Was tun, wenn ein Erstklässler je nach Laune mal auf dem Pult sitzt und dann wieder darunter? Wenn er andere Mitschüler schlägt oder den Unterricht seiner Lehrerin gleich ganz lahmlegt?
Was
tun, wenn die Eltern ratlos sind, weil ihre Tochter sich weigert, die
Hausaufgaben zu machen, und stattdessen eine Vase an die Wand schmeisst?
Streng, beharrlich und liebevoll, NZZ, 19.9. von Martin Beglinger
In
solchen Momenten der Ohnmacht kommt Regina Haller zum Zug. Bei unserem Besuch
sitzt die Stadtzürcher Schulleiterin unter einem ausgestopften Adler, den sie
aus einer verstaubten Vitrine vor der Entsorgung gerettet hat. Sonst ist ihr
Büro in Oerlikon so nüchtern und funktional wie der ganze Bau. Die Schule Im
Birch ist eines der grössten Schulhäuser in der Schweiz mit rund 700 Schülern
in 14 Primar-, 15 Sekundar- und 5 Kindergartenklassen. Seit mittlerweile
fünfzehn Jahren führt Regina Haller diese Schule, also seit einer Ewigkeit,
wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche «Überlebensdauer» eines
Schulleiters je nach Quelle und Zählweise zwei bis fünf Jahre beträgt. Es ist
ein Verschleissjob sondergleichen, Hallers Vorgänger war bereits nach einem
Jahr ausgebrannt, zerrieben zwischen den Ansprüchen von Lehrern, Eltern und Behörden.
Sie hingegen wirkt selbst im Corona-bedingten Ausnahmezustand erstaunlich
munter und motiviert. Im Jahr vor dem Lockdown fand sie sogar Zeit, um nebenbei
ein Buch zu schreiben: «Raus aus der Ohnmacht». Geschrieben hat sie es mit dem
israelischen Psychologen Haim Omer, 71, dem Begründer der sogenannten Neuen
Autorität, eines Konzepts, das er als Familientherapeut ersonnen hat und das
die beiden jetzt gemeinsam für die Schule weiterentwickelt haben.
«Es
braucht wieder mehr Autorität!», sagt Regina Haller. Das klingt in den Ohren
mancher Pädagogen zunächst einmal verdächtig. Aber sie meint damit nicht jene
Autorität der alten Art, die einzig auf Macht und Gehorsam beruht. Die
«schwarze Pädagogik» hat für Haller ebenso ausgedient wie das Gegenteil des Laisser-faire,
das überhaupt keine Grenzen mehr setzen wollte. Nötig ist für die Schulleiterin
vielmehr eine «neue Autorität», die vor allem auf «Präsenz» basiert.
Scheu
vor klaren Regeln
Was
das heisst, hat Haim Omer vor gut zwanzig Jahren in Tel Aviv zu erproben
begonnen, als er in seinen Therapiestunden mit Eltern zu tun hatte, die von
ihren eigenen Kindern verprügelt worden waren und sich nicht mehr zu helfen
wussten. Es lag, glaubt Omer, wohl auch am Zeitgeist. In einem früheren Buch
schrieb er: «In unserer modernen, liberalen Zeit ist es beinahe verpönt, von
Struktur, Ordnung und Regeln zu reden, wird diesen doch nachgesagt, die
kindliche Entwicklung zu blockieren. Deswegen scheuen sich viele Eltern davor,
klare Regeln aufzustellen, weil sie Angst haben, die Beziehung zu ihrem Kind zu
gefährden und die gegenseitige Liebe und Freundschaft aufs Spiel zu setzen.
Alle unsere Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern zeigen: Wenn in der Erziehung
Chaos statt Ordnung herrscht, kommt es zu gravierenden Problemen.»
Omer
empfiehlt den ohnmächtigen Eltern, auf die Provokationen ihrer Kinder mit einem
historisch erprobten Verhalten zu reagieren, nämlich mit gewaltlosem
Widerstand, wie ihn einst Mahatma Gandhi oder Martin Luther King praktiziert
haben. «Sit-in» heisst eines der Instrumente, und wie der Name sagt, setzen
sich dabei die Eltern vor das Zimmer ihres Kindes und erklären ihm in aller
Ruhe, warum sie sein Verhalten nicht mehr hinnehmen. Dann warten sie auf einen
Vorschlag, wie es dieses Verhalten zu ändern gedenkt. Nehmen die Eltern auch
nach einer Stunde womöglich nur Schweigen oder Brüllen wahr, aber keine
konstruktive Antwort, dann wiederholen sie das Sit-in am nächsten Tag. Mit
anderen Worten: Die Eltern bleiben hartnäckig präsent.
Die
Schulleiterin Regina Haller hat erstmals 2011 von solchen Methoden gehört, als
der charismatische Omer in Zürich über «Stärke statt Macht» referierte. Damals
war ihr noch schleierhaft, wie man mit einem solchen Konzept an Schulen
arbeiten könnte. Heute kann sie sich ihren beruflichen Alltag «nicht mehr ohne
Neue Autorität vorstellen».
Lehrer
kommen an ihre Grenzen
Wirklich
neu ist dieses Konzept also nicht, doch das Interesse daran scheint grösser
denn je, vor allem in den Schulen, die sich schwer wie nie zuvor mit
verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen tun. Ob Schüler nun mobben oder
ob sie nächtelang gamen, chatten und kiffen, destruktives Verhalten offenbart
sich eher früher als später auch in der Klasse. Und nach einem verbreiteten
Eindruck tut es das immer häufiger. Schwer zu sagen, ob dem tatsächlich so ist
oder ob solche Schüler nur deshalb mehr auffallen, weil sie nicht mehr als
Sonderschüler in Kleinklassen beschult werden, sondern in den letzten Jahren
konsequent in die grossen Regelklassen integriert worden sind. Doch die
Indizien mehren sich, dass Integration, frühere Einschulung und nicht zuletzt
die steigenden Ansprüche den Druck auf die Regelklassen erhöhen:
·
Jedes
fünfte Kind stört den Unterricht, wie eine Umfrage von Professor Reto Luder von
der PH Zürich 2019 unter 450 Lehrpersonen in Zürich und Winterthur ergeben hat.
·
Die
Zahl der Sonderschüler hat sich im Kanton Zürich seit 2004 auf mehr als 6000
verdoppelt.
·
Gemäss
einer Studie der Freiburger Erziehungswissenschafterin Margrit Stamm aus dem
Jahr 2008 schwänzt jeder vierte Siebt- bis Neuntklässler relativ oft oder gar
massiv den Unterricht.
Die
schulpsychologischen Dienste sind ebenso überlastet mit der Abklärung von
verhaltensauffälligen Schülern wie etwa die Kinder- und Jugendpsychiatrie der
Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, wo die ambulanten
Notfallkonsultationen in den letzten zehn Jahren um fast 500 Prozent zugenommen
haben. Und nicht zuletzt sind es die Lehrerinnen und Lehrer selbst, die an ihre
Grenzen stossen. 60 Prozent von ihnen gaben in der Umfrage von Reto Luder an,
dass die Dauerstörer die grösste Belastung in ihrem Berufsalltag seien.
Der
Alltag der Schulleiterin Haller klingt zum Beispiel so:
«Frau
Haller, Sie nerven!», sagt ein Achtklässler, den sie täglich bei ihrem Rundgang
durch die Schule aufsucht und nach seinen Aufgaben fragt.
«Ich
verstehe, dass dich das nervt», gibt sie zur Antwort, «aber du kannst dich
darauf verlassen, dass ich auch weiterhin nerve, bis es mit deinen Hausaufgaben
klappt.»
«Wachsame
Sorge» heisst das im Jargon der Neuen Autorität. «Ich bin hier, und ich bleibe
hier. Es ist meine Pflicht, für dich zu sorgen, du kannst mir weder kündigen,
noch kannst du mich wegschicken» – dieser Leitsatz von Haim Omer gilt für
Lehrpersonen genauso wie für Eltern. «Unterdessen wissen unsere Schüler, dass
wir im Birch genau hinschauen. Und wenn etwas schiefläuft, dann stehen wir auf
der Matte», sagt die Schulleiterin.
Das
braucht Zeit. Doch hat man die auch im hektischen Alltag? Man sollte sie sich
jedenfalls nehmen, meint Regina Haller. An ihrer Schule gewährt sie eine Art
«banking time», eine Extrastunde im Einzelsetting, die die Beziehung zwischen
Schüler und Lehrperson stärken soll, denn ohne Beziehung funktioniert in der
Schule nichts. «Die Pädagoginnen merken schnell, dass das Kind – wie alle
Kinder – ausserhalb des Klassengefüges vor allem liebenswert und je nach
Situation bedürftig, wissbegierig und einfach ganz besonders ist. Das Kind
geniesst diese Stunde mit seiner schulischen Bezugsperson und muss diese
ungeteilte Aufmerksamkeit nicht durch störendes Verhalten in der Klasse
einfordern», sagt die Schulleiterin. Die Alternative dazu ist ein anhaltender
Kleinkrieg mit Schülern und Eltern, der am Ende viel mehr Zeit und Nerven
braucht.
Aufmarsch
gegen Mobbing
Ganz
besonders ist Präsenz bei Mobbing gefragt, nach der Erfahrung von Regina Haller
«etwas vom Schlimmsten für ein Kind und seine Familie». Erfährt sie von einem
Fall, kommt es in der Regel zu einer sogenannten «Ankündigung», einem anderen
wichtigen Instrument der Neuen Autorität, das wie ein «protokollarisches
Zeremoniell» (Haller) abläuft. Nach einem ersten Vorgespräch mit dem
betroffenen Kind und seinen Eltern organisiert die Schulleiterin einen bewusst
imposanten Aufmarsch von Erwachsenen vor der versammelten Klasse. Mit dabei
sind: die Klassenlehrerin, weitere Fachlehrer, je nachdem die
Schulsozialarbeiterin, die Hortleiterin, der Hauswart, eine Elternvertretung –
insgesamt gut und gerne zehn Personen.
Vor
der Klasse erklärt nun die Schulleiterin, dass es einen Mobbingfall gegeben
habe. Sie breitet weder Namen noch Details aus und weist auch keine Schuld zu,
sondern erklärt klipp und klar, dass man Gewalt nicht dulde. «Keine lange
Predigt, sondern eine klare Durchsage. Es geht um die rasche Veränderung eines
inakzeptablen Verhaltens», erklärt Regina Haller.
Nach
dem Statement der Erwachsenen soll jedes Kind in der Klasse auf einen Zettel
schreiben, was es selber zur Verbesserung der Situation beitragen will – nicht
nur mit einer allgemeinen Bekundung, sondern konkret, indem es zum Beispiel
jeden Donnerstag in der Pause mit dem Mobbingopfer Fussball spielt.
Am
Schluss verkündet die Schulleiterin, dass man sich in zwei Wochen erneut in der
Klasse treffe, um die Umsetzung der Vorschläge und die Situation des Mobbingopfers
zu überprüfen. «Wir machen gute Erfahrungen mit diesem Vorgehen», sagt Regina
Haller.
Bis
jetzt existieren zwar keine wissenschaftlichen Studien zur Wirksamkeit der
Neuen Autorität, gleichwohl ist Andrea Lanfranchi, Professor an der
Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik, von ihrem Nutzen überzeugt. Er
preist dieses Konzept gar als «Königsweg im Umgang mit destruktivem Verhalten»,
weil hier nicht mehr nur die Probleme beschrieben, sondern auch Lösungen
aufgezeigt würden. «Das kommt bei den Lehrpersonen gut an.»
Hinter
einer «Ankündigung» stecken gleich mehrere Grundsätze der Neuen Autorität.
Zunächst einmal: Es müht sich nicht mehr jeder alleine ab. Stattdessen vernetzt
man sich breit und handelt «gemeinsam statt einsam» (Haller). Ein ganzes Team
stellt sich geschlossen vor die ganze Klasse und erklärt, was Sache ist.
Zugleich mobilisiert sie das Potenzial der Klasse.
«Solche
gemeinsamen Auftritte haben eine enorme Wirkung», sagt die Schulleiterin. «Die
Jugendlichen müssen merken, dass die Erwachsenen sich gegenseitig informieren,
ihre Massnahmen absprechen und alles unternehmen, um ein inakzeptables
Verhalten zu unterbinden.»
Ein
zweiter zentraler Punkt: Öffentlichkeit. Präsenz der vielen schafft
Transparenz, doch das braucht Überwindung. Gerade unter älteren Lehrkräften ist
das Einzelkämpfertum noch immer verbreitet, und da gilt rasch als Niederlage,
wenn das Kollegium erfährt, dass man seine Probleme nicht alleine lösen kann.
Ähnlich ist es bei den Eltern, die ebenfalls lieber für sich behalten, wenn zu
Hause die Fetzen fliegen. Regina Haller zitiert dazu einen Satz von Haim Omer:
«Wenn es daheim Konflikte gibt, dann schliessen wir die Fenster. Stattdessen
müssen wir sie öffnen, damit es auch die Nachbarn mitbekommen.» In der
Familientherapie rät Omer dazu, durchaus einmal Onkel, Tanten, Göttis oder die
Grosseltern mit an den Tisch zu bitten, um mit dem Sohn zu besprechen, warum er
nie pünktlich zu Hause ist und am Morgen dauernd die Schule verpennt.
In
der Schule, sagt Regina Haller, gehe nichts ohne Eltern, gerade wenn es akute
Schwierigkeiten gebe. «Sich gegenseitig nur die Schuld in die Schuhe zu
schieben, untergräbt die Autorität der Eltern wie der Lehrer. Und vor allem
bleibt das Kind auf der Strecke, wenn beide Seiten bloss übereinander lästern.
Dabei sitzen wir doch alle im gleichen Boot und wollen den bestmöglichen
Schulerfolg für das Kind», sagt die Schulleiterin. Deshalb werden die Eltern
(oder ein Onkel oder die Grossmutter) in die Klasse eingeladen, um sich selber
ein Bild zu machen, auch wenn das dem Schüler oft genug peinlich ist.
Das
starke Gefühl der Scham
Doch
ist diese demonstrative Präsenz nicht ein moderner Pranger? Eine Art verbale
Prügelstrafe, indem Erwachsene die Kinder und Jugendlichen gezielt beschämen?
Gerade in Deutschland, wo man historisch bedingt weit empfindlicher auf alles
(angeblich) Autoritäre reagiert als in der Schweiz, geriet die Neue Autorität
auch schon in scharfe Kritik. Die linke Bildungspolitikerin Sabine Boeddinghaus
spricht von «Psycho-Rohrstock» und der Erziehungswissenschafter Stefan Dierbach
von einer «kalkulierten Beschämung», mit der man Schüler zur Änderung ihres
Verhaltens dränge.
Gewiss,
sagt Regina Haller, man könne vieles falsch auslegen und auch Ungutes mit der
Neuen Autorität bewirken. Sie und ihr grosses Kollegium brauchten etliche
Jahre, um ein Gespür für dieses Instrumentarium zu entwickeln. Was in der einen
Konstellation passt, kann in einer anderen völlig daneben sein. «Entscheidend
ist immer die Haltung dahinter: dass man zusammen mit den Eltern das Beste für
das Kind will.» In einer «Ankündigung» gehe es gerade nicht um Blossstellung
oder Bestrafung, sondern um die «Förderung einer Schul- und Klassenkultur, in
der sich alle akzeptiert fühlen».
Eines
will die Schulleiterin jedoch nicht wegreden: Das starke Gefühl der Scham
spielt eine wichtige Rolle in der Neuen Autorität. «Scham ist nicht a priori
schlecht. Scham und soziale Kontrolle gehören zum gesellschaftlichen
Lernprozess, um Kinder und Jugendliche einzumitten bei der Frage, was sich gehört
und was nicht. Früher wusste jeder im Dorf, wer im Volg geklaut hat. In der
heutigen städtischen Anonymität wird jedoch alles unverbindlich.»
Neue
Autorität, das bedeutet sehr wohl auch Führen, doch das fällt nach Einschätzung
von Regina Haller Eltern wie Lehrkräften oft schwer. Gerade unter jüngeren
Sozialpädagogen ist rasch von «struktureller Gewalt» die Rede, wenn ein
Erwachsener von einem Kind das Einhalten von Regeln verlangt. Und die zum
Beispiel finden, auch ein gamesüchtiger Jugendlicher habe ohne Wenn und Aber
ein Recht auf bestes WLAN in seinem Zimmer. Haller spürt «eine zunehmende
Angst, Position gegenüber den Jugendlichen zu beziehen», stattdessen wolle man
sie quasi gleichberechtigt wie Erwachsene behandeln. «Nichts gegen Wohlwollen,
aber das kann auch ins Überbehüten kippen. Gerade jüngere Lehrer getrauen sich
nicht zu sagen, ‹hey, dein Verhalten ist nicht in Ordnung, ich will es
anders!›», sagt die Schulleiterin. «Doch man muss Kindern und Jugendlichen auch
etwas zutrauen! Und überdies haben sie ein Recht auf Führung, Schutz und
Orientierung.»
Sofort
intervenieren
Schulbesuch
bei der St. Galler Primar- und Sekundarlehrerin Franziska Stöckli, 45, die seit
zwölf Jahren nach den Prinzipien der Neuen Autorität unterrichtet, bis 2018
eine «Time-out»-Klasse in Frauenfeld, seither eine Klasse an der
Tagessonderschule der Stiftung Buechweid im zürcherischen Russikon. Bei
Franziska Stöckli landen jene Jugendlichen, die in der Volksschule als nicht
mehr tragbar gelten. Doch wer nun einen wilden und lauten Haufen erwartet, der
liegt falsch. Es herrscht eine fast schon wundersame Mischung aus gelöster und
doch konzentrierter Ruhe. Selbst der Siebtklässler, der an seinem ersten
Schnuppertag noch alle Kabel aus dem Computer gerissen und Stühle quer durch
das Zimmer geworfen hatte, sitzt kerzengerade am Tisch und löst
Deutschaufgaben. Auch für ihn gilt, was diese leidenschaftliche Lehrerin ihren
acht Sonderschülern jeden Morgen sagt und dabei strahlt: «Ich freue mich, dass
ihr hier seid! Ihr seid mir wirklich wichtig!» Man nimmt es ihr ab.
Noch
nie in ihren zwanzig Berufsjahren habe sie einen Schüler vor die Türe stellen
müssen, noch nie sei ihr etwas aus der Handtasche geklaut worden, erzählt
Franziska Stöckli. Und wolle mal einer partout provozieren, dann sage sie zu
ihm: «Du kannst dich noch so blöd benehmen, ich werde dich trotzdem immer
mögen.»
Das
heisst mitnichten, sie lasse alles durch und fordere nichts ein. Auf die Frage,
was sie von ihren früheren Lehrern unterscheide, antworten die Schüler spontan:
«Frau Stöckli ist strenger.» Sie interveniert sofort, wenn ein Kind auf dem
Stuhl herumrutscht. Oder dreinredet und die andern stört. Oder die Aufgaben
nicht gemacht hat.
Ihre
Präsenz ist enorm, fast rund um die Uhr, nichts scheint ihr zu viel zu sein für
ihre kleine Klasse. Doch was manch andere Berufskollegen als Zumutung
empfänden, ist für sie ein Energiespender. «Mich tragen die vielen positiven
Erfahrungen und Erfolge», sagt Franziska Stöckli, die sich anderseits auch
abgrenzt: «Ich nehme Anteil am Schicksal meiner Kinder, aber ich leide nicht mit.
Mir muss es selber gutgehen, sonst kann es auch dem Kind nicht gutgehen.»
Gesunder
Egoismus ist legitim
Auch
für Regina Haller ist dieser Gedanke wichtig. «Ein gesunder Egoismus der
Lehrperson ist absolut legitim. Ist sie unzufrieden oder dauernd nervös, tut
das auch der Klasse nicht gut.» Dazu stellt die Schulleiterin einen Vergleich
mit den Notfallanweisungen in einem Flugzeug an: zuerst die eigene
Sauerstoffmaske anziehen, bevor man dem Kind auf dem Nebensitz hilft.
Bei
allem Bemühen, das Verhalten der Jugendlichen zu beeinflussen, kontrollieren
könne man es nicht, betont Haim Omer seit Jahren. Kontrollieren können wir nur
unser eigenes Verhalten, und auch dies ist schwierig genug, wie schon so
mancher ausgerastete Vater oder Lehrer feststellen musste. Um solche
Eskalationen zu verhindern, hat Omer ein altes Sprichwort umgedreht: «Man muss
das Eisen schmieden, wenn es kalt ist.» Das Prinzip der verzögerten Reaktion
zählt zu den nützlichsten Instrumenten bei der Neuen Autorität. Für einen
Lehrer heisst das nicht, bei einer Schlägerei auf dem Pausenplatz nur
zuzuschauen. Oder bloss den Frust zu schlucken, wenn ihn die Schüler belächeln,
anstatt ihren Abfall in der Kantine wegzuräumen. Anstatt gleich mit Strafen zu
drohen, soll er vorerst nur sagen: «Ich habe mir das gemerkt und werde darauf
zurückkommen.» So kann er sich erst einmal im Kollegium besprechen und
anschliessend gelassener reagieren. Auch hier führt der Weg aus der Ohnmacht
über Präsenz. «Es geht nicht darum zu siegen», sagt Regina Haller, «sondern wir
müssen beharren.»
Buchhinweis:
Haim Omer / Regina Haller: Raus aus der Ohnmacht. Das Konzept Neue Autorität
für die schulische Praxis. Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019.
240 S.
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