8. Juni 2020

Band zwischen Lehrer und Schüler bleibt zentral für den Lernerfolg

Die Debatte um digitale Bildung krankt an einem Übermass an ideologischer Voreingenommenheit. Auf der einen Seite diejenigen, die mit dem Einzug von Laptops, Tablets und Co. den Untergang abendländischer Bildungstraditionen befürchten, und auf der anderen Seite diejenigen, die in Zeiten digitaler Transformation alles über Bord werfen, was in Jahrhunderten an pädagogischem Wissen gewachsen ist. Die Apokalyptiker werden bezichtigt, Abwehrreflexe zu kultivieren, während die Euphoriker als Propagandisten einer Ökonomisierung von Bildung karikiert werden.

Digitale Bildung: Vernunft und Empirie als Antwort auf eine entgleiste Debatte, NZZ, 8.6. von Julian Nida-Rümelin und Klaus Zierer

Bereits dieser Streifzug durch die Debatte zeigt, dass es ihr an kulturellen Leitideen mangelt, die Voraussetzungen dafür sind, dass Bildungsreformen klare Zielsetzungen haben und zu kohärenter Bildungsentwicklung führen. Im Folgenden versuchen wir Orientierung zu geben, Vernunft und Empirie in die Debatte zu führen:

Was ist unter «digitaler Bildung» zu verstehen? Will man diese Frage beantworten, so ist der Bildungsbegriff zu umreissen. Ohne dabei in langwierige Erläuterungen zu entgleiten, scheint uns die Bestimmung hilfreich: Bildung meint nicht das, was man aus meinem Leben gemacht hat, sondern das, was ich aus meinem Leben mache. Damit wird der Mensch als Autor seines Lebens zum Kristallisationspunkt. Mit der digitalen Transformation ändern sich die Formen und Strukturen der Kommunikation und Interaktion, der Information und Dezision. Die Verfügbarkeit von Daten wächst exponentiell, während deren wissenschaftliche, aber auch lebensweltliche Interpretation sich nur graduell ändert. Digitale Bildung muss diesem Auseinanderdriften entgegenwirken. Das alte – humanistische – Bildungsideal der Urteilskraft ist daher zentrales Ziel von Bildung und somit auch von digitaler Bildung.

Reflexion und Distanz

Urteilskraft kann nicht an wissenschaftliche Expertise delegiert werden, denn diese ist disziplinär, punktuell, auf sich gestellt und daher nicht in der Lage, die einzelnen wissenschaftlichen Beiträge zu einem kohärenten Weltbild und zu einer kohärenten gesellschaftlich-politischen Praxis zusammenzuführen. Urteilskraft als Ziel digitaler Bildung muss deshalb darauf gerichtet sein, die Parzellierung von Wissensbeständen im schulischen Unterricht zu überwinden und Kritikfähigkeit zu fördern. Digitale Bildung setzt somit auf Reflexion und Distanz. Die dafür erforderlichen zeitlichen Spielräume sind durch eine Reduktion der Stofffülle bereitzustellen. Diese soll Schule nicht leichter machen, sondern herausfordernder, weil sinnvoller. Ebenso ist ihr Ziel nicht, Wissen überflüssig zu machen, sondern es als Orientierungswissen zu verstehen.

Wenn es nicht nur um Lernen geht, sondern um Bildung, dann braucht der Mensch den Menschen.

Angesichts einer Generation, die mit digitalen Endgeräten aufwächst und im Umgang damit ein hohes Mass an Geschicklichkeit entwickelt, kann es nicht das Ziel digitaler Bildung sein, die täglichen Zeiten vor Displays, die ohnehin schon an der Grenze des pädagogisch Zuträglichen liegen, zu erhöhen. Jugendliche in Deutschland sind täglich im Schnitt fast vier Stunden online, diejenigen in den USA sogar neun Stunden.

Die Nutzung von Smartphones macht Kommunikation in sozialen Netzwerken sowie mediale Unterhaltung jederzeit möglich. Jugendliche können also die Endgeräte bedienen – sie verstehen sich auf die digitale Technologie. Was sie nicht verstehen, sind die Prozesse, die ein unreflektierter Medienkonsum in Gang setzt. So ist belegt, dass die Zeit der Internetnutzung in einem direkten, negativen Zusammenhang zur kognitiven Leistungsfähigkeit steht. Auch resultiert aus einem ausgiebigen und gekonnten Umgang mit der Technik nicht ein vertieftes Verständnis von Algorithmen. Dafür sind rudimentäre Kenntnisse einer Programmiersprache, der Kommunikationsmechanismen in sozialen Netzwerken und der Potenziale digitaler Innovation in Technik und Ökonomie nötig.

Ein konkretes Beispiel: Facebook funktioniert im Wesentlichen über Marketing. Es bietet eine Kommunikationsplattform an, die für viele weltweit attraktiv ist: Sie ermöglicht die Präsentation der eigenen Person, aber auch den Zusammenschluss mit Gleichgesinnten, mit politischen Kampagnen und dergleichen. Die algorithmische Steuerung erfolgt nun nach einem kommerziellen Muster, wonach einmal geäusserte Präferenzen für ein Produkt zu entsprechenden Angeboten dieses Typs von Produkt führen.

Auch wenn Nutzende bei Facebook mitsteuern können: Dieses Grundmuster führt hinsichtlich der kompletten Kommunikations- und Informationssteuerung zu einer problematischen Entwicklung. Denn abweichende und widerstreitende Auffassungen werden zunehmend ausgeblendet. Man könnte sagen, die Marketinglogik, ausgedehnt auf die politische und kulturelle Kommunikation, führt zu einer Auflösung der Gesellschaft in mehr oder weniger stark abgeschottete Kommunikationsgemeinschaften in sozialen Netzwerken. Die Demokratie beruht aber auf der Idee einer gemeinsamen Öffentlichkeit, eines Raums, in dem Gründe des Für und Wider ausgetauscht werden und Meinungsbildung in Konfrontation mit unterschiedlichen Auffassungen erfolgt. Das, was gelegentlich als Filterblasenbildung in sozialen Netzwerken bezeichnet wird, gefährdet also Grundbedingungen politischer Kultur und demokratischer Praxis.

Wir brauchen eigenständige Akteure

Ein wesentliches Ziel digitaler Bildung muss es daher sein, Jugendliche mit diesen Mechanismen vertraut zu machen und sie gegen den Trend zu Ideologisierung und Isolierung immun zu machen – anders formuliert: sie zu ermächtigen, eigenständige Akteure in den digitalen Kommunikations- und Interaktionswelten zu werden.

Nach unserem Verständnis darf digitale Bildung nicht zu einer Depotenzierung der Lehrkraft führen, weil nach allen empirischen Studien nicht die Technik, sondern das personale Band zwischen Lehrkraft und Lernenden von zentraler Bedeutung für den Lernerfolg und schliesslich auch für den Bildungserfolg ist: Menschen sind es, die Technik zum Leben erwecken, indem sie diese sinnvoll, also pädagogisch reflektiert und didaktisch gekonnt, in den Unterricht integrieren.

Diese empirischen Erkenntnisse werden von Industriezweigen systematisch ausgeblendet, weil alles, was technisch möglich ist, realisiert wird. Unter dem Stichwort «learning analytics» findet sich denn auch eine Reihe von Innovationen, die auf den ersten Blick interessant wirken, auf den zweiten Blick aber zutage fördern, dass Menschen durch Maschinen ersetzt und im Weiteren sogar Menschen wie Maschinen behandelt werden sollen. Auch wenn in manchen Fällen des Lernens durchaus ein kalter Rechner wirksamer sein kann als ein unfähiger Pädagoge: Wenn es nicht nur um das Lernen geht, sondern um Bildung, dann braucht der Mensch den Menschen.

Manche digitale Tools führen im Schulalltag zur Vereinzelung und zum Rückzug, mit zum Teil problematischen kulturellen und sozialen Folgen. Das Summit Learning Project, das von Priscilla Chan und Mark Zuckerberg in den USA umgesetzt wird, ist ein beachtenswertes Beispiel: Im Zentrum steht eine personalisierte Lernplattform, die das individuelle Lernen und somit das gezielte Fördern ermöglichen soll. Darauf werden Prüfungsfragen, Lernziele und Aufgaben an den einzelnen Schüler angepasst. Die Lehrkraft wird so zum Mentor, der die jeweils getrennt voneinander lernenden Schülerinnen und Schüler begleitet.

Heute zeigt sich, dass bereits mehrere Schulen das Summit-Programm wieder verliessen, da sich Eltern und ihre Kinder über die stundenlange Bildschirmarbeit beklagten. Den Lernenden mangelte es an Interaktion und direkter Kommunikation. Hinzu kamen körperliche Beeinträchtigungen aufgrund der stundenlangen Tätigkeit am Computer. Ebenso wurden die mangelhaften Websites, die als Informationsquellen herangezogen wurden, kritisiert.

Schwächung der Persönlichkeit

Solche Erfahrungen darf man nicht als Propaganda der Ewiggestrigen abtun. Sie zeigen nämlich, dass eine unbedachte Form der Digitalisierung des Bildungsalltags das Gegenteil des Beabsichtigten erreicht. Keine Stärkung, sondern eine Schwächung der Persönlichkeit der Lernenden durch einen Verlust der Lehrer-Schüler-Beziehung, soziale Isolation und digitale Abhängigkeit. In Zeiten einer digitalen Transformation ist somit die Professionalisierung von Lehrkräften wichtiger denn je. Sie benötigen die Urteilskraft, entscheiden zu können, welches Medium sie für welche Lernenden wann, wie und vor allem warum einsetzen.

Diese Urteilskraft setzt die Integration unterschiedlicher Wissensbestände in ein kohärentes Ganzes voraus, sie gewinnt ihre praktische Relevanz aber erst in der Brücke zur lebensweltlichen Erfahrung. Dies ist eine besondere Herausforderung für Lehrkräfte. Einerseits, weil es angesichts eines exponentiellen Zuwachses an Hard- und Software immer mehr Möglichkeiten dafür gibt. Andererseits, weil Lehrkräfte als Angehörige einer älteren Generation den Zugang zu den kindlichen und jugendlichen Lebenswelten sich oft erst erschliessen müssen.

Das, was Kritiker digitaler Kommunikation beklagen, wie körperliche Inaktivität, Kontrollverlust bei sozialen Netzwerken, Suchtsymptomatiken und Rückzug in virtuelle Welten, sollte nicht in der herablassenden Attitüde des Freundes digitalen Fortschritts abgetan werden. Die empirischen Ergebnisse sind dafür zu zahlreich. Technologien haben Menschen zu dienen, nicht Menschen den Technologien. Wir sind es, die entscheiden, welchen Gebrauch wir von digitalen Tools machen, wir bewerten diesen Gebrauch und haben diese Entwicklung als individuelle und kollektive Akteure zu steuern – in privaten, ökonomischen, sozialen und politischen Kontexten.

Digitale Bildung ist keine Alternative zur humanistisch angeleiteten pädagogischen Praxis, sondern fordert deren Fortführung, ja Radikalisierung. Im Mittelpunkt hat der Mensch zu stehen, seine Urteilskraft, seine Entscheidungsstärke und sein Tatendrang. Auch digitale Bildung muss darauf gerichtet sein, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass der Mensch der Autor seines Lebens ist. Eine «humane Bildung» im Zeitalter einer digitalen Transformation kann, ja muss aus unserer Sicht die kulturelle Leitidee sein.

Julian Nida-Rümelin lehrt Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der Universität Augsburg.

 


2 Kommentare:

  1. Hier der Twitter-Kommentar von Philippe Wampfler zum Artikel von Nida-Rümelin&Zierer und Hanspeter Amstutz:
    Ü60-Männer erklären lassen, weshalb Schulen keine »Digitalisierung« brauchen.
    Thanks for nothing, @NZZ und @tagesanzeiger

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  2. Hier noch die Diskussion auf Twitter https://twitter.com/phwampfler/status/1269889183604248578
    Interessante Statements von Wampfler.

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