Der ehemalige AZ-Chefredaktor Hans Fahrländer hat am 23.Oktober fünf Thesen zu unserem Bildungssystem formuliert. Ich stimme diesen grosso modo zu, möchte sie aber ergänzen. Als einer, der zeitlebens im Bildungssystem Schweiz, zuletzt im Aargau, tätig war, sehe ich folgenden Handlungsbedarf, der sich aus den Thesen ergibt:
Wo liegt der Handlungsbedarf im Bildungswesen? Aargauer Zeitung, 5.11. von Martin Straumann
Digitale Medien:
Besonders für den
Kindergarten und die ersten beiden Klassen der Primarschule mindert der Einsatz
digitaler Medien das direkte Erfahrungslernen in der Natur. Auf dem Bildschirm
sind in der Nahaufnahme alle Bäume und Tiere gleich gross. Kinder, die Mäuse
nur aus den Medien kennen, schätzen die Tiere in einer Befragung auf 1,20
Metern lang und etwa 50Kilo schwer. Oder: Wer das Dazugeben, Aufschichten und
das Wegnehmen vom Haufen nicht durch konkretes Spielen selber erlebt hat,
versteht die Addition und Subtraktion später nicht. Handlungsbedarf: Der
Medieneinsatz auf dieser Stufe sollte eher beschränkt als erweitert werden.
Pisa Studien:
Die international
durchgeführten Befragungen weisen für die Schweiz eine Leseschwäche in den
unteren sozialen Schichten nach. Die Schulen haben mit einer systematischen
Leseförderung reagiert. Das Problem liegt jedoch tiefer: Keine oder nur
schwache Deutschkenntnisse bei Eltern mit Migrationshintergrund, keine Kenntnis
des schweizerischen Bildungssystems mit der dualen Lehre und kulturell bedingte
Abwertung der Bildungsaspirationen für Mädchen führen dazu, dass das Potenzial
der Kinder aus sozial niedrigen Familien mit Migrationshintergrund nicht
ausgeschöpft wird. Sprachkurse nach dem Muster der Mutter-Kind-Kurse
(Muki-Kurse) sind freiwillig. Alle Eltern mit Migrationshintergrund sollten die
schulischen Bildungsprozesse aber verstehen, mit Lehrpersonen über das Lernen
ihres Kindes sprechen können und dem Kind eine angemessene Lernumgebung und
Sprachförderung zu Hause anbieten können. Handlungsbedarf: Durchsetzung von
obligatorischen Alphabetisierungs- und Sprachkursen im Schulgesetz für alle
Eltern, die nicht genügend Deutsch verstehen und nicht genügend Deutsch lesen
können.
Das Bolognasystem an den Hochschulen:
Das Problem dabei ist
die Verstückelung der einzelnen Studienangebote bis zu Kleinstmodulen von 60
Arbeitsstunden. Dies ist verbunden mit einer unsäglichen Papierli-Wirtschaft
für alle. Von einer Professorin wird heute erwartet, dass sie gegen 25 Prozent
ihrer (lohnmässig teuren) Arbeitszeit für die Administration der
Veranstaltungen in ihrem Team verwenden muss. Da müsste eine externe
betriebswirtschaftliche Evaluation für mehr Effizienz und weniger Bürokratie
sorgen. Dasselbe gilt für die Hierarchien an den Fachhochschulen. Der
Zusammenschluss von regionalen Teilschulen hat bis zu fünf Hierarchiestufen
geführt, zwei davon im Vollamt mit reiner Managementfunktion. Handlungsbedarf:
Überprüfung der Organisationsstruktur der Fachhochschulen und der Studienpläne
mit Lerneinheiten von mindestens sechs ECTS-Punkten.
Integrative Bildung:
Sie ist im
Behindertengleichstellungsgesetz vorgegeben. Bei richtiger Umsetzung ist sie
wissenschaftlich gesehen ein Erfolg, weil lernbehinderte Kinder stärker auf die
Klassennorm ausgerichtet sind. Wenn aber in einer integrierten Klasse laufend
lernbehinderte Schülerinnen und Schüler herausgenommen und zu Logopädinnen und
Heilpädagoginnen zum Einzelunterricht geschickt werden, bringt die Integration
in eine Stammklasse mehr Nachteile als Vorteile, weil es ein dauerndes Hin und
Her gibt mit Kindern, die gerade einen Teil des Klassenunterrichts verpassen.
Handlungsbedarf: Die Ressourcen für die Schule müssen so weit erhöht werden,
dass die Heilpädagoginnen zumindest teilweise in der ganzen Klasse präsent sind
und lernbehinderte Schülerinnen und Schüler vor Ort direkt unterstützen können.
Chancengleichheit:
Die Verbesserung der
Chancengleichheit, wie in den Thesen 1 bis 4 gefordert, ist zwar aufwendig,
schöpft jedoch das Potenzial der Schülerinnen und Schüler besser aus, was
danach wiederum der Gesellschaft und der Wirtschaft zugutekommt. Arbeitslose,
im zweiten Arbeitsmarkt der Behinderten eingeschlossene oder von ihrem
Potenzial nicht ausreichend gebildete Erwachsene kosten den Steuerzahler ein
Mehrfaches als der oben geschilderte finanzielle Mehraufwand für die Schulen.
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