Tiefe emotionale Erlebnisse, besonders auch im musisch-kreativen Bereich, sind wertvolle Bausteine für die Entwicklung des Selbstwertgefühls und der Persönlichkeit jedes Schülers. Es gibt gute Gründe für Gruppenarbeit und Schulprojekte. Diese aber zu einem pädagogischen Konzept zu überhöhen, halte ich für einen gefährlichen Irrtum.
An vielen Schulen herrscht das Primat des selbständigen Arbeitens (damit
verbunden sind Projekte, erforschendes Lernen, selbstorganisiertes Lernen,
schülerzentrierter Unterricht usw.). Der Lehrer übergibt die Verantwortung fürs
Lernen an seine Schüler und steht nur noch beratend zur Seite.
Nun gibt es immer mehr Schulen, deren Schüler miserable Kenntnisse
vorweisen können. Gerade solche Schulen rühmen sich gegenüber Eltern und in den
Medien, besonders gezielt in die individuellen Stärken ihrer Schüler zu
investieren. Das Individuelle soll gegenüber dem Allgemeinen gefördert werden:
So tönt der aktuelle pädagogische Mainstream. Dabei fällt auf, dass nicht nur
schwache Schulen, sondern auch schwache Schüler Projektunterricht bevorzugen.
Das Problem ist, dass sie dabei aber weniger lernen als bei geführtem
Klassenunterricht. Eine Reduktion der direkten Instruktion zugunsten einer
individuellen Förderung schadet also besonders den schwachen Schülern, wie
Hattie betont. Und Liessmann hat diese «Rhetorik der Individualität» als das
Konzept des jungen Menschen als Humankapital entlarvt.
Die Individualisierung scheint auch für den Lehrplan 21 kein Problem zu
sein, obwohl ein Lehrplan grundsätzlich ein Standardisierungsinstrument sein
sollte. Wie kann man allgemeingültige Standards einhalten, wenn ein Viertel der
Unterrichtszeit (Klasse Alain Pichard) quasi schülerbestimmt sind?
Besonders pikant ist, dass Pichard ganz nebenbei auch seinem Vorbild und
Namensgeber dieses Blogs widerspricht. Condorcet, der Vorreiter der modernen
Schule, drehte sich wohl zu Recht in seinem Grab, wenn man in seinem Namen die
Wohltaten der Individualisierung hochleben liesse. Condorcet war ein Kämpfer
eines egalitären Curriculums für arm und reich. Uniformität war das
Qualitätssiegel der französischen Grundschule, die einen hervorragenden Ruf
besass und insbesondere als soziale Klammer eine wichtige Funktion in der
französischen Gesellschaft innehatte. Mit der Betonung des selbständigen
Lernens in sogenannten «projets» kam in Frankreich der Bruch und der
dramatische Absturz.
Das Argument, durch jahrelange Indoktrination in den PH vorbereitet, ist
folgendes: Das Ziel der Schule sei nicht in erster Linie der Wissensaufbau in
den klassischen Schulfächern. Es gehe vielmehr darum, durch selbstorganisiertes
Lernen und Projekte möglichst lebensnahe Probleme zu lösen. Denn wie im
wirklichen Leben seien die Herausforderungen
nicht nach Schulfächern etikettiert, fächerübergreifendes Denken und
Handeln sei gefragt. In der Theorie der Promotoren des Projektunterrichts
lautet die Formel: Damit die Schüler lernen, wie Wissenschafter, Geschäftsführer
oder Politiker zu denken, müssen wir ihnen Aufgaben liefern, bei denen sie wie
diese Experten denken müssen.
Doch Schulabgänger (geschweige denn Primarschüler) sind keine Experten.
Bloss so zu tun, als seien sie Experten oder Sachverständige macht sie noch
lange nicht zu solchen. Langjährige Berufs- und Lebenserfahrung lässt sich
nicht einfach für die Schule imitieren. Dies bedeutet nicht, dass es falsch
wäre, Schüler auf das Lösen von Problemen vorzubereiten. Das ist ein legitimes
Ziel, doch es sollte nicht auch der Weg zum Ziel sein. Schülerzentrierter
Unterricht untergräbt die entscheidende Rolle des Lehrers im Unterricht. Erst
die sorgfältig geleitete Instruktion macht Kinder zu unabhängigen Lernern. Mit
anderen Worten: Wenn das Lernziel «selbständiges Lernen» lautet und die Methode
dazu möglichst viel selbständiges Lernen ist, dann kann es nicht klappen, denn
das Ziel und die Methode dazu können nicht gleich sein.
Ausserdem ist es nicht legitim, direkte Instruktion mit Dozieren
gleichzusetzen und damit den Schülern passives Konsumieren zu unterstellen.
Lehrergeführter Unterricht ist sehr erfolgreich, bei Hattie wird er in der
Wirksamkeit nur von Feedback und der Unterrichtsqualität übertroffen. Beide
Faktoren stehen nicht im Widerspruch zu lehrergeführtem Unterricht – sie sind
sogar Bestandteil davon.
Hüten wir uns also vor dem Dogma des Projekt- oder Gruppenunterrichts
als pädagogischem Allzweckheilmittel. Es gibt genügend Hinweise darauf, dass
die Wirkung überschätzt wird und dass darunter besonders die schwachen Schüler
leiden.
Literatur
Hattie John, Visible Learning
Liessmann Paul Konrad, Bildung als Provokation
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