17. August 2020

"Strafen sind in der Schule ein No-Go"

Pandemie, Bildungsschere und Machtkämpfe zwischen Eltern und Lehrern: Die Schule ist problembeladener denn je. Dieter Rüttimann, unser Lieblingspädagoge, sagt, wie es besser geht. Mit mehr Humor zum Beispiel. 

Herr Rüttimann, die Sommerferien sind vorbei. Die Schülerinnen und Schüler müssen sich wieder dran gewöhnen, früh aufzustehen. Wäre es nicht angenehmer für uns alle, die Schule begänne später?
Dieter Rüttimann: Es gibt Kinder, die sind bereits frühmorgens leistungsfähig, doch mit der Pubertät verschiebt sich das Schlafbedürfnis nach hinten, darüber sind sich Neurologen im Klaren. Vor neun Uhr hat der Unterricht wenig Sinn, ausserdem würden wir ein paar Verkehrsprobleme lösen, wenn die Schule später begänne. 

«Ist das Kind schlecht, hat das mit dem Lehrer zu tun», NZZaS, 16.8. von Sacha Batthyany und Martin Helg

Und warum tut sie es nicht?
Wenn es um Schulreformen geht, lautet die Frage selten, was gut für die Kinder ist. Sondern was die Lehrerinnen und Lehrer wollen – und die wollen um 15 Uhr 30 nach Hause, also muss der Unterricht früh beginnen.

Frühes Aufstehen gilt als Zeichen von Disziplin.
Das ist ein preussischer Gedanke. Auch die 45- Minuten-Lektion geht auf einen preussischen Offizier zurück, der mit Schule nichts am Hut hatte. Dabei haben wir ganz individuelle Rhythmen. Ich bevorzuge es, 90 Minuten am Stück zu unterrichten, mit ein paar Yogaübungen dazwischen und dann einer langen Pause. Das Yoga ist für die Zappelkinder, die ADHSler, die mir immer sagen: «Wenn ich mich nach 30 Minuten nicht bewegen kann, habe ich ein Problem.»

Sie sind schon Ihr ganzes Leben lang Lehrer. Wie kommen die Schüler nach den Sommerferien jeweils zurück in die Schule: freudig, weil es wieder losgeht, oder betrübt, weil die beste Zeit im Jahr vorbei ist?
Es sind spezielle Tage, diese ersten Schultage. Die neuen Schüler müssen sich zurechtfinden, die anderen freuen sich auf das Wiedersehen mit ihren Freunden. Und in diesem Corona-Jahr ist sowieso alles ganz besonders. Es war berührend, mit anzusehen, wie sehr sich die Schülerinnen und Schüler nach dem Lockdown gefreut haben, zurück ins Klassenzimmer zu kommen. Etwas, das so selbstverständlich war wie der Gang zur Schule, fiel plötzlich weg. Da wurde vielen Kindern der Wert der Schule erst deutlich.

Wie ist das bei Ihnen – vermissen Sie die Schüler in den Sommerferien, oder sind Sie froh, ­einmal ohne Klassenzimmer-Schweissgeruch zu leben? 
Ich vermisse die Kinder enorm und freue mich auch nach über vierzig Berufsjahren jeden Morgen, wenn sie zur Tür hineinkommen. Ich will, dass die Schüler schon bei der Begrüssung merken, dieser Dieter, der sieht mich. Wir reden über ihre Hobbys, Fussball oder ihre Sorgen und treten in Beziehung. Das ist der Schlüssel zu allem, denn Lernen ist ein zutiefst sozialer Prozess.

Was heisst das?
Empirische Studien zeigen, dass das selbstorganisierte Lernen wenig wirksam ist. Viele dieser langweiligen Übungen und unendlichen Reihen von Matheaufgaben führen zu einer Erledigungsmentalität, münden aber nicht in einen tieferen Verstehensprozess. Natürlich müssen die Kinder lernen, auch einmal allein an einem Problem zu arbeiten, viel entscheidender aber ist, miteinander nach Lösungen zu suchen. Die Lernkurve steigt, wenn Schüler und Lehrer interagieren und in Beziehung treten. Das kann man natürlich auch über Bildschirme, aber es ist nicht dasselbe.

Käme es zu einer weiteren Schulschliessung aufgrund einer zweiten Corona-Welle: Was würden Sie anders machen?
Abgesehen von ein paar Startschwierigkeiten hat alles sehr gut funktioniert. Wir mussten uns erst an die neue Situation gewöhnen und mit den Schülern ein paar Vereinbarungen treffen: Zähne putzen und Zimmer aufräumen, bevor der Unterricht beginnt. Einer hatte mal die Füsse auf dem Tisch, beim anderen trat die Mutter ins Zimmer. Danach aber lief es erstaunlich gut, vor allem bei den Älteren. Bei den Erst- und Zweitklässlern war es schwieriger, die Motivation und Disziplin aufrechtzuerhalten vor dem Bildschirm. Da müssen wir uns noch verbessern. Neulich hat mir ein Vater eine lustige Geschichte über seinen Sohn erzählt, der im Gymi ist und einen 45-minütigen Film von sich aufnahm, wie er dasitzt und immer ein wenig nickt. Der Sohn hat das Filmchen während des virtuellen Unterrichts laufen lassen und ging dann ins Bett. Da musste ich laut lachen. Ich gebe meinen Schülern auch den Rat, zwischendurch immer wieder ernsthaft zu nicken, das mögen die Lehrer, und es steigert ihre Mündlichnote.

Was genau geht verloren, wenn man sich nur über den Bildschirm sieht?
Das Unmittelbare, der Blickkontakt. Und die Nähe und die Berührungen der Kinder untereinander. Nach dem Lockdown lagen sich fünf Buben, alle 11 oder 12 Jahre alt, auf einem Sofa richtig in den Armen, ganz ineinander verhakt, die brauchen das. Man weiss heute aus der Forschung, was für eine Wirkung Berührungen haben und wie sehr Kinder darauf angewiesen sind. Der virtuelle Unterricht kann den realen nicht ersetzen, aber wir denken über Mischformen nach: Gewisse Fächer könnte man halbtags virtuell unterrichten. Und Schüler, die wegen einer Krankheit nicht zum Unterricht erscheinen, werden ab nun virtuell im Klassenzimmer anwesend sein. Wir sind für eine zweite Welle gerüstet. 

In manchen Schulen der USA herrscht eine «no-touch rule»: Kinder dürfen weder einander noch Lehrpersonen berühren.
Schrecklich. Mir ist bewusst, dass Berührungen immer mehr zum Tabu werden. Ich hatte neulich eine Lehrerin in der Weiterbildung, die sagte, sie umarme ihre Schüler und Schülerinnen regelmässig, wenn sie das Gefühl habe, die würden das brauchen. Mein Vater war Italiener, auch ich bin ein eher körperlicher Mensch. An unserer inklusiven Tagesschule haben wir Schüler mit Lernbehinderung, mit Asperger und Autismus. Da kann es auch mal vorkommen, dass einer ausrastet und sagt, er schlage alles kurz und klein. Eine Viertelstunde musste ich neulich einen Knaben festhalten und ihm gut zureden, bis sich sein Atemrhythmus reguliert hatte. 

Zur Vorbereitung auf dieses Gespräch haben wir mit Lehrern und Schülern über die Corona-Zeit gesprochen. Und wenn es eine gemeinsame Er­kenntnis gibt, dann die: Schüler, die schon vor Corona eher selbständig gearbeitet hatten, haben von der Autonomie profitiert. Die anderen, die mehr Anweisungen brauchen, kamen während der Home-Schooling-Zeit unter die Räder.
Das kann ich bestätigen. Manche Schülerinnen und Schüler der Oberstufe haben es extrem ge­schätzt, nicht um acht Uhr morgens in der Schule sein zu müssen, sondern ihr Tempo selbst zu wählen. Aber der Begriff Home-Schooling ist falsch ge­wählt, denn darunter versteht man, dass eine Mutter oder ein Vater die gesamte Bildungs- und Erziehungsverantwortung übernimmt. Die Schulschliessung aber war ein seltsamer Mischmasch: Wir gaben den Rahmen vor, und die Eltern mussten dafür sorgen, dass die Kinder die Auf­gaben erle­digen. Das war keine gute Form. 

Weshalb?
Weil sie die sozial Privilegierten bevorzugt und die sozioökonomisch schlechter gestellten Kinder benachteiligt. Am reichen Zürichberg können Eltern sehr wohl dafür sorgen, dass ihr Nachwuchs nichts verpasst. Aber wie ist es in Familien, in denen die Eltern arbeiten oder schlecht Deutsch sprechen? Es gibt allerdings eine interessante Ausnahme: Kinder mit ADHS, also mit einer Auf­merksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung, haben während des virtuellen Unterrichts sehr gut gearbeitet. Sie sassen mit Kopfhörern vor dem Bildschirm und hatten weniger Ablenkung als im Klassenzimmer, in dem noch 24 andere Schüler herumwuseln.

Dann braucht es statt Ritalin einfach einen Bildschirm?
Jein. Ich bin sehr gespalten, was Ritalin betrifft. Ich hatte Studierende, dir mir mitteilten, es habe ihr Leben verändert. Aber bei jüngeren Kindern wäre ich vorsichtig und würde eher auf Neurofeedback setzen, ein computergestütztes mentales Training, das die Konzentration fördert, einen Bruchteil von Ritalin kostet und ohne Nebenwirkungen auskommt.

Stimmt es, dass sich heutige Kinder aufgrund der Telefone und Computerspiele weniger gut konzentrieren können?
Nein. Wer auf dem Handy in der Pause ein Game spielt, dessen Konzentration kann sich im Unterricht sogar erhöhen. Ich überlege mir, ob wir für die Pause einen kleinen Spielsalon einrichten sollten mit Fussball- und Flipperkästen, aber auch elektronischen Reaktionsspielen. Wir müssen den Schülern einen sinnvollen Umgang mit den Spielen beibringen, statt alles Neue zu verteufeln, wie das Kulturkritiker gerne tun. 

Sind die Klassen zu gross?
Zu dieser Frage gibt es Dutzende von Untersuchungen, die zeigen, dass Lehrer nicht anders unterrichten, wenn sie kleinere Klassen haben. Sie nutzen die Möglichkeiten kaum. Aber na­­türlich ist es angenehmer, nur 15 Aufsätze zu korrigieren statt 25. Kleine Klassen halte ich persönlich für sozial langweilig. Machen Sie mal mit 12 Kindern einen Chor oder einen Mattenlauf – das wird ein jämmerliches Unterfangen. Je mehr Kinder, desto mehr Kontaktmöglichkeiten. Wichtig ist meiner Meinung nach auch, dass Schulen alle einschliessen. Es braucht ein paar spezielle Kinder, die neue Gedanken mit in den Pool einbringen.

Sie sprachen von den reichen Eltern am Zürichberg. Aber Sie gründeten und leiten eine Privatschule, die sehr begehrt ist und die sich nicht alle leisten können. Wie sehr hadern Sie damit, eine Schule der Gutbetuchten zu führen?
Es ist ein schmerzhafter Kompromiss, den ich eingehen musste, aber in Zürich hat man keine andere Wahl, weil hier Privatschulen nicht sub­ventioniert werden. Deshalb liegt mir das Pro­jekt «Chagall» so am Herzen. Das Gymnasium Unterstrass unterstützt Jugendliche mit Migrationshintergrund, um sie später ins öffentliche Gymnasium zu schicken. In Zürich herrscht ja noch immer eine schreiende Ungerechtigkeit: Wer aus weniger privilegierten Verhältnissen stammt, hat eine siebenmal niedrigere Chance auf eine höhere Ausbildung, weil die Leistungspotenziale dieser Kinder oft nicht erkannt werden. 

Könnte man das auch als strukturellen Rassismus bezeichnen? Diese Schülerinnen und Schüler sind intelligent, aber offenbar traut man ihnen nichts zu?
Ja, gerade die mangelnde Leistungserwartung wirkt sich negativ aus. Kinder wie Erwachsene sind abhängig davon, was man ihnen zutraut. In der Psychologie spricht man vom Pygmalioneffekt: Ich werde so, wie du es erwartest.

Sie haben Tausende Stunden in Klassenzimmern verbracht. Was würden Sie sagen: Worin besteht die Hauptaufgabe einer Lehrerin oder eines Lehrers?
Ein Professor von mir an der Uni hat gesagt: Die Schule bearbeitet die menschliche Seele. Wir wollen, dass aus den Kindern selbstbewusste Menschen mit einer hohen Sozial- und Sachkom­petenz werden, die als mündige Staatsbürger ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen. 

Klingt sehr abgehoben.
Aber darunter mache ich es nicht. In Ungarn sitzt ein Ministerpräsident an der Macht, der eine illiberale Demokratie anpreist! Die Schule ist der Ort, in der die Verteidigung der westlichen Demokratie gegen autoritäre Systeme beginnt. Und wir Lehrer stehen vor der permanenten Aufgabe, herauszufinden, was heutige Kinder brauchen, um in einer Welt von morgen, die wir noch nicht einmal kennen, zu bestehen. Das bedeutet: Wir müssen uns dauernd anpassen, müssen innovativ bleiben. Es reicht nicht, sich einer Lehre wie der von Rudolf Steiner oder Montessori zu verschreiben, ohne sie dauernd zu erneuern, weil man sonst als Schule versteinert.

Es gibt Lehrpersonen, die spulen seit 30 Jahren dasselbe Programm ab. Von Innovation ist wenig zu spüren. Gibt es etwas Traurigeres als abgelöschte Lehrer?
Nein, weil sie so einen wahnsinnigen Multiplikationseffekt haben. Leider ist der Anteil der Burnout-Gefährdeten bei den Lehrerinnen und Lehrern sehr gross, und wenn sie ausgebrannt sind, sinken die Leistungen in der Klasse um 15 bis 20 Prozent. Studien zeigen, dass man gefährdete Lehrer aufgrund gewisser Verhaltensmuster schon im Studium identifizieren könnte. Die dürfte man eigentlich gar nicht ausbilden. 

Woran erkennen Sie einen schlechten Lehrer oder eine schlechte Lehrerin?
An der Ausstrahlung und der fehlenden Freude, die er oder sie vermittelt. An der Art der nonverbalen Interaktion: Ein guter Lehrer merkt genau, wenn in den hinteren Bänken Unruhe herrscht. Noch während er redet, läuft er nach hinten und legt dem Schüler seelenruhig die Hand auf die Schulter, damit er wieder ruhig wird. Und man merkt am Humor, wie gut jemand ist, denn in der Schule soll gelacht werden. Neulich haben wir als Prüfungsvorbereitung «scheissen» konjugiert: Ich schiss, du schissest, wir haben uns totgelacht. Lehrer, die behaupten, für so etwas fehle die Zeit, verkennen, wie ungemein wichtig solche Momente sind.

Woran liegt es, wenn ein Kind schlecht ist in der Schule: am Kind selbst, an den Eltern oder den Lehrern?
Da spielen verschiedene Gründe eine Rolle. Selbstverständlich bringen die Kinder unterschiedliche Voraussetzungen mit, haben Begabungen oder stammen aus privilegierten Bildungsmilieus. Mittlerweile aber ist wissenschaftlich erwiesen, dass die Lehrperson der Haupteinflussfaktor für jegliche schulische Leistung ist. Ist das Kind schlecht, dann hat das viel mit dem Lehrer zu tun. 

Ach ja? Die schieben aber die Verantwortung meist auf die Kinder und Eltern.
Das stimmt. Es gibt eine Studie von Avenir Suisse, in der die 60 besten Klassen im Aargau und die 60 schlechtesten Klassen untersucht wurden. Ergebnis: Die Lehrer der Topklassen sagten, sie hätten gut unterrichtet, während die Lehrer der schlechten sagten, mit diesen Schülern könne man nicht arbeiten. Den Erfolg schreibt man sich gern selbst zu, den Misserfolg wälzt man auf die Kinder ab. Dabei müsste man sich als Lehrer öfter mit der Frage ausein­andersetzen, was die Leistung des Kindes mit einem selbst zu tun hat. 

Eine ungemütliche Frage.
Richtig. Weil man dann als Lehrer oder Lehrerin an der eigenen Biografie kratzt und sich fragt: Was ist mein Anteil an der schlechten Note? Was ist mein Anteil am Konflikt mit einem bestimmten Schüler? Denn es sind ja nicht einfach dumme Kinder, die nichts lernen wollen – oder laute Kinder, die den Unterricht stören. Hat ein Lehrer einen Konflikt mit einem Kind, dann hat das mit grösster Wahrscheinlichkeit auch mit dem Lehrer zu tun. Er projiziert und unterdrückt die eigenen Anteile. Manchmal ist auch Neid dabei, dass man Kindern etwas nicht gönnt und man sie deshalb innerlich ablehnt. Das sind Erkenntnisse, die erst seit ein paar Jahren Eingang in die pädagogische Ausbildung finden. Früher hat man sich als Lehrer oder Lehrerin kaum derart hinterfragt.

Was ist das Schönste an Ihrem Beruf?
Zu erleben, wie aus diesen kleinen Kindern aufgeweckte Menschen werden. Zu erleben, wie ein Kind etwas versteht, ist einzigartig. Ich will einfach, dass alle gut sind und stolz auf ihre Leistungen. Ich hatte ein Kind mit Down-Syndrom, das erst im Französischunterricht den Zahlenraum zwischen 20 und 100 verstand, weil wir auf Deutsch eine derart blöde Zählweise haben und «einundzwanzig» sagen statt wie die Franzosen «vingt et un». Erst als er die Zahl auf Französisch hörte, hat es Klick gemacht. Von da an wusste er, wie er rechnen muss. Das war Magie.

Jeder Lehrer und jede Lehrerin hat Lieblingsschüler. Mag man die guten Schüler lieber?
Ich glaube fest daran, dass wir Lehrerinnen und Lehrer Menschen sind, die Kinder mögen. «Lernen ist Liebe», schrieb der italienische Schriftsteller Marco Balzano. Wir Lehrer sollten eine tiefe Liebe zu allem Lebendigen haben, ob das Kind nun besondere Bedürfnisse hat oder hochbegabt ist – oder durchschnittlich. Zu dieser Liebe gesellt sich nun aber eine Sympathie zu gewissen Kindern, die ist nicht wegzuleugnen. Wenn ich in der Klasse Texte bespreche, dann merke ich auch, wie es in einigen Schülern und Schülerinnen zu vibrieren beginnt und eine Resonanz entsteht, die sich anfühlt, als wären wir in eine gemeinsame Sache verliebt.

Sollte man als Lehrer die Sympathie für gewisse Kinder verbergen?
Man muss vorsichtig sein und ja niemanden be­­vorzugen. Gleichzeitig soll man Sympathien nicht verdrängen. Wenn ich einen unfassbar klugen Text eines Kindes lese, schmelze ich dahin, soll ich das verschweigen? Wichtig scheint mir der permanente Austausch mit allen Schülern, deshalb frage ich sie vierteljährlich, was sie gut und weniger gut fanden. Und als Kriterium hören wir oft, wir sollten geduldig sein beim Erklären. Viele Kinder haben Angst, vermeintlich dumme Fragen zu stellen, weil der Lehrer sauer werden könnte. Das ist himmeltraurig, denn Kinder sollten frei sein, zu fragen, was sie wollen. Auch wenn wir es schon achtmal erklärten, haben sie das Recht auf ein neuntes Mal; Schüler sollten dazu animiert werden, Fehler zu begehen, und nicht, Fehler um jeden Preis zu verhindern. Es gibt kluge Fehler, aus denen man viel lernen kann.

Was bringen Strafen?
Nichts. Strafen sind in der Schule ein No-Go. Wenn Kinder etwas verbockt haben, rede ich mit ihnen darüber, wie sie es wiedergutmachen ­können. Das gibt Befreiung, man darf ja auch mal einen Streich spielen. 

In Ihrer eigenen Schulzeit waren Strafen allgegenwärtig.
Ich bin noch mit dem Lineal geschlagen geworden. Ich bin in Zürich Seebach aufgewachsen, damals war das ein Arbeiterquartier, aber ich war als Sohn eines Bankdirektors privilegiert und hatte eine schöne Kindheit. Wenn ich sah, dass die Fenster in den Wohnungen meiner Freunde ge­schlossen wurden, dann wusste ich, jetzt werden sie von ihren Vätern geschlagen.

Die Gymiprüfung in Zürich ist zu einem Monster angewachsen. Eltern versuchen alles, um ihre Kinder in guten Schulen unterzubringen; die Lehrer kommen unter Druck und geben ihn an die 12-jährigen Kinder weiter, die darunter fast zusammenbrechen. Wie beurteilen Sie das?
Da hat sich tatsächlich etwas hochgeschaukelt. Dabei kommt die Selektion in der sechsten Klasse zur dümmsten Zeit. Der IQ fluktuiert zwischen 11 und 14 am meisten, da wird der Neokortex fundamental umgebaut. Für die Buben ist das eine Katastrophe, die sind zudem um zwei Jahre entwicklungsverzögert. Während die Mädchen schon halbe Frauen sind und tolle Aufsätze schreiben, sind wir Männer mit 12 oft noch Bubis. Die Klassen zu diesem Zeitpunkt zu trennen, entspricht nicht dem heutigen Wissensstand. Man sollte bis zum 10. Schuljahr warten.

Warum wird das Langzeitgymnasium dann nicht angepasst – oder gar abgeschafft? 
Würde man das Langzeitgymi abschaffen, hätten wir Demonstrationen an Zürichs Goldküste. Die Eltern wären auf der Strasse, weil sie nicht wollen, dass ihre Kinder mit all den anderen Kindern zur Schule gehen. Es ist ein Distinktionsmittel.

Was ist denn mit den heutigen Eltern los? Sie würden Lehrer mit E-Mails malträtieren, heisst es, und mischten sich überall ein. Warum sind viele derart verbissen?
Ein Schulleiter erzählte mir, er habe früher in Zürich Schwamendingen unterrichtet, da habe es keine Probleme gegeben mit den Eltern – nur mit den Kindern. Nun sei er in einem reicheren Stadtteil, da sei es umgekehrt. Ich muss aber die Eltern in Schutz nehmen. Als erwachsener Mensch wird man nur als Patient im Spital und in der Schule entmündigt, wenn man sein Kind, sein liebstes Gut, an eine fremde Person übergibt, der es auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Es setzt viel Vertrauen voraus, wenn Eltern mir ihr Kind überlassen, deshalb verstehe ich ihre Sorgen. 

Warum ist es für Akademikereltern so schwer zu ertragen, wenn die eigenen Kinder nicht aufs Gymnasium gehen?
Es ist eine tiefe Beleidigung. Manche empfinden es als persönliche Kränkung. Aber wie immer, wenn es sehr emotional wird, muss man sich eben auch als Eltern die Frage stellen, was die eigenen Anteile am Konflikt sind. 

Warum haben Eltern so wenig Geduld mit den eigenen Kindern?
Das kenne ich auch. Ich habe fast hyperventiliert, wenn meine eigenen beiden Kinder etwas nicht verstanden. Und ich dachte, du meine Güte, wo wird das nur enden? Eltern sollten die Schulbildung ihrer Kinder den Lehrern überlassen können. Darum finde ich es auch so schlecht, wenn wir zu viele Hausaufgaben heimgeben, die müssten unter Anleitung in der Schule gemacht werden. Zu Hause wird der sozioökonomische Gap nur noch grösser. 

Der Satz, den man in diesen ersten Schultagen von seinen Kindern wohl am häufigsten hört, lautet: Ich will nicht zur Schule! Ich will nicht zur Schule! Was antwortet man?
Ich würde nachfragen: Wie muss es sein, damit du gern zur Schule gehst? Die Unlust kann mit der Schule zusammenhängen oder auch Ausdruck eines ganz anderen Problems sein. Vielleicht läuft auch zu Hause nicht alles rund, die Eltern stehen womöglich kurz vor einer Scheidung. Denn wenn ein Kind am Morgen häufig weint, bekommt es das Maximum an Aufmerksamkeit. Man muss da hellhörig sein.

Sprechen Sie die Eltern an, wenn Sie Probleme zu Hause vermuten?
Ja. Mein Vorteil ist, dass ich 65 Jahre alt bin. Ich kann mir da mehr erlauben als andere und bitte die Eltern, ihre Konflikte nicht auf dem Rücken der Kinder auszutragen. 

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