Jürg Schoch hat dreissig Jahre lang das Gymnasium Unterstrass geleitet. Die persönliche Entwicklung komme in der Schule zu kurz, sagt der Experte für Chancengerechtigkeit im Gespräch mit Nils Pfändler
"Erwachsene tendieren dazu, Kinder zu unterschätzen", NZZ, 15.8. von Nils Pfändler
Herr Schoch, am Montag startet in Zürich das neue
Schuljahr. Hat die Corona-Krise die Schule nachhaltig verändert, oder ist
wieder alles beim Alten?
Der Schulstart wird sicher nicht sein wie jedes Jahr. Allein die äusseren
Umstände und die Sicherheitsvorkehrungen verhindern dies. Sobald eine Lehrperson
ihre Klasse wieder vor sich hat, wird sich aber wahrscheinlich alles ziemlich
schnell einpendeln.
In den letzten Monaten wurde viel über Lehrmethoden,
Fernunterricht und Bildungslücken diskutiert. Hat man die sozialen Komponenten
der Schule in dieser Debatte vernachlässigt?
In meiner Wahrnehmung hat man sie erst in der Krise entdeckt. Was wir gemacht
haben, nennt man zu Recht auch «emergency remote teaching» – notfallmässiges
ferngesteuertes Unterrichten. Alle haben probiert, in dieser Notsituation den
Stoff irgendwie zu vermitteln.
Hat das funktioniert?
In den letzten dreissig Jahren hat ein Umdenken stattgefunden: Heute denkt man
vom Lernen und nicht mehr vom Lehren her. Das ging während des Fernunterrichts
verloren. Ich hoffe, man kommt jetzt wieder zurück zur Frage, welche
Lernangebote man machen muss, damit die Schüler einen höchstmöglichen
Lernertrag haben.
Schochs Nachfolgerin, Eva Ebel, schreitet über den Pausenhof
in Richtung Haupteingang.
Schoch: Eva!
Ebel dreht sich um, winkt und kommt auf den Steintisch
zu.
Ebel: Grüezi.
Grüezi, Frau Ebel. Wir können gerne zu dritt
weiterdiskutieren.
Schoch: Wir sind gerade beim Thema Coronavirus.
Ebel setzt sich neben Schoch.
Hat die Corona-Krise den Graben zwischen Kindern aus
bildungsnahen Haushalten und jenen aus weniger privilegierten Verhältnissen
vergrössert?
Schoch: Ich befürchte es. Man muss davon ausgehen, dass Kinder aus
sozioökonomisch schwächeren Verhältnissen benachteiligt sind.
Warum?
Schoch: Es ist nicht selbstverständlich, dass sich eine Familie mit
drei Kindern auch drei Computer leisten kann. Vielleicht ist nur einer
vorhanden.
Ebel: Es gibt auch räumliche Probleme. Wenn alle Familienmitglieder
gleichzeitig in einem Raum sitzen und eine Videokonferenz machen wollen, wird
es ganz schön laut.
Schoch: Eine unserer Schülerinnen ist im «Chreis Cheib» mit drei
Geschwistern in einer Zweizimmerwohnung aufgewachsen. Im Kinderzimmer standen
zwei Kajütenbetten, die Eltern haben im Wohnzimmer geschlafen.
Wie hat sie sich auf die Gymiprüfung vorbereitet?
Schoch: Sie ist jeden Morgen um 5 Uhr aufgestanden und hat in der
Küche gelernt.
Während der Krise machten Szenarien die Runde, dass
wegen des Lockdowns eine ganze Generation verloren sei.
Schoch: Das ist Käse. Man weiss, dass motivierte Schülerinnen und
Schüler in Nullkommanichts viel aufholen können.
Ebel: Und zusätzlich haben sie andere Dinge gelernt, die sie sonst
nicht gelernt hätten.
Zum Beispiel?
Schoch: Viele haben einen grossen Schritt in die Selbständigkeit
gemacht. Sich organisieren, sich strukturieren, die Motivation aufrechterhalten
– solche Dinge sind für das spätere Leben ein enormer Gewinn.
Ebel: Die Herausforderung war echt, das ist der grosse Unterschied.
Wir haben nicht nur so getan, als ob, sondern die Verantwortung tatsächlich den
Schülerinnen und Schülern übergeben. In diesem Moment mussten sie selbständig
werden.
Als Rückschluss könnte man sagen, dass die
Selbständigkeit im Regelunterricht zu wenig gefördert wird.
Schoch: Man hat in den letzten Jahren vermehrt darauf
hingearbeitet. Doch der Leitspruch, wonach Schüler ihren Weg «geführt in die
Selbständigkeit» machen sollen, bleibt der grosse Widerspruch in der Schule.
Traut man den Kindern zu wenig zu?
Schoch: Es gibt Kinder, die mehr Stützen brauchen und erst Schritt
für Schritt selbständiger werden. Andere sind schon früh sehr weit. Aber
Erwachsene tendieren sicher dazu, Kinder zu unterschätzen.
Herr Schoch, Sie setzen sich seit Jahrzehnten für die
Chancengerechtigkeit ein. Warum ist die Schule der richtige Ort, um solche
Werte zu vermitteln?
Schoch: Es ist der einzige. Unser öffentliches Bildungssystem ist
ein Schmelztiegel. Wenn es die Kinder nicht in der Schule lernen, wo dann?
Wird die Schule so nicht mit Aufgaben überladen?
Schoch: Es ist ein gesellschaftlicher Auftrag der Schule, die Lebenschancen
der Kinder zu verteilen. Wenn das ungerecht und nicht anhand der Leistung
passiert, dann haben wir ein gesellschaftliches Problem.
Sie haben einmal gesagt, dass es sich die Schweiz
nicht leisten könne, die Chancengerechtigkeit zu vernachlässigen. Wie meinen
Sie das?
Schoch: Die Rechnung ist einfach: Jedes Kind, das sich seinen
Möglichkeiten entsprechend entwickelt, eine gute Schule besucht und einen guten
Beruf erlernt, wird später ein guter Steuerzahler. Wer zu wenig gefördert wird
und an den Rand der Gesellschaft gelangt, wird unter Umständen für den Rest
seines Lebens relativ teuer für unsere Gesellschaft. Das gilt es zu vermeiden.
Macht die Schweiz zu wenig, um die
Chancengerechtigkeit zu verbessern?
Schoch: Ja.
Was müsste sich verbessern?
Schoch: Zuerst müsste anerkannt werden, dass wir ein Problem haben.
Dann müssten sich die politischen Gremien darauf einigen, dass es sinnvoll
wäre, Kinder aus bildungsfernen Schichten schon gezielt in den frühen
Lebensjahren zu fördern.
Warum halten Sie die frühen Jahre für so wichtig?
Schoch: Der erste Kindergarten ist der Start in ein Velorennen mit
mehreren Etappen. Einige Kinder stehen mit einem E-Bike an der Startlinie und
andere mit einem verlotterten Dreirad. Diesen müsste man vorher wenigstens ein
Velo mit drei Gängen geben, damit sie die Chance haben, am Ende auf dem Podest
zu stehen.
Warum hinkt die Schweiz in Ihren Augen hinterher?
Schoch: Die Verantwortlichen – und jetzt bin ich ein bisschen böse
– haben kein Interesse, daran etwas zu ändern. Das ist politisch so gewollt.
Wer würde das denn wollen?
Schoch: Es gibt Gemeinden in der Schweiz, die Quoten haben für ihre
Sechstklässler. So viele sollen ins Gymnasium, so viele in die Sek A, B oder C.
Da wird der politische Wille offensichtlich. Dreimal dürfen Sie raten, wer in
die Sek A oder gar ins Gymnasium kommt.
Aber das duale System ist doch eine Stärke der
Schweiz. Sollen in Ihren Augen noch mehr Kinder ans Gymnasium?
Schoch: Nein. Ich sage nicht, dass alle eine Matura machen sollen.
Aber die Gymiprüfung ist eine Quotenprüfung. Und sie ist nicht gerecht, weil
nicht alle dieselben Grundvoraussetzungen haben.
Eine Alternative wäre aber kaum umzusetzen.
Schoch: Es ist tatsächlich eine vertrackte Situation. Erfolgt die
Aufnahme ans Gymnasium nach vorher festgelegten Leistungskriterien, schwanken
die Schülerzahlen von Jahr zu Jahr. Das lässt sich kaum organisieren. Aber dann
soll man wenigstens eingestehen, dass es keine faire Lösung ist.
Bildungsexperten und Politiker pochen darauf, in der
Schule Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik zu fördern. Das
Gymnasium Unterstrass legt den Fokus auf Tanz, Musik oder Kunst. Ist das noch
zeitgemäss?
Schoch: Die Zukunft der Schule lässt sich anhand von vier «K»
beschreiben: kritisches Denken, Kreativität, Kommunikation und Kollaboration.
Das lässt sich nirgends so gut umsetzen wie in einem musischen Profil. Das
fachliche Wissen können sich Schüler schnell selber aneignen. Aber wir brauchen
kreative Köpfe, die morgen – oder lieber schon heute – die Probleme dieser Welt
lösen.
Aber es müssen doch auch Inhalte vermittelt
werden.
Schoch: Klar, am Gymnasium müssen die Schüler die Studierfähigkeit
erreichen. Aber es nützt alles nichts, wenn nach der Schulzeit das
Selbstwertgefühl am Boden und die Neugier zerstört ist.
Haben Schulen diese Tendenz?
Schoch: Ja, ganz klar. Die Matura hat zwei Ziele: die
Studierfähigkeit und die persönliche Reife zur Übernahme gesellschaftlicher
Verantwortung. Das zweite Ziel geht völlig unter.
Das klingt sehr pessimistisch.
Schoch: Mich stimmt zuversichtlich, dass an den Gymnasien die
persönliche Entwicklung der Schüler mehr in den Fokus gerückt ist. Gleichzeitig
macht die Universität das Gegenteil. Ein Nebeneffekt der Bologna-Reform ist,
dass in den ersten zwei Studienjahren zwecks Selektion praktisch nur Wissen
angehäuft und reproduziert wird.
Die Schule Unterstrass ist bekannt für ihre familiäre
Atmosphäre. Früher galten die Direktoren gar als Vaterfiguren. Wie würden Sie
Ihre Rolle denn beschreiben?
Schoch: (Überlegt lange.) Ich war ein Ermöglicher, das trifft es
wohl am besten. Ich wollte gute Leute anstellen und ihnen das Vertrauen
schenken, dass sie das Beste aus jeder Situation machen.
Und was möchten Sie künftig für eine Rolle einnehmen,
Frau Ebel?
Ebel: Das Gymnasium und das Institut Unterstrass sollen ihre
Funktion als Labor für ein gutes öffentliches Schulsystem behalten. Deshalb ist
es meine Aufgabe, unsere Lehrpersonen dazu zu ermutigen, Schule und Unterricht
kritisch zu beobachten und zum Wohle der Kinder und Jugendlichen
weiterzuentwickeln.
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