Pandemie, Bildungsschere und Machtkämpfe zwischen Eltern und Lehrern: Die Schule ist problembeladener denn je. Dieter Rüttimann, unser Lieblingspädagoge, sagt, wie es besser geht. Mit mehr Humor zum Beispiel.
Herr Rüttimann, die Sommerferien sind vorbei. Die
Schülerinnen und Schüler müssen sich wieder dran gewöhnen, früh aufzustehen.
Wäre es nicht angenehmer für uns alle, die Schule begänne später?
«Ist das Kind schlecht, hat das mit dem Lehrer zu tun», NZZaS, 16.8. von Sacha Batthyany und Martin Helg
Und warum tut sie es nicht?
Wenn es um Schulreformen geht, lautet die Frage selten, was gut für die
Kinder ist. Sondern was die Lehrerinnen und Lehrer wollen – und die wollen um
15 Uhr 30 nach Hause, also muss der Unterricht früh beginnen.
Frühes Aufstehen gilt als Zeichen von Disziplin.
Das ist ein preussischer Gedanke. Auch die 45- Minuten-Lektion geht auf einen
preussischen Offizier zurück, der mit Schule nichts am Hut hatte. Dabei haben
wir ganz individuelle Rhythmen. Ich bevorzuge es, 90 Minuten am Stück zu
unterrichten, mit ein paar Yogaübungen dazwischen und dann einer langen Pause.
Das Yoga ist für die Zappelkinder, die ADHSler, die mir immer sagen: «Wenn ich
mich nach 30 Minuten nicht bewegen kann, habe ich ein Problem.»
Sie sind schon Ihr ganzes Leben lang Lehrer. Wie
kommen die Schüler nach den Sommerferien jeweils zurück in die Schule: freudig,
weil es wieder losgeht, oder betrübt, weil die beste Zeit im Jahr vorbei ist?
Es sind spezielle Tage, diese ersten Schultage. Die neuen Schüler müssen sich
zurechtfinden, die anderen freuen sich auf das Wiedersehen mit ihren Freunden.
Und in diesem Corona-Jahr ist sowieso alles ganz besonders. Es war berührend,
mit anzusehen, wie sehr sich die Schülerinnen und Schüler nach dem Lockdown
gefreut haben, zurück ins Klassenzimmer zu kommen. Etwas, das so selbstverständlich
war wie der Gang zur Schule, fiel plötzlich weg. Da wurde vielen Kindern der
Wert der Schule erst deutlich.
Wie ist das bei Ihnen – vermissen Sie die Schüler in
den Sommerferien, oder sind Sie froh, einmal ohne Klassenzimmer-Schweissgeruch
zu leben?
Ich vermisse die Kinder enorm und freue mich auch nach über vierzig
Berufsjahren jeden Morgen, wenn sie zur Tür hineinkommen. Ich will, dass die
Schüler schon bei der Begrüssung merken, dieser Dieter, der sieht mich. Wir
reden über ihre Hobbys, Fussball oder ihre Sorgen und treten in Beziehung. Das
ist der Schlüssel zu allem, denn Lernen ist ein zutiefst sozialer Prozess.
Was heisst das?
Empirische Studien zeigen, dass das selbstorganisierte Lernen wenig wirksam
ist. Viele dieser langweiligen Übungen und unendlichen Reihen von Matheaufgaben
führen zu einer Erledigungsmentalität, münden aber nicht in einen tieferen
Verstehensprozess. Natürlich müssen die Kinder lernen, auch einmal allein an
einem Problem zu arbeiten, viel entscheidender aber ist, miteinander nach
Lösungen zu suchen. Die Lernkurve steigt, wenn Schüler und Lehrer interagieren
und in Beziehung treten. Das kann man natürlich auch über Bildschirme, aber es
ist nicht dasselbe.
Käme es zu einer weiteren Schulschliessung aufgrund
einer zweiten Corona-Welle: Was würden Sie anders machen?
Abgesehen von ein paar Startschwierigkeiten hat alles sehr gut funktioniert.
Wir mussten uns erst an die neue Situation gewöhnen und mit den Schülern ein
paar Vereinbarungen treffen: Zähne putzen und Zimmer aufräumen, bevor der
Unterricht beginnt. Einer hatte mal die Füsse auf dem Tisch, beim anderen trat
die Mutter ins Zimmer. Danach aber lief es erstaunlich gut, vor allem bei den
Älteren. Bei den Erst- und Zweitklässlern war es schwieriger, die Motivation
und Disziplin aufrechtzuerhalten vor dem Bildschirm. Da müssen wir uns noch
verbessern. Neulich hat mir ein Vater eine lustige Geschichte über seinen Sohn
erzählt, der im Gymi ist und einen 45-minütigen Film von sich aufnahm, wie er
dasitzt und immer ein wenig nickt. Der Sohn hat das Filmchen während des
virtuellen Unterrichts laufen lassen und ging dann ins Bett. Da musste ich laut
lachen. Ich gebe meinen Schülern auch den Rat, zwischendurch immer wieder
ernsthaft zu nicken, das mögen die Lehrer, und es steigert ihre Mündlichnote.
Was genau geht verloren, wenn man sich nur über den
Bildschirm sieht?
Das Unmittelbare, der Blickkontakt. Und die Nähe und die Berührungen der Kinder
untereinander. Nach dem Lockdown lagen sich fünf Buben, alle 11 oder 12 Jahre alt,
auf einem Sofa richtig in den Armen, ganz ineinander verhakt, die brauchen das.
Man weiss heute aus der Forschung, was für eine Wirkung Berührungen haben und
wie sehr Kinder darauf angewiesen sind. Der virtuelle Unterricht kann den
realen nicht ersetzen, aber wir denken über Mischformen nach: Gewisse Fächer
könnte man halbtags virtuell unterrichten. Und Schüler, die wegen einer
Krankheit nicht zum Unterricht erscheinen, werden ab nun virtuell im
Klassenzimmer anwesend sein. Wir sind für eine zweite Welle gerüstet.
In manchen Schulen der USA herrscht eine «no-touch
rule»: Kinder dürfen weder einander noch Lehrpersonen berühren.
Schrecklich. Mir ist bewusst, dass Berührungen immer mehr zum Tabu werden. Ich
hatte neulich eine Lehrerin in der Weiterbildung, die sagte, sie umarme ihre
Schüler und Schülerinnen regelmässig, wenn sie das Gefühl habe, die würden das
brauchen. Mein Vater war Italiener, auch ich bin ein eher körperlicher Mensch.
An unserer inklusiven Tagesschule haben wir Schüler mit Lernbehinderung, mit
Asperger und Autismus. Da kann es auch mal vorkommen, dass einer ausrastet und
sagt, er schlage alles kurz und klein. Eine Viertelstunde musste ich neulich
einen Knaben festhalten und ihm gut zureden, bis sich sein Atemrhythmus
reguliert hatte.
Zur Vorbereitung auf dieses Gespräch haben wir mit
Lehrern und Schülern über die Corona-Zeit gesprochen. Und wenn es eine
gemeinsame Erkenntnis gibt, dann die: Schüler, die schon vor Corona eher
selbständig gearbeitet hatten, haben von der Autonomie profitiert. Die anderen,
die mehr Anweisungen brauchen, kamen während der Home-Schooling-Zeit unter die
Räder.
Das kann ich bestätigen. Manche Schülerinnen und Schüler der Oberstufe haben es
extrem geschätzt, nicht um acht Uhr morgens in der Schule sein zu müssen,
sondern ihr Tempo selbst zu wählen. Aber der Begriff Home-Schooling ist falsch
gewählt, denn darunter versteht man, dass eine Mutter oder ein Vater die
gesamte Bildungs- und Erziehungsverantwortung übernimmt. Die Schulschliessung
aber war ein seltsamer Mischmasch: Wir gaben den Rahmen vor, und die Eltern
mussten dafür sorgen, dass die Kinder die Aufgaben erledigen. Das war keine
gute Form.
Weshalb?
Weil sie die sozial Privilegierten bevorzugt und die sozioökonomisch schlechter
gestellten Kinder benachteiligt. Am reichen Zürichberg können Eltern sehr wohl
dafür sorgen, dass ihr Nachwuchs nichts verpasst. Aber wie ist es in Familien,
in denen die Eltern arbeiten oder schlecht Deutsch sprechen? Es gibt allerdings
eine interessante Ausnahme: Kinder mit ADHS, also mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung,
haben während des virtuellen Unterrichts sehr gut gearbeitet. Sie sassen mit
Kopfhörern vor dem Bildschirm und hatten weniger Ablenkung als im
Klassenzimmer, in dem noch 24 andere Schüler herumwuseln.
Dann braucht es statt Ritalin einfach einen
Bildschirm?
Jein. Ich bin sehr gespalten, was Ritalin betrifft. Ich hatte Studierende, dir
mir mitteilten, es habe ihr Leben verändert. Aber bei jüngeren Kindern wäre ich
vorsichtig und würde eher auf Neurofeedback setzen, ein computergestütztes
mentales Training, das die Konzentration fördert, einen Bruchteil von Ritalin
kostet und ohne Nebenwirkungen auskommt.
Stimmt es, dass sich heutige Kinder aufgrund der
Telefone und Computerspiele weniger gut konzentrieren können?
Nein. Wer auf dem Handy in der Pause ein Game spielt, dessen Konzentration kann
sich im Unterricht sogar erhöhen. Ich überlege mir, ob wir für die Pause einen
kleinen Spielsalon einrichten sollten mit Fussball- und Flipperkästen, aber auch
elektronischen Reaktionsspielen. Wir müssen den Schülern einen sinnvollen
Umgang mit den Spielen beibringen, statt alles Neue zu verteufeln, wie das
Kulturkritiker gerne tun.
Sind die Klassen zu gross?
Zu dieser Frage gibt es Dutzende von Untersuchungen, die zeigen, dass Lehrer
nicht anders unterrichten, wenn sie kleinere Klassen haben. Sie nutzen die
Möglichkeiten kaum. Aber natürlich ist es angenehmer, nur 15 Aufsätze zu
korrigieren statt 25. Kleine Klassen halte ich persönlich für sozial langweilig.
Machen Sie mal mit 12 Kindern einen Chor oder einen Mattenlauf – das wird ein
jämmerliches Unterfangen. Je mehr Kinder, desto mehr Kontaktmöglichkeiten.
Wichtig ist meiner Meinung nach auch, dass Schulen alle einschliessen. Es
braucht ein paar spezielle Kinder, die neue Gedanken mit in den Pool
einbringen.
Sie sprachen von den reichen Eltern am Zürichberg.
Aber Sie gründeten und leiten eine Privatschule, die sehr begehrt ist und die
sich nicht alle leisten können. Wie sehr hadern Sie damit, eine Schule der
Gutbetuchten zu führen?
Es ist ein schmerzhafter Kompromiss, den ich eingehen musste, aber in
Zürich hat man keine andere Wahl, weil hier Privatschulen nicht subventioniert
werden. Deshalb liegt mir das Projekt «Chagall» so am Herzen. Das Gymnasium Unterstrass
unterstützt Jugendliche mit Migrationshintergrund, um sie später ins
öffentliche Gymnasium zu schicken. In Zürich herrscht ja noch immer eine
schreiende Ungerechtigkeit: Wer aus weniger privilegierten Verhältnissen
stammt, hat eine siebenmal niedrigere Chance auf eine höhere Ausbildung, weil
die Leistungspotenziale dieser Kinder oft nicht erkannt werden.
Könnte man das auch als strukturellen Rassismus
bezeichnen? Diese Schülerinnen und Schüler sind intelligent, aber offenbar
traut man ihnen nichts zu?
Ja, gerade die mangelnde Leistungserwartung wirkt sich negativ aus. Kinder wie
Erwachsene sind abhängig davon, was man ihnen zutraut. In der Psychologie
spricht man vom Pygmalioneffekt: Ich werde so, wie du es erwartest.
Sie haben Tausende Stunden in Klassenzimmern
verbracht. Was würden Sie sagen: Worin besteht die Hauptaufgabe einer Lehrerin
oder eines Lehrers?
Ein Professor von mir an der Uni hat gesagt: Die Schule bearbeitet die
menschliche Seele. Wir wollen, dass aus den Kindern selbstbewusste Menschen mit
einer hohen Sozial- und Sachkompetenz werden, die als mündige Staatsbürger
ihre Rechte und Pflichten wahrnehmen.
Klingt sehr abgehoben.
Aber darunter mache ich es nicht. In Ungarn sitzt ein Ministerpräsident an der
Macht, der eine illiberale Demokratie anpreist! Die Schule ist der Ort, in der
die Verteidigung der westlichen Demokratie gegen autoritäre Systeme beginnt.
Und wir Lehrer stehen vor der permanenten Aufgabe, herauszufinden, was heutige
Kinder brauchen, um in einer Welt von morgen, die wir noch nicht einmal kennen,
zu bestehen. Das bedeutet: Wir müssen uns dauernd anpassen, müssen innovativ
bleiben. Es reicht nicht, sich einer Lehre wie der von Rudolf Steiner oder
Montessori zu verschreiben, ohne sie dauernd zu erneuern, weil man sonst als
Schule versteinert.
Es gibt Lehrpersonen, die spulen seit 30 Jahren
dasselbe Programm ab. Von Innovation ist wenig zu spüren. Gibt es etwas
Traurigeres als abgelöschte Lehrer?
Nein, weil sie so einen wahnsinnigen Multiplikationseffekt haben. Leider ist der
Anteil der Burnout-Gefährdeten bei den Lehrerinnen und Lehrern sehr gross, und
wenn sie ausgebrannt sind, sinken die Leistungen in der Klasse um 15 bis 20
Prozent. Studien zeigen, dass man gefährdete Lehrer aufgrund gewisser
Verhaltensmuster schon im Studium identifizieren könnte. Die dürfte man
eigentlich gar nicht ausbilden.
Woran erkennen Sie einen schlechten Lehrer oder eine
schlechte Lehrerin?
An der Ausstrahlung und der fehlenden Freude, die er oder sie vermittelt. An
der Art der nonverbalen Interaktion: Ein guter Lehrer merkt genau, wenn in den
hinteren Bänken Unruhe herrscht. Noch während er redet, läuft er nach hinten
und legt dem Schüler seelenruhig die Hand auf die Schulter, damit er wieder
ruhig wird. Und man merkt am Humor, wie gut jemand ist, denn in der Schule soll
gelacht werden. Neulich haben wir als Prüfungsvorbereitung «scheissen»
konjugiert: Ich schiss, du schissest, wir haben uns totgelacht. Lehrer, die
behaupten, für so etwas fehle die Zeit, verkennen, wie ungemein wichtig solche Momente
sind.
Woran liegt es, wenn ein Kind schlecht ist in der
Schule: am Kind selbst, an den Eltern oder den Lehrern?
Da spielen verschiedene Gründe eine Rolle. Selbstverständlich bringen die
Kinder unterschiedliche Voraussetzungen mit, haben Begabungen oder stammen aus
privilegierten Bildungsmilieus. Mittlerweile aber ist wissenschaftlich
erwiesen, dass die Lehrperson der Haupteinflussfaktor für jegliche schulische
Leistung ist. Ist das Kind schlecht, dann hat das viel mit dem Lehrer zu
tun.
Ach ja? Die schieben aber die Verantwortung meist auf
die Kinder und Eltern.
Das stimmt. Es gibt eine Studie von Avenir Suisse, in der die 60 besten Klassen
im Aargau und die 60 schlechtesten Klassen untersucht wurden. Ergebnis: Die
Lehrer der Topklassen sagten, sie hätten gut unterrichtet, während die Lehrer
der schlechten sagten, mit diesen Schülern könne man nicht arbeiten. Den Erfolg
schreibt man sich gern selbst zu, den Misserfolg wälzt man auf die Kinder ab.
Dabei müsste man sich als Lehrer öfter mit der Frage auseinandersetzen, was
die Leistung des Kindes mit einem selbst zu tun hat.
Eine ungemütliche Frage.
Richtig. Weil man dann als Lehrer oder Lehrerin an der eigenen Biografie kratzt
und sich fragt: Was ist mein Anteil an der schlechten Note? Was ist mein Anteil
am Konflikt mit einem bestimmten Schüler? Denn es sind ja nicht einfach dumme
Kinder, die nichts lernen wollen – oder laute Kinder, die den Unterricht
stören. Hat ein Lehrer einen Konflikt mit einem Kind, dann hat das mit grösster
Wahrscheinlichkeit auch mit dem Lehrer zu tun. Er projiziert und unterdrückt
die eigenen Anteile. Manchmal ist auch Neid dabei, dass man Kindern etwas nicht
gönnt und man sie deshalb innerlich ablehnt. Das sind Erkenntnisse, die erst
seit ein paar Jahren Eingang in die pädagogische Ausbildung finden. Früher hat
man sich als Lehrer oder Lehrerin kaum derart hinterfragt.
Was ist das Schönste an Ihrem Beruf?
Zu erleben, wie aus diesen kleinen Kindern aufgeweckte Menschen werden. Zu
erleben, wie ein Kind etwas versteht, ist einzigartig. Ich will einfach, dass
alle gut sind und stolz auf ihre Leistungen. Ich hatte ein Kind mit
Down-Syndrom, das erst im Französischunterricht den Zahlenraum zwischen 20 und
100 verstand, weil wir auf Deutsch eine derart blöde Zählweise haben und «einundzwanzig»
sagen statt wie die Franzosen «vingt et un». Erst als er die Zahl auf
Französisch hörte, hat es Klick gemacht. Von da an wusste er, wie er rechnen
muss. Das war Magie.
Jeder Lehrer und jede Lehrerin hat Lieblingsschüler.
Mag man die guten Schüler lieber?
Ich glaube fest daran, dass wir Lehrerinnen und Lehrer Menschen sind, die
Kinder mögen. «Lernen ist Liebe», schrieb der italienische Schriftsteller Marco
Balzano. Wir Lehrer sollten eine tiefe Liebe zu allem Lebendigen haben, ob das
Kind nun besondere Bedürfnisse hat oder hochbegabt ist – oder durchschnittlich.
Zu dieser Liebe gesellt sich nun aber eine Sympathie zu gewissen Kindern, die
ist nicht wegzuleugnen. Wenn ich in der Klasse Texte bespreche, dann merke ich
auch, wie es in einigen Schülern und Schülerinnen zu vibrieren beginnt und eine
Resonanz entsteht, die sich anfühlt, als wären wir in eine gemeinsame Sache
verliebt.
Sollte man als Lehrer die Sympathie für gewisse Kinder
verbergen?
Man muss vorsichtig sein und ja niemanden bevorzugen. Gleichzeitig soll man
Sympathien nicht verdrängen. Wenn ich einen unfassbar klugen Text eines Kindes
lese, schmelze ich dahin, soll ich das verschweigen? Wichtig scheint mir der
permanente Austausch mit allen Schülern, deshalb frage ich sie vierteljährlich,
was sie gut und weniger gut fanden. Und als Kriterium hören wir oft, wir
sollten geduldig sein beim Erklären. Viele Kinder haben Angst, vermeintlich
dumme Fragen zu stellen, weil der Lehrer sauer werden könnte. Das ist
himmeltraurig, denn Kinder sollten frei sein, zu fragen, was sie wollen. Auch
wenn wir es schon achtmal erklärten, haben sie das Recht auf ein neuntes Mal;
Schüler sollten dazu animiert werden, Fehler zu begehen, und nicht, Fehler um
jeden Preis zu verhindern. Es gibt kluge Fehler, aus denen man viel lernen
kann.
Was bringen Strafen?
Nichts. Strafen sind in der Schule ein No-Go. Wenn Kinder etwas verbockt haben,
rede ich mit ihnen darüber, wie sie es wiedergutmachen können. Das gibt
Befreiung, man darf ja auch mal einen Streich spielen.
In Ihrer eigenen Schulzeit waren Strafen
allgegenwärtig.
Ich bin noch mit dem Lineal geschlagen geworden. Ich bin in Zürich Seebach
aufgewachsen, damals war das ein Arbeiterquartier, aber ich war als Sohn eines
Bankdirektors privilegiert und hatte eine schöne Kindheit. Wenn ich sah, dass
die Fenster in den Wohnungen meiner Freunde geschlossen wurden, dann wusste
ich, jetzt werden sie von ihren Vätern geschlagen.
Die Gymiprüfung in Zürich ist zu einem Monster
angewachsen. Eltern versuchen alles, um ihre Kinder in guten Schulen
unterzubringen; die Lehrer kommen unter Druck und geben ihn an die 12-jährigen
Kinder weiter, die darunter fast zusammenbrechen. Wie beurteilen Sie das?
Da hat sich tatsächlich etwas hochgeschaukelt. Dabei kommt die Selektion in der
sechsten Klasse zur dümmsten Zeit. Der IQ fluktuiert zwischen 11 und 14 am
meisten, da wird der Neokortex fundamental umgebaut. Für die Buben ist das eine
Katastrophe, die sind zudem um zwei Jahre entwicklungsverzögert. Während die
Mädchen schon halbe Frauen sind und tolle Aufsätze schreiben, sind wir Männer
mit 12 oft noch Bubis. Die Klassen zu diesem Zeitpunkt zu trennen, entspricht
nicht dem heutigen Wissensstand. Man sollte bis zum 10. Schuljahr warten.
Warum wird das Langzeitgymnasium dann nicht angepasst
– oder gar abgeschafft?
Würde man das Langzeitgymi abschaffen, hätten wir Demonstrationen an Zürichs
Goldküste. Die Eltern wären auf der Strasse, weil sie nicht wollen, dass ihre
Kinder mit all den anderen Kindern zur Schule gehen. Es ist ein Distinktionsmittel.
Was ist denn mit den heutigen Eltern los? Sie würden
Lehrer mit E-Mails malträtieren, heisst es, und mischten sich überall ein.
Warum sind viele derart verbissen?
Ein Schulleiter erzählte mir, er habe früher in Zürich Schwamendingen unterrichtet,
da habe es keine Probleme gegeben mit den Eltern – nur mit den Kindern. Nun sei
er in einem reicheren Stadtteil, da sei es umgekehrt. Ich muss aber die Eltern
in Schutz nehmen. Als erwachsener Mensch wird man nur als Patient im Spital und
in der Schule entmündigt, wenn man sein Kind, sein liebstes Gut, an eine fremde
Person übergibt, der es auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist. Es setzt viel
Vertrauen voraus, wenn Eltern mir ihr Kind überlassen, deshalb verstehe ich
ihre Sorgen.
Warum ist es für Akademikereltern so schwer zu
ertragen, wenn die eigenen Kinder nicht aufs Gymnasium gehen?
Es ist eine tiefe Beleidigung. Manche empfinden es als persönliche Kränkung.
Aber wie immer, wenn es sehr emotional wird, muss man sich eben auch als Eltern
die Frage stellen, was die eigenen Anteile am Konflikt sind.
Warum haben Eltern so wenig Geduld mit den eigenen
Kindern?
Das kenne ich auch. Ich habe fast hyperventiliert, wenn meine eigenen beiden
Kinder etwas nicht verstanden. Und ich dachte, du meine Güte, wo wird das nur
enden? Eltern sollten die Schulbildung ihrer Kinder den Lehrern überlassen
können. Darum finde ich es auch so schlecht, wenn wir zu viele Hausaufgaben
heimgeben, die müssten unter Anleitung in der Schule gemacht werden. Zu Hause
wird der sozioökonomische Gap nur noch grösser.
Der Satz, den man in diesen ersten Schultagen von
seinen Kindern wohl am häufigsten hört, lautet: Ich will nicht zur Schule! Ich
will nicht zur Schule! Was antwortet man?
Ich würde nachfragen: Wie muss es sein, damit du gern zur Schule gehst? Die
Unlust kann mit der Schule zusammenhängen oder auch Ausdruck eines ganz anderen
Problems sein. Vielleicht läuft auch zu Hause nicht alles rund, die Eltern
stehen womöglich kurz vor einer Scheidung. Denn wenn ein Kind am Morgen häufig
weint, bekommt es das Maximum an Aufmerksamkeit. Man muss da hellhörig sein.
Sprechen Sie die Eltern an, wenn Sie Probleme zu Hause
vermuten?
Ja. Mein Vorteil ist, dass ich 65 Jahre alt bin. Ich kann mir da mehr erlauben
als andere und bitte die Eltern, ihre Konflikte nicht auf dem Rücken der Kinder
auszutragen. ■
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