17. August 2020

Schweiz macht zu wenig für Chancengerechtigkeit

Jürg Schoch hat dreissig Jahre lang das Gymnasium Unterstrass geleitet. Die persönliche Entwicklung komme in der Schule zu kurz, sagt der Experte für Chancengerechtigkeit im Gespräch mit Nils Pfändler

Jürg Schoch sitzt an einem Steintisch auf dem Pausenplatz des Gymnasiums Unterstrass in Zürich und schenkt sich ein Glas Wasser ein. «Freiraum», steht auf dem T-Shirt, das er beim Interviewtermin trägt. Das Motto passt: Während seiner langen Laufbahn hat der 65-Jährige die Zürcher Bildungslandschaft mit unkonventionellen Ideen geprägt. Es war sein Vorschlag, das Gespräch unter freiem Himmel zu führen. Der begrünte Hof, in dem wir uns nun befinden, ist der Vorgarten von Schochs zweitem Zuhause. Drei Jahrzehnte lang hat er als Direktor das private Gymnasium und das Institut Unterstrass geleitet. Nun übergibt er in einem fliegenden Wechsel an Eva Ebel. Die promovierte Theologin und Dozentin für Didaktik ist die erste Frau an der Spitze der 150 Jahre alten Institution.

"Erwachsene tendieren dazu, Kinder zu unterschätzen", NZZ, 15.8. von Nils Pfändler

Herr Schoch, am Montag startet in Zürich das neue Schuljahr. Hat die Corona-Krise die Schule nachhaltig verändert, oder ist wieder alles beim Alten?
Der Schulstart wird sicher nicht sein wie jedes Jahr. Allein die äusseren Umstände und die Sicherheitsvorkehrungen verhindern dies. Sobald eine Lehrperson ihre Klasse wieder vor sich hat, wird sich aber wahrscheinlich alles ziemlich schnell einpendeln.

In den letzten Monaten wurde viel über Lehrmethoden, Fernunterricht und Bildungslücken diskutiert. Hat man die sozialen Komponenten der Schule in dieser Debatte vernachlässigt?
In meiner Wahrnehmung hat man sie erst in der Krise entdeckt. Was wir gemacht haben, nennt man zu Recht auch «emergency remote teaching» – notfallmässiges ferngesteuertes Unterrichten. Alle haben probiert, in dieser Notsituation den Stoff irgendwie zu vermitteln.

Hat das funktioniert?
In den letzten dreissig Jahren hat ein Umdenken stattgefunden: Heute denkt man vom Lernen und nicht mehr vom Lehren her. Das ging während des Fernunterrichts verloren. Ich hoffe, man kommt jetzt wieder zurück zur Frage, welche Lernangebote man machen muss, damit die Schüler einen höchstmöglichen Lernertrag haben.

Schochs Nachfolgerin, Eva Ebel, schreitet über den Pausenhof in Richtung Haupteingang.

Schoch: Eva!

Ebel dreht sich um, winkt und kommt auf den Steintisch zu. 

Ebel: Grüezi.

Grüezi, Frau Ebel. Wir können gerne zu dritt weiterdiskutieren.

Schoch: Wir sind gerade beim Thema Coronavirus.

Ebel setzt sich neben Schoch.

Hat die Corona-Krise den Graben zwischen Kindern aus bildungsnahen Haushalten und jenen aus weniger privilegierten Verhältnissen vergrössert?
Schoch: Ich befürchte es. Man muss davon ausgehen, dass Kinder aus sozioökonomisch schwächeren Verhältnissen benachteiligt sind.

Warum? 
Schoch: Es ist nicht selbstverständlich, dass sich eine Familie mit drei Kindern auch drei Computer leisten kann. Vielleicht ist nur einer vorhanden.
Ebel: Es gibt auch räumliche Probleme. Wenn alle Familienmitglieder gleichzeitig in einem Raum sitzen und eine Videokonferenz machen wollen, wird es ganz schön laut.
Schoch: Eine unserer Schülerinnen ist im «Chreis Cheib» mit drei Geschwistern in einer Zweizimmerwohnung aufgewachsen. Im Kinderzimmer standen zwei Kajütenbetten, die Eltern haben im Wohnzimmer geschlafen.

Wie hat sie sich auf die Gymiprüfung vorbereitet?
Schoch: Sie ist jeden Morgen um 5 Uhr aufgestanden und hat in der Küche gelernt.

Während der Krise machten Szenarien die Runde, dass wegen des Lockdowns eine ganze Generation verloren sei.
Schoch: 
Das ist Käse. Man weiss, dass motivierte Schülerinnen und Schüler in Nullkommanichts viel aufholen können.
Ebel: Und zusätzlich haben sie andere Dinge gelernt, die sie sonst nicht gelernt hätten.

Zum Beispiel?
Schoch: Viele haben einen grossen Schritt in die Selbständigkeit gemacht. Sich organisieren, sich strukturieren, die Motivation aufrechterhalten – solche Dinge sind für das spätere Leben ein enormer Gewinn.
Ebel: Die Herausforderung war echt, das ist der grosse Unterschied. Wir haben nicht nur so getan, als ob, sondern die Verantwortung tatsächlich den Schülerinnen und Schülern übergeben. In diesem Moment mussten sie selbständig werden.

Als Rückschluss könnte man sagen, dass die Selbständigkeit im Regelunterricht zu wenig gefördert wird.
Schoch: Man hat in den letzten Jahren vermehrt darauf hingearbeitet. Doch der Leitspruch, wonach Schüler ihren Weg «geführt in die Selbständigkeit» machen sollen, bleibt der grosse Widerspruch in der Schule.

Traut man den Kindern zu wenig zu?
Schoch: Es gibt Kinder, die mehr Stützen brauchen und erst Schritt für Schritt selbständiger werden. Andere sind schon früh sehr weit. Aber Erwachsene tendieren sicher dazu, Kinder zu unterschätzen.

Herr Schoch, Sie setzen sich seit Jahrzehnten für die Chancengerechtigkeit ein. Warum ist die Schule der richtige Ort, um solche Werte zu vermitteln?
Schoch: Es ist der einzige. Unser öffentliches Bildungssystem ist ein Schmelztiegel. Wenn es die Kinder nicht in der Schule lernen, wo dann?

Wird die Schule so nicht mit Aufgaben überladen?
Schoch: Es ist ein gesellschaftlicher Auftrag der Schule, die Lebenschancen der Kinder zu verteilen. Wenn das ungerecht und nicht anhand der Leistung passiert, dann haben wir ein gesellschaftliches Problem.

Sie haben einmal gesagt, dass es sich die Schweiz nicht leisten könne, die Chancengerechtigkeit zu vernachlässigen. Wie meinen Sie das? 
Schoch: Die Rechnung ist einfach: Jedes Kind, das sich seinen Möglichkeiten entsprechend entwickelt, eine gute Schule besucht und einen guten Beruf erlernt, wird später ein guter Steuerzahler. Wer zu wenig gefördert wird und an den Rand der Gesellschaft gelangt, wird unter Umständen für den Rest seines Lebens relativ teuer für unsere Gesellschaft. Das gilt es zu vermeiden.

Macht die Schweiz zu wenig, um die Chancengerechtigkeit zu verbessern?
Schoch: Ja.

Was müsste sich verbessern?
Schoch: Zuerst müsste anerkannt werden, dass wir ein Problem haben. Dann müssten sich die politischen Gremien darauf einigen, dass es sinnvoll wäre, Kinder aus bildungsfernen Schichten schon gezielt in den frühen Lebensjahren zu fördern.

Warum halten Sie die frühen Jahre für so wichtig?
Schoch: Der erste Kindergarten ist der Start in ein Velorennen mit mehreren Etappen. Einige Kinder stehen mit einem E-Bike an der Startlinie und andere mit einem verlotterten Dreirad. Diesen müsste man vorher wenigstens ein Velo mit drei Gängen geben, damit sie die Chance haben, am Ende auf dem Podest zu stehen.

Warum hinkt die Schweiz in Ihren Augen hinterher?
Schoch: Die Verantwortlichen – und jetzt bin ich ein bisschen böse – haben kein Interesse, daran etwas zu ändern. Das ist politisch so gewollt.

Wer würde das denn wollen?
Schoch: Es gibt Gemeinden in der Schweiz, die Quoten haben für ihre Sechstklässler. So viele sollen ins Gymnasium, so viele in die Sek A, B oder C. Da wird der politische Wille offensichtlich. Dreimal dürfen Sie raten, wer in die Sek A oder gar ins Gymnasium kommt.

Aber das duale System ist doch eine Stärke der Schweiz. Sollen in Ihren Augen noch mehr Kinder ans Gymnasium?
Schoch: 
Nein. Ich sage nicht, dass alle eine Matura machen sollen. Aber die Gymiprüfung ist eine Quotenprüfung. Und sie ist nicht gerecht, weil nicht alle dieselben Grundvoraussetzungen haben.

Eine Alternative wäre aber kaum umzusetzen.
Schoch: Es ist tatsächlich eine vertrackte Situation. Erfolgt die Aufnahme ans Gymnasium nach vorher festgelegten Leistungskriterien, schwanken die Schülerzahlen von Jahr zu Jahr. Das lässt sich kaum organisieren. Aber dann soll man wenigstens eingestehen, dass es keine faire Lösung ist.

Bildungsexperten und Politiker pochen darauf, in der Schule Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zu fördern. Das Gymnasium Unterstrass legt den Fokus auf Tanz, Musik oder Kunst. Ist das noch zeitgemäss?
Schoch: Die Zukunft der Schule lässt sich anhand von vier «K» beschreiben: kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation und Kollaboration. Das lässt sich nirgends so gut umsetzen wie in einem musischen Profil. Das fachliche Wissen können sich Schüler schnell selber aneignen. Aber wir brauchen kreative Köpfe, die morgen – oder lieber schon heute – die Probleme dieser Welt lösen.

Aber es müssen doch auch Inhalte vermittelt werden. 
Schoch: Klar, am Gymnasium müssen die Schüler die Studierfähigkeit erreichen. Aber es nützt alles nichts, wenn nach der Schulzeit das Selbstwertgefühl am Boden und die Neugier zerstört ist.

Haben Schulen diese Tendenz?
Schoch: Ja, ganz klar. Die Matura hat zwei Ziele: die Studierfähigkeit und die persönliche Reife zur Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung. Das zweite Ziel geht völlig unter.

Das klingt sehr pessimistisch. 
Schoch: Mich stimmt zuversichtlich, dass an den Gymnasien die persönliche Entwicklung der Schüler mehr in den Fokus gerückt ist. Gleichzeitig macht die Universität das Gegenteil. Ein Nebeneffekt der Bologna-Reform ist, dass in den ersten zwei Studienjahren zwecks Selektion praktisch nur Wissen angehäuft und reproduziert wird.

Die Schule Unterstrass ist bekannt für ihre familiäre Atmosphäre. Früher galten die Direktoren gar als Vaterfiguren. Wie würden Sie Ihre Rolle denn beschreiben?
Schoch: (Überlegt lange.) Ich war ein Ermöglicher, das trifft es wohl am besten. Ich wollte gute Leute anstellen und ihnen das Vertrauen schenken, dass sie das Beste aus jeder Situation machen.

Und was möchten Sie künftig für eine Rolle einnehmen, Frau Ebel?
Ebel: Das Gymnasium und das Institut Unterstrass sollen ihre Funktion als Labor für ein gutes öffentliches Schulsystem behalten. Deshalb ist es meine Aufgabe, unsere Lehrpersonen dazu zu ermutigen, Schule und Unterricht kritisch zu beobachten und zum Wohle der Kinder und Jugendlichen weiterzuentwickeln.

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