind in der Nahaufnahme alle Bäume und Tiere gleich gross. Kinder, die Mäuse nur aus den Medien kennen, schätzen die Tiere in einer Befragung auf 1,20 Metern lang und etwa 50Kilo schwer. Oder: Wer das Dazugeben, Aufschichten und das Wegnehmen vom Haufen nicht durch konkretes Spielen selber erlebt hat, versteht die Addition und Subtraktion später nicht. Handlungsbedarf: Der Medieneinsatz auf dieser Stufe sollte eher beschränkt als erweitert werden.

Pisa Studien:
Die international durchgeführten Befragungen weisen für die Schweiz eine Leseschwäche in den unteren sozialen Schichten nach. Die Schulen haben mit einer systematischen Leseförderung reagiert. Das Problem liegt jedoch tiefer: Keine oder nur schwache Deutschkenntnisse bei Eltern mit Migrationshintergrund, keine Kenntnis des schweizerischen Bildungssystems mit der dualen Lehre und kulturell bedingte Abwertung der Bildungsaspirationen für Mädchen führen dazu, dass das Potenzial der Kinder aus sozial niedrigen Familien mit Migrationshintergrund nicht ausgeschöpft wird. Sprachkurse nach dem Muster der Mutter-Kind-Kurse (Muki-Kurse) sind freiwillig. Alle Eltern mit Migrationshintergrund sollten die schulischen Bildungsprozesse aber verstehen, mit Lehrpersonen über das Lernen ihres Kindes sprechen können und dem Kind eine angemessene Lernumgebung und Sprachförderung zu Hause anbieten können. Handlungsbedarf: Durchsetzung von obligatorischen Alphabetisierungs- und Sprachkursen im Schulgesetz für alle Eltern, die nicht genügend Deutsch verstehen und nicht genügend Deutsch lesen können.

Das Bolognasystem an den Hochschulen:
Das Problem dabei ist die Verstückelung der einzelnen Studienangebote bis zu Kleinstmodulen von 60 Arbeitsstunden. Dies ist verbunden mit einer unsäglichen Papierli-Wirtschaft für alle. Von einer Professorin wird heute erwartet, dass sie gegen 25 Prozent ihrer (lohnmässig teuren) Arbeitszeit für die Administration der Veranstaltungen in ihrem Team verwenden muss. Da müsste eine externe betriebswirtschaftliche Evaluation für mehr Effizienz und weniger Bürokratie sorgen. Dasselbe gilt für die Hierarchien an den Fachhochschulen. Der Zusammenschluss von regionalen Teilschulen hat bis zu fünf Hierarchiestufen geführt, zwei davon im Vollamt mit reiner Managementfunktion. Handlungsbedarf: Überprüfung der Organisationsstruktur der Fachhochschulen und der Studienpläne mit Lerneinheiten von mindestens sechs ECTS-Punkten.

Integrative Bildung:
Sie ist im Behindertengleichstellungsgesetz vorgegeben. Bei richtiger Umsetzung ist sie wissenschaftlich gesehen ein Erfolg, weil lernbehinderte Kinder stärker auf die Klassennorm ausgerichtet sind. Wenn aber in einer integrierten Klasse laufend lernbehinderte Schülerinnen und Schüler herausgenommen und zu Logopädinnen und Heilpädagoginnen zum Einzelunterricht geschickt werden, bringt die Integration in eine Stammklasse mehr Nachteile als Vorteile, weil es ein dauerndes Hin und Her gibt mit Kindern, die gerade einen Teil des Klassenunterrichts verpassen. Handlungsbedarf: Die Ressourcen für die Schule müssen so weit erhöht werden, dass die Heilpädagoginnen zumindest teilweise in der ganzen Klasse präsent sind und lernbehinderte Schülerinnen und Schüler vor Ort direkt unterstützen können.

Chancengleichheit:
Die Verbesserung der Chancengleichheit, wie in den Thesen 1 bis 4 gefordert, ist zwar aufwendig, schöpft jedoch das Potenzial der Schülerinnen und Schüler besser aus, was danach wiederum der Gesellschaft und der Wirtschaft zugutekommt. Arbeitslose, im zweiten Arbeitsmarkt der Behinderten eingeschlossene oder von ihrem Potenzial nicht ausreichend gebildete Erwachsene kosten den Steuerzahler ein Mehrfaches als der oben geschilderte finanzielle Mehraufwand für die Schulen.

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