Trotz Digitalisierung und Corona glaubt Bildungshistorikerin Karin Manz, dass Schulen immer soziale Unternehmen bleiben werden. Im Interview räumt sie mit dem Mythos der Einzigartigkeit unserer Volksschule auf – und erklärt, wie revolutionär der Fülli ist.
Täuscht es oder begannen viele Schulen
erst durch die Corona-Krise sich für Digitalisierung zu interessieren?
Karin Manz: Es gibt viele Schulen, die in den letzten Jahren
grosse Anstrengungen hinsichtlich der Digitalisierung unternommen haben und auf
die Corona-Krise diesbezüglich gut vorbereitet waren. Die Schule übernimmt
technische Entwicklungen aber oft später. Und es braucht oft eine gewisse Zeit.
Sichtbar ist das beispielsweise bei damals neuen Medien wie Radio, den Dias
oder Schulfilmen – neue Medien kamen immer verzögert in die Schule.
Nicht gerade dynamisch.
Wenn man es positiv formulieren will, kann man sagen: Die Schule ist sehr
stabil. Niemand wirft einfach mal so ein ganzes Schulprogramm über den Haufen.
Und das ist auch wichtig. Eher problematisch ist, dass man zwar seit 20 Jahren
über die Digitalisierung der Schule spricht – aber in der Umsetzung noch grosse
Unterschiede bestehen.
Wird die Schule nun digitalisiert
bleiben oder bildet sich das alles wieder zurück?
Die Digitalisierung hat bereits vor Corona verschiedene Lehr- und Lernformen
mit sich gebracht – und ab einem gewissen Alter wird das Lernen auf Distanz
auch künftig eine Rolle spielen. Die Schule wird aber ein soziales Unternehmen
bleiben, insbesondere auf Primar- und Kindergartenstufe. Das ist auch richtig
so. Kinder brauchen die reale Welt, den direkten Kontakt mit anderen Kindern
und den Lehrpersonen und nicht nur Bildschirme.
Ist die Schule in Krisenzeiten
innovativer als sonst?
Das würde ich so generell nicht sagen. Im Ersten Weltkrieg gab es in der
Politik Bestrebungen, über die Schule in der ganzen Schweiz den nationalen
Zusammenhalt zu fördern. Die Schweiz stand damals vor einer Zerreissprobe
zwischen der deutschfreundlichen Deutschschweiz und der Frankreich zugewandten
Romandie.
Und?
Die Initiative dieses forcierten Kulturtransfers mit einer obligatorischen
Landessprache als erste Fremdsprache und mehr Schweizer Geschichtsunterricht
scheiterte gnadenlos am Bildungsföderalismus. Die Kantone wollten sich nicht
dreinreden lassen.
Reden wir über die Gründungszeit der
Volksschule ab 1830. Wie sah damals die Schule aus?
Das landläufige Bild des schlecht ausgebildeten Lehrers, der kaum rechnen
konnte, muss man über den Haufen werfen. 1799 hat der damalige Bildungsminister
der Helvetischen Republik, Philipp Albert Stapfer, die erste gross angelegte
Bildungsuntersuchung der Schweiz durchgeführt. Diese zeigte ein sehr
heterogenes Bild. Natürlich gab es um 1800 ganz prekäre Schulen, an denen nicht
mehr als etwas religiöse Bildung und Leseunterricht vermittelt wurden.
Aber?
Es gab auch damals schon super erfolgreiche Bildungsunternehmer, die Schulen
aufbauten mit einem breiten und modernen Bildungsangebot.
Modern? Damals war die Prügelstrafe
doch noch weit verbreitet.
Die Schule ist immer ein Abbild der Gesellschaft. Gewalt in der Erziehung war
lange normal. Die Schule war da nicht speziell anders. Aber das ist eben nicht
das ganze Bild: Interessanterweise gab es im 18. Jahrhundert zum Beispiel eine
sehr erfolgreiche Unterrichtsmethode mit dem Namen «wechselseitiger Unterricht».
Klingt tatsächlich modern!
Ja! Es gab damals noch keine Jahrgangsklassen. Viele jüngere Schülerinnen und
Schüler wurden in kleinen Lerngruppen von älteren Schülerinnen und Schülern
unterrichtet. Jeder hatte sein eigenes Lernprogramm. Erst ab einem gewissen
Alter wurde man vom Schulmeister selber unterrichtet. Die individualisierten
Unterrichtsprogramme, die wir heute als das Nonplusultra darstellen, kannte man
also schon früher.
Wieso kam man davon ab?
Es ist ein Kennzeichen der «modernen» Volksschule, dass man die Schülerinnen
und Schüler in homogenere Gruppen einordnen wollte. Erst teilte man sie in
Jahrgangsklassen ein, dann sortierte man nach Leistungsfähigkeit,
Verhaltensauffälligkeit und Reife.
Welches waren für Lehrer und Schüler
die wichtigsten Neuerungen in der Geschichte der Volksschule?
Das zentrale Lernmedium der «modernen» Volksschule war lange Zeit das
Schulbuch. Aber aus Sicht der Lehrerperson war auch der Kopierapparat eine
echte Revolution. Und wenn man die Kinder fragen würde, dann würden die wohl
sagen: der Fülli. Patronen einsetzen, und es schreibt. Das waren im Vergleich
zum Tintenfass Welten. Das mögen Kleinigkeiten sein, aber sie haben den
Schulalltag wirklich massiv verbessert.
Heute streiten wir ja dauernd über den
Lehrplan. Wie lange gibt es diese Debatten schon?
Die Debatten gibt es, seit es die Schule gibt. Sie brandeten meist dann auf,
wenn neue Schulfächer eingeführt wurden.
Haben Sie Beispiele?
Die Handarbeit für Mädchen. Interessant ist, warum man diese einführte. Weil
man wollte, dass die Frauen ihre Kleider selber herstellen können. Oder das
Schulfach Zeichnen, das in die Schulen kam, nicht als Gestaltungsfach wie
heute, sondern weil die boomende Textilindustrie Zeichner suchte, die für ihre
Bedürfnisse geometrische Muster entwerfen konnten.
Also aus denselben Gründen, wieso man
heute den Informatikunterricht an den Schulen fördert?
Ja, die Volksschule reagierte seit jeher auf die Bedürfnisse der Wirtschaft.
Auch bei den Fremdsprachen: Es war eine Nachfrage des Gewerbes, das mit
Frankreich, Italien und den USA Handel trieb und Fachkräfte suchte, die mit den
Handelspartnern kommunizieren konnten.
Woher kam die Kritik an neuen Fächern?
Es gab im 19. Jahrhundert starke Befürchtungen, dass religiöse Inhalte
verdrängt werden. Vor der Einführung der Volksschule ging es in der Bildung
lange vor allem darum, dass Schüler befähigt wurden, die Bibel zu lesen.
Die Verdrängung der Religion fand ja
auch statt.
Jein. Die Schule wurde im 19. Jahrhundert vor allem verlängert. Religion spielte
noch lange eine wichtige Rolle, aber halt nicht mehr die alleinige.
Was braucht es in einer Gesellschaft,
damit sich ein Lehrplan verändert?
Neben neuen Erkenntnissen aus den Wissenschaften brauchte es historisch oft
Druck aus der Wirtschaft. Nach 1848 spielte auch das Militär eine wichtige
Rolle. Man wollte gut ausgebildete Soldaten. 1875 wurden pädagogische
Rekrutenprüfungen eingeführt, die eigentlich das erste Schulranking in der
Schweiz darstellten.
Was beinhalteten diese
Rekrutenprüfungen?
Neben der Prüfung der physischen Tauglichkeit wurde damals auch getestet, ob
die künftigen Rekruten lesen, schreiben und rechnen können und ob sie Wissen
und Kenntnisse über die Schweiz haben. Und da merkte man plötzlich, dass es
Kantone gab, die kläglich scheiterten.
Welche?
Ganz häufig die landwirtschaftlich ausgerichteten, strukturschwachen,
katholisch-konservativen Kantone. Aber natürlich war auch die Politik ein
Treiber, die ihre Bürger für ihre politischen Pflichten und die Meinungsbildung
bilden wollte.
Hat die Volksschule eigentlich die
Gleichberechtigung beschleunigt?
Es gab Lehrerinnen im 19. Jahrhundert. Im Kanton Bern waren die sogenannten
Lerngotten sogar weit verbreitet. Mit der Volksschule wurden auch die
kantonalen Lehrerseminare eingerichtet – und die waren anfangs nur für Männer
vorgesehen.
Wie sah die Ausbildung für Frauen aus?
Frauen mussten sich privat ausbilden lassen. Das konnten sich nicht alle
leisten. Dazu kam: In vielen Kantonen hatte das sogenannte Lehrerinnenzölibat
zu Folge, dass verheiratete Frauen den Beruf nicht mehr ausüben durften – und
die von der Gesellschaft zugeschriebene Rolle einnehmen mussten. Da zementierte
die Volksschule ein bürgerliches Ideal, das in der Arbeiterschicht längst nicht
mehr stimmte. Dort mussten Frauen mitarbeiten, um die Familie zu ernähren.
Das heisst?
Die Schule nahm bei der Gleichberechtigung keine Vorreiterrolle ein. Die Schule
zog auch hier bloss nach.
Zum Schluss noch folgende Frage: Gäbe
es den Erfolgsfall Schweiz ohne die Volksschule?
Die Schweiz ist in Bezug auf die Volksschule kein Sonderfall. Volksschulen
wurden im 19. Jahrhundert auch in anderen Ländern eingeführt. Die Volksschule,
aber auch die Berufsbildung spielen eine zentrale Rolle für den Erfolg der
Schweiz und ihres Bildungssystems.
«Schweizer Bildungsgeschichte»
erscheint Dezember 2020 im Chronos Verlag, Zürich. Karin Manz ist
Mitherausgeberin und Mitautorin.
Schulgeschichte
Karin Manz (48) ist Leiterin der
Professur für Unterrichtsentwicklung und Unterrichtsforschung an der
Pädagogischen Hochschule FHNW. Sie wuchs in Zürich auf. Sie unterrichtete
mehrere Jahre als Sekundarlehrerin (Sprachen, Geschichte, Geografie, Zeichnen,
Musik) und studierte in einem Zweitstudium Erziehungswissenschaft,
Sozialgeschichte und Philosophie. 2005 bis 2017 war sie Assistentin und
Oberassistentin an der Universität Zürich.
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