10. Mai 2020

Sechs Thesen zum Fernunterricht

These 1: Hurra, hurra, die Schulen öffnen

Es ist die Zeit für Geständnisse. Von Primarschülern etwa. Sie rufen der Lehrperson vom Balkon zu: «Ich hätte es ja nie gedacht, aber ich gebe zu, ich freue mich, wiede rin die Schule zu dürfen.» Natürlich sehnen sich die Kinder aller Stufen nach ihren Gspänli, nach analoger Kommunikation von Mensch zu Mensch. Luna Lanz, Klassensprecherin der Oberstufenschule Orpund bei Biel, beschreibt es in einem Blogbeitrag auf www.condorcet.ch so: «Endlich wieder an meinem Pult zu sitzen, wieder Sport in der Schule zu haben, endlich die Chemieexperimente durchzuführen und die wechselnden Launen meines Klassenlehrers zu ertragen. Ja, das alles vermisste ich in der Coronaphase sehr.»

 Hurra, endlich wieder Schule!, Schweiz am Wochenende, 9.5. von Kari Kälin

These 2: Der Homeschooling-Boom bleibt aus

Die Coronakrise hat keinen Boom beim elterlichen Privatunterricht ausgelöst, wie Willi Villiger, Präsident von Bildung zu Hause, sagt. Der Verein verzeichne bloss eine minimale Zunahme an Vereinsbeitritten. Gründe für das Interesse sind etwa: Daheim werden die Kinder nicht gemobbt. Oder: Sie lernen besser zu Hause. Die Nachfrage nach Tipps hingegen war gross. So wurde der Blog einer erfahrenen Homeschool-Mutter tausendfach geklickt. Derzeit werden in der Schweiz rund 2500 Kinder dauerhaft in den eigenen vier Wänden beschult.

 

These 3: Eltern staunen, was die Schulen leisten

Mit dem Lockdown ist der Unterricht vom Schulhaus ins Wohnzimmer gewandert. Womit die Eltern realisieren, welche Schwierigkeiten es beim Lernprozess zu meistern gilt. Oder wie schnell die Kinder abgelenkt sind. Dass sie immer wieder aufs Neue motiviert werden müssen. Dass nicht der Lehrer schuld ist an den Lernschwierigkeiten. Dass Unterrichten anspruchsvoll ist, weil die Lehrer die ganze Klasse, aber auch den individuellen Lernfortschritt im Blick haben müssen. Dass es pädagogisch-didaktisches Geschick braucht, gut rhythmisierten Unterricht mit Übungs- und Korrekturphasen. Viele über Nacht zu Hilfslehrern mutierte Eltern sehnen sich die Wiedereröffnung der Schule herbei.

 

These 4: Digitalisierung steckt noch in den Kinderschuhen

Seien wir ehrlich. Wir waren generell suboptimal auf die Pandemie vorbereitet. Und all die damit verbundenen Herausforderungen. Siehe Maskenmangel. Können wir es den Schulen und Lehrern verübeln, dass sie am Tag 1 nach dem Lockdown nicht flächendeckend startklar waren für Fernunterricht? Dass alle nach eigenem Gutdünken herumwurstelten angesichts einer fehlenden Strategie? Nicht wirklich. Fest steht: Die Anwendungskompetenz ist gestiegen. Beat Döbeli, Leiter des Instituts für Medien und Schule der Pädagogischen Hochschule Schwyz, formuliert es so: «Viele Lehrerinnen und Lehrer wuchsen in dieser Zeit digital über sich hinaus und schafften, was sie sich vor kurzem nicht zugetraut hätten: eine Videokonferenz mit der ganzen Klasse führen, Arbeitsaufträge für eine ganze Woche auf einer Website zur Verfügung zu stellen oder Arbeiten von Schülerinnen und Schülern in Empfang nehmen und individuelle digitale Rückmeldungen geben.» Die von Döbeli mitinitiierte Seite www.lernentrotzcorona.ch wurde seit der Schulschliessung fast eine halbe Million Mal angeklickt. Die Plattform bietet so etwas wie eine digital-didaktische Rundumversorgung: praktische Anwendungstipps, aber auch konkretes Unterrichtsmaterial.

 

These 5: Digitaler Unterricht ist kein Ersatz fürs Klassenzimmer

Schafft sich die traditionelle Schule gerade ab? Sind die Lehrer überflüssig geworden, wenn die Kinder Lösungen in den Computer eintippen und dieser die Korrekturen ausspuckt? Manche Politiker versprechen sich einen digitalen Schub für die Post-Lockdown-Zeit. Das wird teilweise gelingen, weil sowohl Lehrer und Schüler den Umgang mit Computern besser beherrschen. Bloss: Der analoge Unterricht bleibt unersetzbar. Matchentscheidend für den Lernerfolg, das belegt etwa die berühmte Studie des Bildungsforschers John Hattie von der Universität Melbourne, ist nicht die technische Ausrüstung einer Schule, sondern die Lehrer-Schüler-Beziehung. Die Interaktion zwischen den Menschen ist zentral. Die aufbauenden Rückmeldungen an Schüler, die dialogische Begleitung im Lernprozess vermag eine anonyme Maschine nicht zu leisten. Zu dieser Erkenntnis gelangten übrigens ausgerechnet digitale Pioniere. So erzogen Microsoft-Gründer Bill Gates und Apple-Gründer Steve Jobs ihre Kinder weitgehend technikfrei. Diese besuchten digitalfreie Waldorf-Schulen.

 

These 6: Der Graben zwischen engagierten und eher faulen Lehrern akzentuiert sich

Ja, es gibt sie. Wie vermutlich in jedem Betrieb. Die Minimalisten. Es sind Lehrer, die wenig mit ihren Schülern interagierten, sie Anfang Woche mit einem Stapel Arbeitsblätter eindeckten und dann quasi sich selber überliessen. Im Ausnahmezustand mögen sich die Defizite noch stärker manifestieren. In Gesprächen mit Eltern, Schülern und Experten zeigt sich aber: Die überwiegende Mehrheit der Lehrer leistete grossen Einsatz. Und erhielt dafür lobendes Feedback von Eltern. Manche pedalten von Haus zu Haus, um vor allem den jüngeren Primarschülern die Aufgaben persönlich vorbeizubringen. Sie hielten mit ihnen einen kurzen Schwatz, riefen sie regelmässig an, besprachen und korrigierten die Arbeiten, bereiteten den Stoff didaktisch einwandfrei auf.


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