17. September 2020

Projektunterricht als Dogma des pädagogischen Mainstreams

Tiefe emotionale Erlebnisse, besonders auch im musisch-kreativen Bereich, sind wertvolle Bausteine für die Entwicklung des Selbstwertgefühls und der Persönlichkeit jedes Schülers. Es gibt gute Gründe für Gruppenarbeit und Schulprojekte. Diese aber zu einem pädagogischen Konzept zu überhöhen, halte ich für einen gefährlichen Irrtum.

An vielen Schulen herrscht das Primat des selbständigen Arbeitens (damit verbunden sind Projekte, erforschendes Lernen, selbstorganisiertes Lernen, schülerzentrierter Unterricht usw.). Der Lehrer übergibt die Verantwortung fürs Lernen an seine Schüler und steht nur noch beratend zur Seite.

Nun gibt es immer mehr Schulen, deren Schüler miserable Kenntnisse vorweisen können. Gerade solche Schulen rühmen sich gegenüber Eltern und in den Medien, besonders gezielt in die individuellen Stärken ihrer Schüler zu investieren. Das Individuelle soll gegenüber dem Allgemeinen gefördert werden: So tönt der aktuelle pädagogische Mainstream. Dabei fällt auf, dass nicht nur schwache Schulen, sondern auch schwache Schüler Projektunterricht bevorzugen. Das Problem ist, dass sie dabei aber weniger lernen als bei geführtem Klassenunterricht. Eine Reduktion der direkten Instruktion zugunsten einer individuellen Förderung schadet also besonders den schwachen Schülern, wie Hattie betont. Und Liessmann hat diese «Rhetorik der Individualität» als das Konzept des jungen Menschen als Humankapital entlarvt.

Projektunterricht als Glaubenssatz des pädagogischen Mainstreams, www.Condorcet.ch, 6.9. von Urs Kalberer

Die Individualisierung scheint auch für den Lehrplan 21 kein Problem zu sein, obwohl ein Lehrplan grundsätzlich ein Standardisierungsinstrument sein sollte. Wie kann man allgemeingültige Standards einhalten, wenn ein Viertel der Unterrichtszeit (Klasse Alain Pichard) quasi schülerbestimmt sind?

Besonders pikant ist, dass Pichard ganz nebenbei auch seinem Vorbild und Namensgeber dieses Blogs widerspricht. Condorcet, der Vorreiter der modernen Schule, drehte sich wohl zu Recht in seinem Grab, wenn man in seinem Namen die Wohltaten der Individualisierung hochleben liesse. Condorcet war ein Kämpfer eines egalitären Curriculums für arm und reich. Uniformität war das Qualitätssiegel der französischen Grundschule, die einen hervorragenden Ruf besass und insbesondere als soziale Klammer eine wichtige Funktion in der französischen Gesellschaft innehatte. Mit der Betonung des selbständigen Lernens in sogenannten «projets» kam in Frankreich der Bruch und der dramatische Absturz.

Das Argument, durch jahrelange Indoktrination in den PH vorbereitet, ist folgendes: Das Ziel der Schule sei nicht in erster Linie der Wissensaufbau in den klassischen Schulfächern. Es gehe vielmehr darum, durch selbstorganisiertes Lernen und Projekte möglichst lebensnahe Probleme zu lösen. Denn wie im wirklichen Leben seien die Herausforderungen

nicht nach Schulfächern etikettiert, fächerübergreifendes Denken und Handeln sei gefragt. In der Theorie der Promotoren des Projektunterrichts lautet die Formel: Damit die Schüler lernen, wie Wissenschafter, Geschäftsführer oder Politiker zu denken, müssen wir ihnen Aufgaben liefern, bei denen sie wie diese Experten denken müssen.

Doch Schulabgänger (geschweige denn Primarschüler) sind keine Experten. Bloss so zu tun, als seien sie Experten oder Sachverständige macht sie noch lange nicht zu solchen. Langjährige Berufs- und Lebenserfahrung lässt sich nicht einfach für die Schule imitieren. Dies bedeutet nicht, dass es falsch wäre, Schüler auf das Lösen von Problemen vorzubereiten. Das ist ein legitimes Ziel, doch es sollte nicht auch der Weg zum Ziel sein. Schülerzentrierter Unterricht untergräbt die entscheidende Rolle des Lehrers im Unterricht. Erst die sorgfältig geleitete Instruktion macht Kinder zu unabhängigen Lernern. Mit anderen Worten: Wenn das Lernziel «selbständiges Lernen» lautet und die Methode dazu möglichst viel selbständiges Lernen ist, dann kann es nicht klappen, denn das Ziel und die Methode dazu können nicht gleich sein.

Ausserdem ist es nicht legitim, direkte Instruktion mit Dozieren gleichzusetzen und damit den Schülern passives Konsumieren zu unterstellen. Lehrergeführter Unterricht ist sehr erfolgreich, bei Hattie wird er in der Wirksamkeit nur von Feedback und der Unterrichtsqualität übertroffen. Beide Faktoren stehen nicht im Widerspruch zu lehrergeführtem Unterricht – sie sind sogar Bestandteil davon.

Hüten wir uns also vor dem Dogma des Projekt- oder Gruppenunterrichts als pädagogischem Allzweckheilmittel. Es gibt genügend Hinweise darauf, dass die Wirkung überschätzt wird und dass darunter besonders die schwachen Schüler leiden.

Literatur

Hattie John, Visible Learning

Liessmann Paul Konrad, Bildung als Provokation

 

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