20. September 2020

Neue Autorität: Präsenz zeigen

Was tun, wenn ein Erstklässler je nach Laune mal auf dem Pult sitzt und dann wieder darunter? Wenn er andere Mitschüler schlägt oder den Unterricht seiner Lehrerin gleich ganz lahmlegt?

Was tun, wenn die Eltern ratlos sind, weil ihre Tochter sich weigert, die Hausaufgaben zu machen, und stattdessen eine Vase an die Wand schmeisst?

Wie soll ein Lehrer reagieren, wenn Schüler seine Aufforderung mit einem Lächeln ignorieren, den Abfall auf dem Mensatisch wegzuräumen?

Streng, beharrlich und liebevoll, NZZ, 19.9. von Martin Beglinger

In solchen Momenten der Ohnmacht kommt Regina Haller zum Zug. Bei unserem Besuch sitzt die Stadtzürcher Schulleiterin unter einem ausgestopften Adler, den sie aus einer verstaubten Vitrine vor der Entsorgung gerettet hat. Sonst ist ihr Büro in Oerlikon so nüchtern und funktional wie der ganze Bau. Die Schule Im Birch ist eines der grössten Schulhäuser in der Schweiz mit rund 700 Schülern in 14 Primar-, 15 Sekundar- und 5 Kindergartenklassen. Seit mittlerweile fünfzehn Jahren führt Regina Haller diese Schule, also seit einer Ewigkeit, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche «Überlebensdauer» eines Schulleiters je nach Quelle und Zählweise zwei bis fünf Jahre beträgt. Es ist ein Verschleissjob sondergleichen, Hallers Vorgänger war bereits nach einem Jahr ausgebrannt, zerrieben zwischen den Ansprüchen von Lehrern, Eltern und Behörden. Sie hingegen wirkt selbst im Corona-bedingten Ausnahmezustand erstaunlich munter und motiviert. Im Jahr vor dem Lockdown fand sie sogar Zeit, um nebenbei ein Buch zu schreiben: «Raus aus der Ohnmacht». Geschrieben hat sie es mit dem israelischen Psychologen Haim Omer, 71, dem Begründer der sogenannten Neuen Autorität, eines Konzepts, das er als Familientherapeut ersonnen hat und das die beiden jetzt gemeinsam für die Schule weiterentwickelt haben.

«Es braucht wieder mehr Autorität!», sagt Regina Haller. Das klingt in den Ohren mancher Pädagogen zunächst einmal verdächtig. Aber sie meint damit nicht jene Autorität der alten Art, die einzig auf Macht und Gehorsam beruht. Die «schwarze Pädagogik» hat für Haller ebenso ausgedient wie das Gegenteil des Laisser-faire, das überhaupt keine Grenzen mehr setzen wollte. Nötig ist für die Schulleiterin vielmehr eine «neue Autorität», die vor allem auf «Präsenz» basiert.

Scheu vor klaren Regeln

Was das heisst, hat Haim Omer vor gut zwanzig Jahren in Tel Aviv zu erproben begonnen, als er in seinen Therapiestunden mit Eltern zu tun hatte, die von ihren eigenen Kindern verprügelt worden waren und sich nicht mehr zu helfen wussten. Es lag, glaubt Omer, wohl auch am Zeitgeist. In einem früheren Buch schrieb er: «In unserer modernen, liberalen Zeit ist es beinahe verpönt, von Struktur, Ordnung und Regeln zu reden, wird diesen doch nachgesagt, die kindliche Entwicklung zu blockieren. Deswegen scheuen sich viele Eltern davor, klare Regeln aufzustellen, weil sie Angst haben, die Beziehung zu ihrem Kind zu gefährden und die gegenseitige Liebe und Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Alle unsere Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern zeigen: Wenn in der Erziehung Chaos statt Ordnung herrscht, kommt es zu gravierenden Problemen.»

Omer empfiehlt den ohnmächtigen Eltern, auf die Provokationen ihrer Kinder mit einem historisch erprobten Verhalten zu reagieren, nämlich mit gewaltlosem Widerstand, wie ihn einst Mahatma Gandhi oder Martin Luther King praktiziert haben. «Sit-in» heisst eines der Instrumente, und wie der Name sagt, setzen sich dabei die Eltern vor das Zimmer ihres Kindes und erklären ihm in aller Ruhe, warum sie sein Verhalten nicht mehr hinnehmen. Dann warten sie auf einen Vorschlag, wie es dieses Verhalten zu ändern gedenkt. Nehmen die Eltern auch nach einer Stunde womöglich nur Schweigen oder Brüllen wahr, aber keine konstruktive Antwort, dann wiederholen sie das Sit-in am nächsten Tag. Mit anderen Worten: Die Eltern bleiben hartnäckig präsent.

Die Schulleiterin Regina Haller hat erstmals 2011 von solchen Methoden gehört, als der charismatische Omer in Zürich über «Stärke statt Macht» referierte. Damals war ihr noch schleierhaft, wie man mit einem solchen Konzept an Schulen arbeiten könnte. Heute kann sie sich ihren beruflichen Alltag «nicht mehr ohne Neue Autorität vorstellen».

Lehrer kommen an ihre Grenzen

Wirklich neu ist dieses Konzept also nicht, doch das Interesse daran scheint grösser denn je, vor allem in den Schulen, die sich schwer wie nie zuvor mit verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen tun. Ob Schüler nun mobben oder ob sie nächtelang gamen, chatten und kiffen, destruktives Verhalten offenbart sich eher früher als später auch in der Klasse. Und nach einem verbreiteten Eindruck tut es das immer häufiger. Schwer zu sagen, ob dem tatsächlich so ist oder ob solche Schüler nur deshalb mehr auffallen, weil sie nicht mehr als Sonderschüler in Kleinklassen beschult werden, sondern in den letzten Jahren konsequent in die grossen Regelklassen integriert worden sind. Doch die Indizien mehren sich, dass Integration, frühere Einschulung und nicht zuletzt die steigenden Ansprüche den Druck auf die Regelklassen erhöhen:

·         Jedes fünfte Kind stört den Unterricht, wie eine Umfrage von Professor Reto Luder von der PH Zürich 2019 unter 450 Lehrpersonen in Zürich und Winterthur ergeben hat.

·         Die Zahl der Sonderschüler hat sich im Kanton Zürich seit 2004 auf mehr als 6000 verdoppelt.

·         Gemäss einer Studie der Freiburger Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm aus dem Jahr 2008 schwänzt jeder vierte Siebt- bis Neuntklässler relativ oft oder gar massiv den Unterricht.

Die schulpsychologischen Dienste sind ebenso überlastet mit der Abklärung von verhaltensauffälligen Schülern wie etwa die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, wo die ambulanten Notfallkonsultationen in den letzten zehn Jahren um fast 500 Prozent zugenommen haben. Und nicht zuletzt sind es die Lehrerinnen und Lehrer selbst, die an ihre Grenzen stossen. 60 Prozent von ihnen gaben in der Umfrage von Reto Luder an, dass die Dauerstörer die grösste Belastung in ihrem Berufsalltag seien.

Der Alltag der Schulleiterin Haller klingt zum Beispiel so:

«Frau Haller, Sie nerven!», sagt ein Achtklässler, den sie täglich bei ihrem Rundgang durch die Schule aufsucht und nach seinen Aufgaben fragt.

«Ich verstehe, dass dich das nervt», gibt sie zur Antwort, «aber du kannst dich darauf verlassen, dass ich auch weiterhin nerve, bis es mit deinen Hausaufgaben klappt.»

«Wachsame Sorge» heisst das im Jargon der Neuen Autorität. «Ich bin hier, und ich bleibe hier. Es ist meine Pflicht, für dich zu sorgen, du kannst mir weder kündigen, noch kannst du mich wegschicken» – dieser Leitsatz von Haim Omer gilt für Lehrpersonen genauso wie für Eltern. «Unterdessen wissen unsere Schüler, dass wir im Birch genau hinschauen. Und wenn etwas schiefläuft, dann stehen wir auf der Matte», sagt die Schulleiterin.

Das braucht Zeit. Doch hat man die auch im hektischen Alltag? Man sollte sie sich jedenfalls nehmen, meint Regina Haller. An ihrer Schule gewährt sie eine Art «banking time», eine Extrastunde im Einzelsetting, die die Beziehung zwischen Schüler und Lehrperson stärken soll, denn ohne Beziehung funktioniert in der Schule nichts. «Die Pädagoginnen merken schnell, dass das Kind – wie alle Kinder – ausserhalb des Klassengefüges vor allem liebenswert und je nach Situation bedürftig, wissbegierig und einfach ganz besonders ist. Das Kind geniesst diese Stunde mit seiner schulischen Bezugsperson und muss diese ungeteilte Aufmerksamkeit nicht durch störendes Verhalten in der Klasse einfordern», sagt die Schulleiterin. Die Alternative dazu ist ein anhaltender Kleinkrieg mit Schülern und Eltern, der am Ende viel mehr Zeit und Nerven braucht.

Aufmarsch gegen Mobbing 

Ganz besonders ist Präsenz bei Mobbing gefragt, nach der Erfahrung von Regina Haller «etwas vom Schlimmsten für ein Kind und seine Familie». Erfährt sie von einem Fall, kommt es in der Regel zu einer sogenannten «Ankündigung», einem anderen wichtigen Instrument der Neuen Autorität, das wie ein «protokollarisches Zeremoniell» (Haller) abläuft. Nach einem ersten Vorgespräch mit dem betroffenen Kind und seinen Eltern organisiert die Schulleiterin einen bewusst imposanten Aufmarsch von Erwachsenen vor der versammelten Klasse. Mit dabei sind: die Klassenlehrerin, weitere Fachlehrer, je nachdem die Schulsozialarbeiterin, die Hortleiterin, der Hauswart, eine Elternvertretung – insgesamt gut und gerne zehn Personen. 

Vor der Klasse erklärt nun die Schulleiterin, dass es einen Mobbingfall gegeben habe. Sie breitet weder Namen noch Details aus und weist auch keine Schuld zu, sondern erklärt klipp und klar, dass man Gewalt nicht dulde. «Keine lange Predigt, sondern eine klare Durchsage. Es geht um die rasche Veränderung eines inakzeptablen Verhaltens», erklärt Regina Haller.

Nach dem Statement der Erwachsenen soll jedes Kind in der Klasse auf einen Zettel schreiben, was es selber zur Verbesserung der Situation beitragen will – nicht nur mit einer allgemeinen Bekundung, sondern konkret, indem es zum Beispiel jeden Donnerstag in der Pause mit dem Mobbingopfer Fussball spielt.

Am Schluss verkündet die Schulleiterin, dass man sich in zwei Wochen erneut in der Klasse treffe, um die Umsetzung der Vorschläge und die Situation des Mobbingopfers zu überprüfen. «Wir machen gute Erfahrungen mit diesem Vorgehen», sagt Regina Haller.

Bis jetzt existieren zwar keine wissenschaftlichen Studien zur Wirksamkeit der Neuen Autorität, gleichwohl ist Andrea Lanfranchi, Professor an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, von ihrem Nutzen überzeugt. Er preist dieses Konzept gar als «Königsweg im Umgang mit destruktivem Verhalten», weil hier nicht mehr nur die Probleme beschrieben, sondern auch Lösungen aufgezeigt würden. «Das kommt bei den Lehrpersonen gut an.»

Hinter einer «Ankündigung» stecken gleich mehrere Grundsätze der Neuen Autorität. Zunächst einmal: Es müht sich nicht mehr jeder alleine ab. Stattdessen vernetzt man sich breit und handelt «gemeinsam statt einsam» (Haller). Ein ganzes Team stellt sich geschlossen vor die ganze Klasse und erklärt, was Sache ist. Zugleich mobilisiert sie das Potenzial der Klasse.

«Solche gemeinsamen Auftritte haben eine enorme Wirkung», sagt die Schulleiterin. «Die Jugendlichen müssen merken, dass die Erwachsenen sich gegenseitig informieren, ihre Massnahmen absprechen und alles unternehmen, um ein inakzeptables Verhalten zu unterbinden.»

Ein zweiter zentraler Punkt: Öffentlichkeit. Präsenz der vielen schafft Transparenz, doch das braucht Überwindung. Gerade unter älteren Lehrkräften ist das Einzelkämpfertum noch immer verbreitet, und da gilt rasch als Niederlage, wenn das Kollegium erfährt, dass man seine Probleme nicht alleine lösen kann. Ähnlich ist es bei den Eltern, die ebenfalls lieber für sich behalten, wenn zu Hause die Fetzen fliegen. Regina Haller zitiert dazu einen Satz von Haim Omer: «Wenn es daheim Konflikte gibt, dann schliessen wir die Fenster. Stattdessen müssen wir sie öffnen, damit es auch die Nachbarn mitbekommen.» In der Familientherapie rät Omer dazu, durchaus einmal Onkel, Tanten, Göttis oder die Grosseltern mit an den Tisch zu bitten, um mit dem Sohn zu besprechen, warum er nie pünktlich zu Hause ist und am Morgen dauernd die Schule verpennt.

In der Schule, sagt Regina Haller, gehe nichts ohne Eltern, gerade wenn es akute Schwierigkeiten gebe. «Sich gegenseitig nur die Schuld in die Schuhe zu schieben, untergräbt die Autorität der Eltern wie der Lehrer. Und vor allem bleibt das Kind auf der Strecke, wenn beide Seiten bloss übereinander lästern. Dabei sitzen wir doch alle im gleichen Boot und wollen den bestmöglichen Schulerfolg für das Kind», sagt die Schulleiterin. Deshalb werden die Eltern (oder ein Onkel oder die Grossmutter) in die Klasse eingeladen, um sich selber ein Bild zu machen, auch wenn das dem Schüler oft genug peinlich ist.

Das starke Gefühl der Scham

Doch ist diese demonstrative Präsenz nicht ein moderner Pranger? Eine Art verbale Prügelstrafe, indem Erwachsene die Kinder und Jugendlichen gezielt beschämen? Gerade in Deutschland, wo man historisch bedingt weit empfindlicher auf alles (angeblich) Autoritäre reagiert als in der Schweiz, geriet die Neue Autorität auch schon in scharfe Kritik. Die linke Bildungspolitikerin Sabine Boeddinghaus spricht von «Psycho-Rohrstock» und der Erziehungswissenschafter Stefan Dierbach von einer «kalkulierten Beschämung», mit der man Schüler zur Änderung ihres Verhaltens dränge.

Gewiss, sagt Regina Haller, man könne vieles falsch auslegen und auch Ungutes mit der Neuen Autorität bewirken. Sie und ihr grosses Kollegium brauchten etliche Jahre, um ein Gespür für dieses Instrumentarium zu entwickeln. Was in der einen Konstellation passt, kann in einer anderen völlig daneben sein. «Entscheidend ist immer die Haltung dahinter: dass man zusammen mit den Eltern das Beste für das Kind will.» In einer «Ankündigung» gehe es gerade nicht um Blossstellung oder Bestrafung, sondern um die «Förderung einer Schul- und Klassenkultur, in der sich alle akzeptiert fühlen».

Eines will die Schulleiterin jedoch nicht wegreden: Das starke Gefühl der Scham spielt eine wichtige Rolle in der Neuen Autorität. «Scham ist nicht a priori schlecht. Scham und soziale Kontrolle gehören zum gesellschaftlichen Lernprozess, um Kinder und Jugendliche einzumitten bei der Frage, was sich gehört und was nicht. Früher wusste jeder im Dorf, wer im Volg geklaut hat. In der heutigen städtischen Anonymität wird jedoch alles unverbindlich.»

Neue Autorität, das bedeutet sehr wohl auch Führen, doch das fällt nach Einschätzung von Regina Haller Eltern wie Lehrkräften oft schwer. Gerade unter jüngeren Sozialpädagogen ist rasch von «struktureller Gewalt» die Rede, wenn ein Erwachsener von einem Kind das Einhalten von Regeln verlangt. Und die zum Beispiel finden, auch ein gamesüchtiger Jugendlicher habe ohne Wenn und Aber ein Recht auf bestes WLAN in seinem Zimmer. Haller spürt «eine zunehmende Angst, Position gegenüber den Jugendlichen zu beziehen», stattdessen wolle man sie quasi gleichberechtigt wie Erwachsene behandeln. «Nichts gegen Wohlwollen, aber das kann auch ins Überbehüten kippen. Gerade jüngere Lehrer getrauen sich nicht zu sagen, ‹hey, dein Verhalten ist nicht in Ordnung, ich will es anders!›», sagt die Schulleiterin. «Doch man muss Kindern und Jugendlichen auch etwas zutrauen! Und überdies haben sie ein Recht auf Führung, Schutz und Orientierung.»

Sofort intervenieren

Schulbesuch bei der St. Galler Primar- und Sekundarlehrerin Franziska Stöckli, 45, die seit zwölf Jahren nach den Prinzipien der Neuen Autorität unterrichtet, bis 2018 eine «Time-out»-Klasse in Frauenfeld, seither eine Klasse an der Tagessonderschule der Stiftung Buechweid im zürcherischen Russikon. Bei Franziska Stöckli landen jene Jugendlichen, die in der Volksschule als nicht mehr tragbar gelten. Doch wer nun einen wilden und lauten Haufen erwartet, der liegt falsch. Es herrscht eine fast schon wundersame Mischung aus gelöster und doch konzentrierter Ruhe. Selbst der Siebtklässler, der an seinem ersten Schnuppertag noch alle Kabel aus dem Computer gerissen und Stühle quer durch das Zimmer geworfen hatte, sitzt kerzengerade am Tisch und löst Deutschaufgaben. Auch für ihn gilt, was diese leidenschaftliche Lehrerin ihren acht Sonderschülern jeden Morgen sagt und dabei strahlt: «Ich freue mich, dass ihr hier seid! Ihr seid mir wirklich wichtig!» Man nimmt es ihr ab.

Noch nie in ihren zwanzig Berufsjahren habe sie einen Schüler vor die Türe stellen müssen, noch nie sei ihr etwas aus der Handtasche geklaut worden, erzählt Franziska Stöckli. Und wolle mal einer partout provozieren, dann sage sie zu ihm: «Du kannst dich noch so blöd benehmen, ich werde dich trotzdem immer mögen.»

Das heisst mitnichten, sie lasse alles durch und fordere nichts ein. Auf die Frage, was sie von ihren früheren Lehrern unterscheide, antworten die Schüler spontan: «Frau Stöckli ist strenger.» Sie interveniert sofort, wenn ein Kind auf dem Stuhl herumrutscht. Oder dreinredet und die andern stört. Oder die Aufgaben nicht gemacht hat.

Auch von Zielen ist in ihrer Klasse oft die Rede. «Wir sind keine Therapiestation. Die Schüler sollen hier etwas lernen, nicht zuletzt Fleiss und Anstand, damit sie später eine Lehre machen und selbständig durchs Leben gehen können», sagt Franziska Stöckli. Das gelinge aber nur, wenn auch die Eltern «mit im Boot» seien. Die Lehrerin kennt sie alle persönlich, sie weiss um die familiären Sorgen, und gerade während des Lockdowns sei der Kontakt noch enger geworden, weil sie täglich bei allen Schülern und ihren Familien vorbeigegangen sei. «Ich verstehe mich als Anker, der dem Kind Halt und Sicherheit gibt», wobei die Leine je nach Bedarf einmal länger und einmal kürzer und im besten Fall gar nicht mehr nötig ist.

Ihre Präsenz ist enorm, fast rund um die Uhr, nichts scheint ihr zu viel zu sein für ihre kleine Klasse. Doch was manch andere Berufskollegen als Zumutung empfänden, ist für sie ein Energiespender. «Mich tragen die vielen positiven Erfahrungen und Erfolge», sagt Franziska Stöckli, die sich anderseits auch abgrenzt: «Ich nehme Anteil am Schicksal meiner Kinder, aber ich leide nicht mit. Mir muss es selber gutgehen, sonst kann es auch dem Kind nicht gutgehen.»

Gesunder Egoismus ist legitim

Auch für Regina Haller ist dieser Gedanke wichtig. «Ein gesunder Egoismus der Lehrperson ist absolut legitim. Ist sie unzufrieden oder dauernd nervös, tut das auch der Klasse nicht gut.» Dazu stellt die Schulleiterin einen Vergleich mit den Notfallanweisungen in einem Flugzeug an: zuerst die eigene Sauerstoffmaske anziehen, bevor man dem Kind auf dem Nebensitz hilft.

Bei allem Bemühen, das Verhalten der Jugendlichen zu beeinflussen, kontrollieren könne man es nicht, betont Haim Omer seit Jahren. Kontrollieren können wir nur unser eigenes Verhalten, und auch dies ist schwierig genug, wie schon so mancher ausgerastete Vater oder Lehrer feststellen musste. Um solche Eskalationen zu verhindern, hat Omer ein altes Sprichwort umgedreht: «Man muss das Eisen schmieden, wenn es kalt ist.» Das Prinzip der verzögerten Reaktion zählt zu den nützlichsten Instrumenten bei der Neuen Autorität. Für einen Lehrer heisst das nicht, bei einer Schlägerei auf dem Pausenplatz nur zuzuschauen. Oder bloss den Frust zu schlucken, wenn ihn die Schüler belächeln, anstatt ihren Abfall in der Kantine wegzuräumen. Anstatt gleich mit Strafen zu drohen, soll er vorerst nur sagen: «Ich habe mir das gemerkt und werde darauf zurückkommen.» So kann er sich erst einmal im Kollegium besprechen und anschliessend gelassener reagieren. Auch hier führt der Weg aus der Ohnmacht über Präsenz. «Es geht nicht darum zu siegen», sagt Regina Haller, «sondern wir müssen beharren.»

Buchhinweis: Haim Omer / Regina Haller: Raus aus der Ohnmacht. Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019. 240 S.

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