Corona droht auch den Schulbetrieb auf den Kopf zu stellen. Mögen sich Virologen daran stossen: Maskenpflicht und Abstandsregelung im Unterricht sind aus pädagogischer Sicht problematisch, weil sie nicht zum Wesen des Menschen passen.
Virologie und Pädagogik - Corona-Hygieneregeln an Schulen sind wichtig, entscheidend aber ist das richtige Mass, NZZ, 24.8. von Klaus Zierer
Alles, was derzeit diskutiert wird, steht unter einem Gebot: die Eindämmung der Corona-Pandemie. Die Grundlage hierfür ist der Vorrang der Gesundheit. So berechtigt dieses Ziel ist, es ist verkehrt, in der Folge dieses Gebotes eine virologische Sichtweise über alles andere zu stellen. Denn zur Gesundheit des Menschen gehört nicht nur sein körperliches Wohlbefinden, sondern auch dasjenige seiner Psyche und des Sozialen. Demzufolge steht eine virologische Sichtweise nicht selten im Widerspruch zu anderen Perspektiven.
Dies gilt nicht zuletzt für die Pädagogik. Hygienemassnahmen, wie sie
derzeit an Schulen ergriffen werden, laufen dieser Einsicht zuwider. Zwar mögen
sie allesamt aus virologischer Sicht sinnvoll sein, aus pädagogischer Sicht
sind sie es vielfach nicht. In den absurdesten Fällen sind sie sogar inhuman.
Drei Gedanken hierzu.
Kein Einbahnsystem
Erstens sind Kinder und Jugendliche in Schulen angehalten, einem
Einbahnstrassensystem zu folgen, Masken (ausserhalb des Unterrichts) zu tragen
und auf Sicherheitsabstände zu achten. Die Abc-Schützen lernen mancherorts
sogar, dass es besser sei, allein mit Maske auf den Pausenhof zu gehen, als mit
ihren Klassenkameraden zu spielen. Da dies so offensichtlich den Menschen als
Menschen verkennt, erscheint es fast überflüssig, das Bonmot von Schiller
wiederzugeben: «Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts
Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.»
Zweitens ist es aus pädagogischer Sicht fatal, weiterhin mit dem Gedanken zu spielen, dass Homeschooling eine ebenbürtige Alternative zum Präsenzunterricht sei. Mittlerweile liegen nicht nur umfangreiche Befragungen aus Deutschland vor, die das widerlegen und auf die Dramatik gerade in sozialen Brennpunkten hinweisen, sondern auch eine Vielzahl an empirischen Forschungsergebnissen zum Distanzlernen. Dieses kann zwar unter bestimmten Umständen und für bestimmte Fachbereiche eine Lernwirkung erzielen, aber sicherlich nicht angesichts eines schulischen Erziehungsauftrages, in dessen Zentrum der Mensch und damit Bildung steht.
Bildung ist nicht Lernen. Wer immer wieder sozial isoliert wird und auf
längere Sicht nur noch allein lernt, kann sich nicht bilden. Selbst ein immer
wieder proklamierter Digitalisierungsschub wird hier nicht helfen: Der Mensch
braucht den Menschen im Hier und Jetzt – und eben nicht virtuell synchron oder
asynchron.
Drittens bleiben Maskenpflicht und Abstandsregelung im Unterricht aus
pädagogischer Sicht problematisch, weil sie nicht zum Wesen des Menschen
passen. So brauchen Kinder und Jugendliche in der Interaktion eine Mimik, um
Aussagen und Interaktionen verstehen zu können. Ebenso hinderlich ist der
Abstand von 1 Meter 50. In kulturanthropologischen Studien wurde beispielsweise
nachgewiesen, dass es so etwas wie einen kulturellen Abstand zwischen Menschen
gibt, der signalisiert: Mindestens so nah und höchstens so weit entfernt, um
miteinander arbeiten, spielen und lernen zu können. Für keine Kultur auf dieser
Welt liegt dieser bei 1 Meter 50, wenn es um Freundschaft geht. Virologisch
betrachtet mag der Abstand daher sinnvoll sein, aus pädagogischer Sicht ist er
es nicht.
Vernunft und Vertrauen
Wie also zurück in die Normalität? Virologisch denken, aber vor allem
pädagogisch handeln. Das muss die Devise sein. Konkret bedeutet das, jede
Hygienemassnahme in der Schule auf einen pädagogischen Prüfstand zu stellen.
Ist sie spekulativ, darf sie nur dann angewendet werden, wenn sie pädagogisches
Handeln nicht unmöglich macht. Ist sie gesichert, muss sie pädagogisch
implementiert werden. Und dann sind dabei nicht Dressur- und
Manipulationsmethoden anzuwenden, sondern es ist auf das Wesensmerkmal des
Menschen schlechthin zu setzen: die Vernunft.
Es ist also mit den Kindern und Jugendlichen vernünftig und
vertrauensvoll zu sprechen. Insofern besteht kein Zweifel: Hygienemassnahmen
sind wichtig und hilfreich. Ihre Implementation muss aber an Schulen nach
pädagogischen Überlegungen erfolgen, sonst laufen sie Gefahr, inhuman zu
werden.
Es ist richtig, dass Klaus Zierer den Blick auf die Pädagogik richtet und damit die Virologie herausfordert. Von mir aus könnte er bei den konkreten Massnahmen noch etwas deutlicher werden. "Virologisch denken, aber vor allem pädagogisch handeln" - das ist sehr vage. Wie sollen denn die Hygienemassnahmen nach pädagogischen Überlegungen erfolgen?
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