Die Debatte um digitale Bildung krankt an einem Übermass an
ideologischer Voreingenommenheit. Auf der einen Seite diejenigen, die mit dem
Einzug von Laptops, Tablets und Co. den Untergang abendländischer
Bildungstraditionen befürchten, und auf der anderen Seite diejenigen, die in
Zeiten digitaler Transformation alles über Bord werfen, was in Jahrhunderten an
pädagogischem Wissen gewachsen ist. Die Apokalyptiker werden bezichtigt,
Abwehrreflexe zu kultivieren, während die Euphoriker als Propagandisten einer Ökonomisierung
von Bildung karikiert werden.
Digitale Bildung: Vernunft und Empirie als Antwort auf eine entgleiste Debatte, NZZ, 8.6. von Julian Nida-Rümelin und Klaus Zierer
Bereits dieser Streifzug durch die Debatte zeigt, dass es ihr an
kulturellen Leitideen mangelt, die Voraussetzungen dafür sind, dass
Bildungsreformen klare Zielsetzungen haben und zu
kohärenter Bildungsentwicklung führen. Im Folgenden versuchen wir
Orientierung zu geben, Vernunft und Empirie in die Debatte zu führen:
Was ist unter «digitaler Bildung» zu verstehen? Will man diese
Frage beantworten, so ist der Bildungsbegriff zu umreissen. Ohne dabei in
langwierige Erläuterungen zu entgleiten, scheint uns die Bestimmung hilfreich:
Bildung meint nicht das, was man aus meinem Leben gemacht hat, sondern das,
was ich aus meinem Leben mache. Damit wird der Mensch als
Autor seines Lebens zum Kristallisationspunkt. Mit der digitalen Transformation
ändern sich die Formen und Strukturen der Kommunikation und Interaktion, der
Information und Dezision. Die Verfügbarkeit von Daten wächst exponentiell,
während deren wissenschaftliche, aber auch lebensweltliche Interpretation sich
nur graduell ändert. Digitale Bildung muss diesem Auseinanderdriften
entgegenwirken. Das alte – humanistische – Bildungsideal der Urteilskraft ist
daher zentrales Ziel von Bildung und somit auch von digitaler Bildung.
Reflexion und Distanz
Urteilskraft kann nicht an wissenschaftliche Expertise delegiert werden,
denn diese ist disziplinär, punktuell, auf sich gestellt und daher nicht in der
Lage, die einzelnen wissenschaftlichen Beiträge zu einem kohärenten Weltbild
und zu einer kohärenten gesellschaftlich-politischen Praxis zusammenzuführen.
Urteilskraft als Ziel digitaler Bildung muss deshalb darauf gerichtet sein, die
Parzellierung von Wissensbeständen im schulischen Unterricht zu überwinden und
Kritikfähigkeit zu fördern. Digitale Bildung setzt somit auf Reflexion und
Distanz. Die dafür erforderlichen zeitlichen Spielräume sind durch eine
Reduktion der Stofffülle bereitzustellen. Diese soll Schule nicht leichter
machen, sondern herausfordernder, weil sinnvoller. Ebenso ist ihr Ziel nicht,
Wissen überflüssig zu machen, sondern es als Orientierungswissen zu verstehen.
Wenn es nicht nur um Lernen geht, sondern um
Bildung, dann braucht der Mensch den Menschen.
Angesichts einer Generation, die mit digitalen Endgeräten aufwächst und
im Umgang damit ein hohes Mass an Geschicklichkeit entwickelt, kann es nicht
das Ziel digitaler Bildung sein, die täglichen Zeiten vor Displays, die ohnehin
schon an der Grenze des pädagogisch Zuträglichen liegen, zu erhöhen.
Jugendliche in Deutschland sind täglich im Schnitt fast vier Stunden online,
diejenigen in den USA sogar neun Stunden.
Die Nutzung von Smartphones macht Kommunikation in sozialen Netzwerken
sowie mediale Unterhaltung jederzeit möglich. Jugendliche können also die
Endgeräte bedienen – sie verstehen sich auf die digitale Technologie. Was sie
nicht verstehen, sind die Prozesse, die ein unreflektierter Medienkonsum in
Gang setzt. So ist belegt, dass die Zeit der Internetnutzung in einem direkten,
negativen Zusammenhang zur kognitiven Leistungsfähigkeit steht. Auch resultiert
aus einem ausgiebigen und gekonnten Umgang mit der Technik nicht ein vertieftes
Verständnis von Algorithmen. Dafür sind rudimentäre Kenntnisse einer
Programmiersprache, der Kommunikationsmechanismen in sozialen Netzwerken und
der Potenziale digitaler Innovation in Technik und Ökonomie nötig.
Ein konkretes Beispiel: Facebook funktioniert im Wesentlichen über
Marketing. Es bietet eine Kommunikationsplattform an, die für viele weltweit
attraktiv ist: Sie ermöglicht die Präsentation der eigenen Person, aber auch
den Zusammenschluss mit Gleichgesinnten, mit politischen Kampagnen und
dergleichen. Die algorithmische Steuerung erfolgt nun nach einem kommerziellen
Muster, wonach einmal geäusserte Präferenzen für ein Produkt zu entsprechenden
Angeboten dieses Typs von Produkt führen.
Auch wenn Nutzende bei Facebook mitsteuern können: Dieses Grundmuster
führt hinsichtlich der kompletten Kommunikations- und Informationssteuerung zu
einer problematischen Entwicklung. Denn abweichende und widerstreitende
Auffassungen werden zunehmend ausgeblendet. Man könnte sagen, die
Marketinglogik, ausgedehnt auf die politische und kulturelle Kommunikation,
führt zu einer Auflösung der Gesellschaft in mehr oder weniger stark
abgeschottete Kommunikationsgemeinschaften in sozialen Netzwerken. Die
Demokratie beruht aber auf der Idee einer gemeinsamen Öffentlichkeit, eines
Raums, in dem Gründe des Für und Wider ausgetauscht werden und Meinungsbildung
in Konfrontation mit unterschiedlichen Auffassungen erfolgt. Das, was
gelegentlich als Filterblasenbildung in sozialen Netzwerken bezeichnet wird,
gefährdet also Grundbedingungen politischer Kultur und demokratischer Praxis.
Wir brauchen eigenständige Akteure
Ein wesentliches Ziel digitaler Bildung muss es daher sein, Jugendliche
mit diesen Mechanismen vertraut zu machen und sie gegen den Trend zu
Ideologisierung und Isolierung immun zu machen – anders formuliert: sie zu
ermächtigen, eigenständige Akteure in den digitalen Kommunikations- und
Interaktionswelten zu werden.
Nach unserem Verständnis darf digitale Bildung nicht zu einer
Depotenzierung der Lehrkraft führen, weil nach allen empirischen Studien nicht
die Technik, sondern das personale Band zwischen Lehrkraft und Lernenden von
zentraler Bedeutung für den Lernerfolg und schliesslich auch für den
Bildungserfolg ist: Menschen sind es, die Technik zum Leben erwecken, indem sie
diese sinnvoll, also pädagogisch reflektiert und didaktisch gekonnt, in den
Unterricht integrieren.
Diese empirischen Erkenntnisse werden von Industriezweigen systematisch
ausgeblendet, weil alles, was technisch möglich ist, realisiert wird. Unter dem
Stichwort «learning analytics» findet sich denn auch eine Reihe von
Innovationen, die auf den ersten Blick interessant wirken, auf den zweiten
Blick aber zutage fördern, dass Menschen durch Maschinen ersetzt und im
Weiteren sogar Menschen wie Maschinen behandelt werden sollen. Auch wenn in
manchen Fällen des Lernens durchaus ein kalter Rechner wirksamer sein kann als
ein unfähiger Pädagoge: Wenn es nicht nur um das Lernen geht, sondern um
Bildung, dann braucht der Mensch den Menschen.
Manche digitale Tools führen im Schulalltag zur Vereinzelung und zum
Rückzug, mit zum Teil problematischen kulturellen und sozialen Folgen. Das
Summit Learning Project, das von Priscilla Chan und Mark Zuckerberg in den USA
umgesetzt wird, ist ein beachtenswertes Beispiel: Im Zentrum steht eine
personalisierte Lernplattform, die das individuelle Lernen und somit das
gezielte Fördern ermöglichen soll. Darauf werden Prüfungsfragen, Lernziele und Aufgaben
an den einzelnen Schüler angepasst. Die Lehrkraft wird so zum Mentor, der die
jeweils getrennt voneinander lernenden Schülerinnen und Schüler begleitet.
Heute zeigt sich, dass bereits mehrere Schulen das Summit-Programm
wieder verliessen, da sich Eltern und ihre Kinder über die stundenlange
Bildschirmarbeit beklagten. Den Lernenden mangelte es an Interaktion und
direkter Kommunikation. Hinzu kamen körperliche Beeinträchtigungen aufgrund der
stundenlangen Tätigkeit am Computer. Ebenso wurden die mangelhaften Websites,
die als Informationsquellen herangezogen wurden, kritisiert.
Schwächung der Persönlichkeit
Solche Erfahrungen darf man nicht als Propaganda der Ewiggestrigen
abtun. Sie zeigen nämlich, dass eine unbedachte Form der Digitalisierung des Bildungsalltags
das Gegenteil des Beabsichtigten erreicht. Keine Stärkung, sondern eine
Schwächung der Persönlichkeit der Lernenden durch einen Verlust der
Lehrer-Schüler-Beziehung, soziale Isolation und digitale Abhängigkeit. In
Zeiten einer digitalen Transformation ist somit die Professionalisierung von
Lehrkräften wichtiger denn je. Sie benötigen die Urteilskraft, entscheiden zu
können, welches Medium sie für welche Lernenden wann, wie und vor allem warum
einsetzen.
Diese Urteilskraft setzt die Integration unterschiedlicher
Wissensbestände in ein kohärentes Ganzes voraus, sie gewinnt ihre praktische
Relevanz aber erst in der Brücke zur lebensweltlichen Erfahrung. Dies ist eine
besondere Herausforderung für Lehrkräfte. Einerseits, weil es angesichts eines
exponentiellen Zuwachses an Hard- und Software immer mehr Möglichkeiten dafür
gibt. Andererseits, weil Lehrkräfte als Angehörige einer älteren Generation den
Zugang zu den kindlichen und jugendlichen Lebenswelten sich oft erst
erschliessen müssen.
Das, was Kritiker digitaler Kommunikation beklagen, wie körperliche
Inaktivität, Kontrollverlust bei sozialen Netzwerken, Suchtsymptomatiken und
Rückzug in virtuelle Welten, sollte nicht in der herablassenden Attitüde des
Freundes digitalen Fortschritts abgetan werden. Die empirischen Ergebnisse sind
dafür zu zahlreich. Technologien haben Menschen zu dienen, nicht Menschen den
Technologien. Wir sind es, die entscheiden, welchen Gebrauch wir von digitalen
Tools machen, wir bewerten diesen Gebrauch und haben diese Entwicklung als
individuelle und kollektive Akteure zu steuern – in privaten, ökonomischen,
sozialen und politischen Kontexten.
Digitale Bildung ist keine Alternative zur humanistisch angeleiteten
pädagogischen Praxis, sondern fordert deren Fortführung, ja Radikalisierung. Im
Mittelpunkt hat der Mensch zu stehen, seine Urteilskraft, seine
Entscheidungsstärke und sein Tatendrang. Auch digitale Bildung muss darauf
gerichtet sein, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass der Mensch der Autor
seines Lebens ist. Eine «humane Bildung» im Zeitalter einer digitalen
Transformation kann, ja muss aus unserer Sicht die kulturelle Leitidee sein.
Julian
Nida-Rümelin lehrt Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität
München. Klaus Zierer ist Ordinarius für Schulpädagogik an der
Universität Augsburg.
Hier der Twitter-Kommentar von Philippe Wampfler zum Artikel von Nida-Rümelin&Zierer und Hanspeter Amstutz:
AntwortenLöschenÜ60-Männer erklären lassen, weshalb Schulen keine »Digitalisierung« brauchen.
Thanks for nothing, @NZZ und @tagesanzeiger
…
Hier noch die Diskussion auf Twitter https://twitter.com/phwampfler/status/1269889183604248578
AntwortenLöschenInteressante Statements von Wampfler.