Die Fallzahlen steigen, die Nervosität auch. Prompt ist wieder von Schulschliessungen die Rede. Der Epidemiologe Marcel Tanner, der auch Mitglied der Covid-Task-Force ist, empfahl am Donnerstagmorgen in einem Interview mit dem Schweizer Radio SRF, von der Mittelschule an aufwärts wieder verstärkt auf Online-Unterricht zu setzen.
Lasst die Schulen offen, NZZ, 16.10. von Ruth Fulterer
Selbst
wenn dies aus epidemiologischer Sicht sinnvoll sein mag, eine Rückkehr zum
Homeschooling hätte für die Betroffenen schwere Konsequenzen. Kinder und ihre
Eltern haben in den vergangenen Monaten schon über die Massen an der Krise
gelitten, während sich Schulen nicht als Corona-Hotspots erwiesen haben.
Kinder
lernen zu Hause weniger
Im
Lockdown hat sich nämlich gezeigt: In der Schule lernen Kinder besser. Zu Hause
Lernvideos anschauen und Arbeitsblätter ausfüllen ersetzt den Präsenzunterricht
nicht. Das gilt ganz besonders für Kinder, die sich schwer damit tun, sich zu
konzentrieren. Wenn den Eltern die Zeit oder das Wissen fehlt, um ihre Kinder
zu unterstützen, fallen diese zurück.
Bei guten
Schülern mag es kein Drama sein, wenn sie einige Monate lang weniger lernen.
Doch für manche Kinder geht es darum, bei Grundkompetenzen nicht den Anschluss
zu verlieren und dadurch dauerhaft benachteiligt zu werden. Schulschliessungen
treffen jene am härtesten, die es sowieso schon schwer haben.
Schulen
sind keine offensichtlichen Ansteckungsherde
Dazu
kommt: Aus epidemiologischer Sicht ist noch nicht geklärt, wie relevant Schulen
in der Verbreitung des Virus sind. Anders als anfangs vermutet, stecken sich
zwar auch Kinder oft an. Doch eine
Untersuchung an Zürcher Schulen zeigt, dass diese zumindest
bisher nicht zu Infektionsherden geworden sind.
Ganz
anders sieht die Evidenz bei Partys aus, privat oder in Klubs, die immer wieder
zu Superspreader-Events wurden. In solchen Fällen ist zudem das Tracing
aufwendiger. Klassen oder Kohorten unter Quarantäne zu stellen, geht einfacher,
als tagelang Partygästen nachzutelefonieren.
Überforderung
unter berufstätigen Eltern
In
Deutschland beobachteten Forscher mit Erstaunen, dass Schulöffnungen
sogar mit verringerten Fallzahlen im jeweiligen Bundesland einhergingen. Die
Forscher sehen eine mögliche Erklärung darin, dass sich Eltern besonders
vorsichtig verhielten, weil ihnen vor neuen Schulschliessungen graut.
Wer
Eltern kennt oder selber Kinder hat, den dürfte das nicht überraschen. Es ist
keine einfache Aufgabe, im Home-Office nebenbei die Kinder bei Laune halten zu
müssen oder jemanden zu finden, der die Betreuung für sie übernimmt.
Weiterarbeiten wie sonst war für viele schlicht unmöglich.
Besonders Mütter litten unter der zusätzlichen Belastung. Weibliche Forscherinnen veröffentlichten während der Schulschliessungen im Schnitt bedeutend weniger Fachartikel als in vergangenen Jahren. Die volkswirtschaftlichen Kosten elterlicher Überforderung sind zwar noch nicht errechnet, aber sie sind real.
Schulen
sollten als Letzte drankommen
Wenn so
vieles gegen Schulschliessungen spricht, warum ist so schnell wieder die Rede
davon? Vielleicht weil ihre Kosten langfristig und dadurch schwer zu beziffern
sind. Vielleicht, weil man Schulschliessungen leichter von oben verordnen kann.
Und vielleicht auch, weil Medien mehr über Quarantänen in Schulen berichten als
über Infektionen im Büro.
Es ist
gut möglich, dass wir uns bald wieder mehr einschränken müssen, als uns allen
lieb ist. Das aber sollten wir mit Massnahmen tun, die bei vertretbaren Kosten
möglichst viel nützen: Abstand halten, Masken tragen, Corona-App installieren,
Partys absagen, im Home-Office bleiben. Die Kinder hingegen sollten als
Allerletzte für die Nachlässigkeiten der vergangenen Monate bezahlen.
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