Kita, Schule, Musikunterricht, Fussballtraining. Die Tage unserer Kinder sind immer stärker durchgetaktet. Da bleibt wenig Zeit, um unbeschwert, frei und vor allem unüberwacht von den Eltern zu spielen. Eine höchst bedenkliche Entwicklung, findet die Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm.
SRF: Spielen Kinder tatsächlich weniger draussen?
Margrit Stamm: In der Tat. Das hat damit zu tun,
dass die täglichen Strukturen der Kinder viel organisierter sind.
Das Problem ist aber nicht, dass Kinder weniger
draussen spielen, sondern dass sie viel weniger frei spielen. Dass sie im
ganzen Leben viel kontrollierter sind in ihren Aktivitäten. Das freie Spiel ist
in den letzten 15 Jahren um rund ein Drittel zurückgegangen.
Das intrinsische, selbstgewählte Tun geht zurück.
Weshalb hat das freie Spiel so viel Gewicht
verloren?
Weil es heute bei sehr vielen Eltern als
altmodische Tätigkeit gilt, als Zeitverschwendung. Heute muss man muss ja
möglichst früh Sprachen lernen.
Aber das freie Spiel ist die beste Förderung auf dem Weg zu einem selbständigen Menschen, der sich eigenständig entfalten kann. Es müsste eine viel grössere Rolle spielen.
Was hat es für Folgen, wenn Kinder weniger frei
spielen?
Das hat sicher die Konsequenz, dass Kinder von den
Erwachsenen immer abhängiger werden – nicht nur von den Eltern, sondern auch
von Lehrerinnen und Lehrern, von den Förderinstitutionen.
Das wiederum führt dazu, dass Kinder immer stärker erwarten, dass man ihnen sagt, was sie machen sollen. Das intrinsische, selbstgewählte Tun geht zurück.
Was müsste man denn anders machen?
Ein Teil ist, dass man als Familie überlegt, wie
man Inseln schaffen kann. Wo die Kinder, wo die Eltern etwas für sich machen.
Wo nichts organisiert ist.
Nur so können die Kinder von sich aus selbst aktiv
werden. Das ist eine grosse Herausforderung für Eltern und Kinder. Aber eine
wirksame Herausforderung.
Viele Eltern haben zu viele Ängste um ihre
Sprösslinge.
Man ist doch so vorsichtig, weil man Angst um das
Kind hat und es schützen will.
Genau. Aber dem entgegenzuwirken ist einer der
wesentlichen Schritte. Die Eltern müssen loslassen lernen und den Kindern Raum
geben.
Eltern machen zwar vieles gut heute. Sie sind um
ihre Kinder bemüht. Aber viele Eltern haben zu viele Ängste um ihre Sprösslinge
und verbauen ihnen so einen wichtigen Entwicklungsschritt.
Was also konkret tun, damit das nicht passiert?
Man müsste als ersten Schritt zu einem freieren
Spiel sich selbst hinterfragen. Sich fragen, wie stark man sich immer sorgt,
dass das Kind sich einen blauen Fleck holt, weil es irgendwo 50 Zentimeter
abstürzen könnte.
Ich sage immer: Jedes Kind hat in der Erziehung ein
Recht auf blaue Flecken. Das ist ein provokativer Satz, aber ein wichtiger.
Wir unterhalten uns in einem Seilpark. Hier
probieren Kinder selbst etwas aus, gehen vielleicht ein Risiko ein. Wie wichtig
ist das?
Das ist zentral. Seilparks kommen der Idee des
freien Spiels am nächsten. Hier können sich die Kinder – wie man im Lehrplan 21
sagt – «überfachliche Kompetenzen» aneignen. Also Hartnäckigkeit,
Frustrationstoleranz oder auch Teamplay.
Das Gespräch führte Tobias Müller.
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