Max Planck verfügte über ein absolutes Gehör, spielte Klavier, Cello und Orgel, und Albert Einstein hatte seit seinem sechsten Lebensjahr Geigenunterricht: Anekdoten wie diese scheinen den oft behaupteten Zusammenhang zwischen Intelligenz und dem Erlernen eines Musikinstruments zu belegen. Nicht wenige Eltern lassen ihre Kinder daher musizieren, in der Hoffnung, deren schulische Leistungen zu verbessern. Eine Studie im Fachjournal «Memory & Cognition» dämpft nun solche Hoffnungen – und entfacht den Streit um eine alte Frage neu: Macht Musik schlau?
Im Musikunterricht können die Kinder ein Instrument erlernen - das ist doch schon mal etwas. Bild: Andrea ZahlerMacht Musik wirklich schlauer? Basler Zeitung, 12.10. von Alice Lanzke
Als die US-Psychologin Frances Rauscher von der Universität von Kalifornien 1993 im Fachblatt «Nature» berichtete, dass einige ihrer Studenten visuell-räumliche Aufgaben besser lösten,wenn sie zuvor zehn Minuten lang eine Mozart-Sonate hörten, schien das ein eindrücklicher Nachweis für die Wirkung von Musik auf die geistige Leistung von Menschen zu sein. Tatsächlich wurde das Phänomen als «Mozart-Effekt» bekannt und führte unter anderem dazu, dass in zwei US-Bundesstaaten Eltern zur Geburt eines Babys eine CD mit Aufnahmen des Komponisten bekamen.
Datensatz mit 6984 Kindern
Mittlerweile gilt der Effekt zwar weitestgehend als widerlegt, wird jedoch regelmässig zitiert, wenn über mögliche positive Auswirkungen von Musik diskutiert wird. Selbst zu musizieren, soll die generelle Intelligenz fördern, das Arbeitsgedächtnis anregen und die Klangwahrnehmung schärfen, was wiederum die Verarbeitung von Sprache und Lesefähigkeiten verbessert – so lauten jedenfalls drei Behauptungen, die oft als Argumente dafür herhalten müssen, Kinder ein Instrument lernen zu lassen. Über positive Auswirkungen auf das Gehirn berichteten Anfang Oktober auch chilenische Forscher im Fachblatt «Frontiers in Neuroscience».
Dass solche Effekte vermutlich nicht ganz so gross sind oder zumindest differenziert betrachtet werden sollten, legt jedoch eine Studie des Psychologen Giovanni Sala von der japanischen Fujita Health University und des Kognitionswissenschaftlers Fernand Gobet von der London School of Economics and Political Science nahe. Sie werteten Studienresultate zum Zusammenhang von Musikerziehung und kognitiven Fähigkeiten sowie schulischen Leistungen von Kindern aus. Ihr Datensatz umfasste 54 Untersuchungen aus den Jahren 1986 bis 2019 mit insgesamt 6984 Kindern zwischen 3 und 16 Jahren.
Das Ergebnis ihrer Reevaluierung im Fachblatt «Memory & Cognition»: Musikerziehung habe keinen positiven Einfluss auf die kognitiven Fähigkeiten von Kindern, ebenso wenig auf deren schulische Leistungen in Mathematik, Lesen oder Schreiben. Das zeigten vor allem jene Arbeiten mit einem qualitativ hochwertigen Studiendesign – also solche, die etwa eine Kontrollgruppe mit Kindern einschlossen, die nicht musizierten, aber eine andere Aktivität wie Malen oder Sport betrieben.
Kleinere Effekte zeigten sich laut den Wissenschaftlern lediglich in jenen Studien, die keine derartigen Kontrollgruppen umfassten. Entsprechend klar fällt das Fazit der Autoren aus. «Unsere Studie zeigt, dass die verbreitete Vorstellung, dass Musik Kinder schlauer macht, falsch ist», sagte Sala. Für die Praxis bedeute dies, dass das Unterrichten von Musik mit der alleinigen Absicht, die kognitiven oder schulischen Leistungen eines Kindes zu verbessern, möglicherweise sinnlos sei: «Während man das Gehirn so trainieren kann, dass man beim Spielen von Musik besser in Musik wird, lassen sich diese Vorteile nicht derart verallgemeinern, dass man beim Lernen von Musik auch besser in Mathematik wird.» Anders lautende Ergebnisse gingen möglicherweise auf Fehlinterpretationen früherer Daten zurück.
«Frage der Perspektive»
Stefan Kölsch, Psychologe und Neurowissenschaftler an der norwegischen Universität Bergen, deutet die Metaanalyse hingegen differenzierter: Er betont, dass gerade jene Studien mit Kontrollgruppen – in denen Kinder, anstatt zu musizieren, also etwa Theater spielten oder malten – durchaus Effekte zeigten, aber eben für alle genannten Aktivitäten: «Das ist eine Frage der Perspektive: Für mich ist das Glas halb voll, betrachte ich diese Ergebnisse, für die Autoren halb leer. Aber gerade wenn das Musizieren mit Nichtstun verglichen wird, ist eine deutliche Wirkung beobachtbar.»
Zudem hätten qualitativ hochwertige Studien schon immer vorsichtig formuliert. Kölsch betont weiter: «Natürlich ist das beste Rezept, um gut im Diktat oder im Rechnen zu werden, Deutsch- oder Matheunterricht – aber nichts anderes wird ja behauptet.»
Diesen Punkt unterstreicht auch der Neuropsychologe Lutz Jäncke von der Universität Zürich: «Durch Flötenunterricht wird niemand besser darin, Differenzialgleichungen zu lösen, doch darum geht es auch gar nicht.» Jäncke kommentiert, die Metaanalyse sei zwar methodisch gut, das Forschungsfeld insgesamt aufgrund des Untersuchungsthemas allerdings hochproblematisch: «Längsschnittstudien in diesem Bereich sind immer komplex, schwer durchzuführen und zu interpretieren, da Dynamiken des Alltags – gerade mit Kindern in den erwähnten Altersgruppen – nicht berücksichtigt werden.»
Deswegen seien neben Interventionsstudien auch Korrelationsstudien nötig – also solche, die Zusammenhänge zwischen Merkmalen ermitteln, ohne Aussagen über eine Kausalität treffen zu können. Hier wäre das der Zusammenhang zwischen einer psychologischen Leistung und Musik zu einem bestimmten Zeitpunkt. Eben diese Korrelationsstudien wurden in die Metaanalyse allerdings nicht aufgenommen.
Neuropsychologe Jäncke hebt ausserdem hervor: «Selbst wenn die Auswirkungen von Musikunterricht auf die kognitiven Fähigkeiten nicht so gross sein sollten, ergibt sich für die Kinder doch ein Vorteil, der gerne vergessenwird: Sie erlernen ein Instrument.» Musik habe per se einen Wert: «Man sollte Musik wegen der Musik an sich machen und nicht für bessere Mathenoten.» Dieser Perspektive schliesst sich Kölsch an: «Musik braucht keine Rechtfertigung – sie ist Teil unserer Natur und Kultur.» Zudem stimuliere sie durchaus grundlegende Funktionen für die Entwicklung eines Kindes, und das auf spielerischeWeise: «Dazu gehören Wahrnehmung und Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Sensomotorik sowie emotionale und soziale Funktionen.»
Selbstkontrolle und Disziplin
Dies wird auch von den Autoren der Metaanalyse selbst angesprochen. So sagt Gobet: «Musiktraining kann für Kinder von Vorteil sein, beispielsweise durch Verbesserung der sozialen Fähigkeiten oder des Selbstwertgefühls.»
«Es gibt Längsschnittstudien, die zeigen, dass sich das Erlernen eines Instruments deutlich auf die Hirnstrukturen von Kindern auswirkt», ergänzt Jäncke. Daraus lasse sich nicht automatisch schliessen, dass Kinder durch Musik schlauer würden. Sie könnten allerdings eine kognitivanatomische Reserve entwickeln, die bis ins hohe Alter wirke. Ausser Frage stehe zudem, dass sich Musizieren positiv auf Aufmerksamkeit, Selbstkontrolle und Disziplin auswirke und wichtig für den Selbstausdruck und die eigene Entfaltung sei – Aspekte, die laut Jäncke gerade für Heranwachsende aussergewöhnliche Werte darstellen: «Und diese sind in meinen Augen wesentlich wichtiger für die Persönlichkeitsbildung, als besser in Mathe zu werden.»
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