Seit dem Schulstart Mitte August gilt es für die Oberstufenschüler der dritten Klasse ernst: Wer nicht an eine weiterführende Schule geht, muss eine Lehrstelle suchen. Ein Leichtes, könnte man meinen, angesichts der Zigtausend Lehrstellen, die jährlich nicht besetzt werden können. Tatsächlich steht den Schulabgängern bei vielen Lehrbetrieben aber eine tückische Hürde bevor: der Multicheck.
Fragwürdiger Eignungstest zerstört Berufsträume von Jugendlichen, Blick, 27.8. von Flavio Razzino
Dieser Test wird in vielen Lehrbetrieben zwingend für eine Bewerbung
gefordert. So zum Beispiel für eine kaufmännischen Lehre in den
Gemeindeverwaltungen Egerkingen SO oder Winterthur ZH. Aber auch die Credit Suisse,
die Ruag und unzählige weitere Betriebe verlangen den Multicheck in den
Bewerbungsunterlagen. Der Test entscheidet darüber, wie schnell ein
Schulabgänger aussortiert wird oder nicht.
Aussagekraft des Checks umstritten
Der Multicheck ist aber keine Prüfung, die an Schulen durchgeführt wird
– sondern eine «Eignungsanalyse» der privaten Firma Gateway in Bern. Und er ist
hochumstritten. Obwohl er in zig Lehrbetrieben zum Standard gehört, wurde er
wissenschaftlich kaum auf die Probe gestellt. Eine Lizenziatsarbeit aus dem
Jahr 2006 sowie eine Masterarbeit aus dem Jahr 2014 haben sich mit ihm
beschäftigt. Während in einer Arbeit die Aussagekraft des Multichecks teilweise
stark angezweifelt wird, sieht die andere Arbeit vor allem Stärken im Test –
obwohl er «nur bedingt auf einer wissenschaftlich fundierten Grundlage beruht».
Der Verfasser dieser Arbeit wurde nach seiner Masterarbeit bei Multicheck
angestellt.
Dann gibt es noch eine Fallstudie aus dem Jahr 2010 von Michael
Siegenthaler, der sich den Multicheck für das Berufsfeld «Detailhandel» zur
Brust genommen hatte. Das vernichtende Urteil: «Weder ist er dazu in der Lage,
einen Beitrag zur Vorhersage der Wahrscheinlichkeit unentschuldigter
Berufsschulabsenzen zu leisten, noch hängen gute Ergebnisse im
Detailhandels-Multicheck statistisch mit der Wahrscheinlichkeit einer
Lehrvertragsauflösung zusammen. Schliesslich trägt der Test auch wenig dazu
bei, die Noten vorherzusagen, welche die Lernenden im ersten und dritten
Semester der Berufsschule erzielen.»
«Dann wird der Test plötzlich zur Glücksache»
Auch Martina Krieg, Leiterin Schulentwicklung im Amt für gemeindliche
Schulen im Kanton Zug, hält wenig vom Check. «Ein grosses Problem der
Eignungsanalysen ist, dass sie teilweise zwar auf den Lehrplan aufbauen, aber
Schüler zu einem Zeitpunkt den Test machen, an dem sie noch nicht alle
Kompetenzen behandelt haben. Schüler müssen darin Aufgaben können, die sie
unter Umständen nicht geübt haben. Dann wird das Bestehen des Tests plötzlich
zur Glücksache», sagt sie zu BLICK.
Problematisch sei das insbesondere dann, wenn Lehrbetriebe einen
bestandenen Multicheck zur Voraussetzung machen, um sich überhaupt bewerben zu
können. «Damit verliert das Schulzeugnis an Gewicht, obwohl dieses viel
aussagekräftiger ist als der Multicheck», so Krieg. Während das Schulzeugnis
ein Gutachten ist, dass über sechs Monate erstellt wurde, ist das Resultat des
Multichecks nichts mehr als eine Momentaufnahme.
Auch für Weiterbildungen wird der Multicheck gefordert
Und er kann Karrieren verbauen. Passiert ist das etwa Marko L.* (19) aus
Winterthur. Ohne Multicheck könne man sich heute kaum noch auf eine Lehrstelle
bewerben, sagt er zu BLICK. Weil er den Test aber auch im zweiten Anlauf nicht
bestanden hat, habe er nun grösste Probleme, irgendwo unterzukommen. Und das,
obwohl seine Schulzeugnisse nicht schlecht seien. «Ich bin kein sehr guter
Schüler, aber längst nicht so schlecht, wie das Multicheck-Ergebnis behauptet.»
Auch Manuela F. (47)* muss ihre Berufspläne neu überdenken. Die
ausgebildete Kauffrau aus dem Bezirk Bülach will sich nach Jahren der
Stellensuche auf ihrem gelernten Beruf nun im Bereich Pflege ausbilden. «Ich
finde im Büro schlicht keine Stelle mehr, ich habe schon Hunderte von
Bewerbungen geschrieben. In der Pflege hingegen suchen sie immer Leute», sagt
F. Doch auch das Bildungszentrum Careum verlangt für die Höhere Fachschule
Pflege zwingend einen Multicheck. Kostenpunkt: 150 Franken. Zugelassen wird
nur, wer in diesem Eignungstest mindestens 45 Punkte macht.
So funktioniert der Multicheck
Der Multicheck ist ein ausschliesslich am Computer durchführbarer Test,
den Schulabgänger in ausgewählten Testzentren des Unternehmens Gateway absolvieren
müssen. Die Absolventen müssen einerseits Multiple-Choice-Fragen beantworten,
aber auch Textverständnis-Fragen richtig lösen. Hinzu kommen Logik-Aufgaben.
Absolventen müssen bei dargestellten Figuren Gemeinsamkeiten erkennen, dasselbe
bei Wörtern. Im Merktest müssen sich Schüler an Gesichter erinnern, die zu
Beginn des Multichecks eingeblendet werden – und dann am Ende des Tests
nochmals gezeigt werden. Hinzu kommen schulische Themen: Verben konjugieren,
Mathematik-Aufgaben lösen, Fragen zu Fremdsprachen. Je nach Berufslehre dauert
der Test, der für die jeweilige Branche individuell erstellt wird, zwischen 90
Minuten und vier Stunden.
F. schaffte 41 Punkte. Ihre Ausbildung ist darum schon gescheitert. Zwar
könnte sie den Test wiederholen – doch einerseits koste das weitere 150
Franken, und andererseits hat F. Angst, dass es dann nicht besser wird. «Man
bekommt von Multicheck keine detaillierte Prüfung zurück, auf der zu erkennen
ist, woran ich arbeiten muss.»
Merkwürdige Auswertung
Tatsächlich wirft die Auswertung ihres Tests Fragen auf. So hat F. beim
Testabschnitt «Kognitive Flexibilität» 97 Prozent aller Fragen richtig
beantwortet. Angerechnet werden ihr jedoch nur 55 von maximal 100 Punkten.
Dies, weil Gateway die Resultate «normiert», wie CEO Krebs erklärt. «Anhand
ihrer 55 Prozentrangpunkte sieht man, dass 45 Prozent der Personen in der
Normstichprobe ein höheres Resultat erzielt haben als die Kandidatin – also
mehr als 97 Prozent der Aufgaben korrekt und schneller gelöst haben.» F.s
Leistung wird darum stark relativiert.
Nachvollziehbar ist dieser Vorgang kaum. Online stellt die Firma für die
Interpretationshilfe von Ergebnissen nämlich Musterzertifikate bereit. Auch
dort wurden die fiktiven Ergebnisse von Max Muster «normiert». Doch es zeigt
sich: Max Muster bekommt für 99 Prozent richtig beantworteter Fragen im Bereich
«Kognitive Flexibilität» ganze 78 Punkte gutgeschrieben. Das macht eine
Differenz von 23 Punkten im Vergleich zu Manuelas Ergebnis.
Wie ist das möglich? Eine Antwort darauf bekommt man nicht. Den
Algorithmus, der das Gesamtergebnis berechnet, bezeichnet die Multicheck-Firma
als Geschäftsgeheimnis.
So wehrt sich Multicheck
Taugt der Multicheck überhaupt etwas? Oder verdient die Firma am Ende
einfach nur an Schulabgängern, die gezwungen sind, den Eignungstest zu machen?
Gateway-CEO Adrian Krebs wehrt sich: «Der Multicheck ist wohl das
meistbeobachtete Testverfahren der Schweiz. Seit über 20 Jahren wachen die
Ausbildungsbetriebe, die Eltern, Lehrpersonen, die Politik sowie auch die
Medien über unsere Arbeit», sagt er zu BLICK. Die Firma habe zudem eigene
Analysen durchgeführt, was die Aussagekraft des Tests betreffe – und die Analysen
würden gute bis sehr gute Werte zeigen. Die drei einzigen wissenschaftlichen
Arbeiten, die sonst über den Multicheck verfügbar sind und ihm ein schlechteres
Zeugnis ausstellen, erklärt Krebs als veraltet. «Wir entwickeln den Multicheck
immer weiter», sagt er. Dass Aufgaben des Multichecks nicht immer
lehrplanbasiert seien, sieht er als Vorteil – und nicht als Nachteil:
«Schulwissen ist für die Eignung für eine spezifische Berufslehre zentral, aber
es ist nicht das einzige Eignungsmerkmal.»
Gutes Geschäft mit den Lehrlingen
Fakt ist: Die Firma macht doppelt Kasse, wenn Absolventen den Check beim
ersten Mal nicht bestehen. Mit den jährlich 25'000 bis 30'000 durchgeführten
Multichecks verdient sie jeweils drei Millionen Franken. 4500 bis 5400
Testresultaten verteilt sie dabei die Note ungenügend. Für die durchgerasselten
Jugendlichen bedeutet dies: Endstation bei der Lehrstellensuche.
Kommentar: Mehr Hohn als Check
BLICK-Reporter Flavio Razzino über den Multicheck, der jährlich
Tausenden Jugendlichen die Chance auf eine Lehrstelle verbaut.
Der Multicheck ist mehr Schreck als Check. Er verbaut manchen
Jugendlichen den Schritt in die Berufswelt. Und Lehrbetrieben hilft er nicht
verlässlich herauszufinden, ob ein Schulabgänger wirklich geeignet ist für die
Lehre. Da kann die Firma Gateway den Test noch lange als «Eignungsanalyse»
anpreisen.
Das Problem ist, was die Firma mit dem Testresultat macht: Sie stellt es
in Konkurrenz zu den Resultaten anderer Multicheck-Absolventen. Daraus zimmert
die Firma eine Punktzahl. Je besser die Mehrheit der Absolventen, desto weniger
Punkte bekommen die schwächeren Multicheck-Absolventen – und umgekehrt.
Gerade das belegt aber: Dieser Test will gar nicht zeigen, wer sich
eignet. Er macht vielmehr einen Wettbewerb daraus, wer besonders gut ist in der
Disziplin «Multicheck-Lösen». Eine unnütze Information – für den Lehrbetrieb
und den Schulabgänger. Zumal der Test dessen praktische Fähigkeiten ignoriert.
Geradezu ein Hohn ist es darum, dass Lehrbetriebe die Jugendlichen auch
noch dazu zwingen, diesen unnützen Wettbewerb selber zu bezahlen.
Flavio Razzino,
BLICK-Reporter
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen