1. Mai 2020

Kantone verpassen einheitliche Lösung


Die Schweizer Bildungslandschaft gleicht derzeit einem Flickenteppich. Das Coronavirus hat die Kantonsgrenzen in tiefe Gräben verwandelt: Sei es bei Fragen zur geplanten Schulöffnung, den Zeugnisnoten oder den Maturitätsprüfungen – nirgends wurde eine einheitliche Lösung gefunden. Nicht einmal die obligatorische Schulstufe definieren alle Kantone gleich. Bestrebungen zur Harmonisierung, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf allen Stufen mit viel Aufwand verfolgt wurden, scheinen innert Wochen vergessen zu sein.
Kantönligeist statt Geschlossenheit: Das Coronavirus verwandelt die Schweizer Bildungslandschaft in einen Flickenteppich, NZZ, 30.4. von Nils Pfändler

Das Wirrwarr ist nicht nur unverständlich und irritierend, sondern hat auch negative Folgen für die betroffenen Schüler und Eltern. Jetzt, sechs Wochen nach der Schulschliessung, ist das Chaos perfekt. Die Schweiz-Karte sieht aus, als hätte sie ein unbegabter Primarschüler mit einer Schere bearbeitet.

Zürich und St. Gallen werden ab dem 11. Mai auf eine schrittweise Öffnung der Schulen und Halbklassenunterricht setzen, in Basel-Stadt, im Aargau, in Luzern und Schaffhausen beginnt der Unterricht fast regulär. In Luzern, im Aargau oder in Nidwalden werden in der Volksschule wie gewohnt Zeugnisnoten vergeben, in Zürich nicht. Die Romandie und das Tessin tendieren genauso zu einem Verzicht auf die schriftliche Maturitätsprüfung wie Zürich, Bern oder Basel-Stadt. In den meisten anderen Deutschschweizer Kantonen kommt dies nicht infrage.

Der Föderalismus ist eine Stärke des politischen Systems der Schweiz. Auch während der Corona-Krise ist es durchaus sinnvoll, dass nicht allen Kantonen eine Einheitslösung für ihr Bildungswesen vorgeschrieben wird. Die Kantone Tessin, Waadt oder Genf, die weit höhere Ansteckungsraten aufweisen als die anderen Teile der Schweiz, sollen die Rückkehr zum Normalbetrieb langsamer angehen können. 

Doch kantonale Souveränität in Ehren: Zumindest die Deutschschweiz hätte für die meisten Fragen eine einheitliche Antwort finden müssen. Dass dies möglich gewesen wäre, zeigt das Beispiel der Lehrabschlussprüfungen. Dort haben Bund, Kantone und Spitzenverbände der Wirtschaft bereits Mitte April eine national abgestimmte Lösung präsentiert.
Die unterschiedlichen Lösungen in praktisch allen Fragen sind weder effizient noch sinnvoll – und sie schüren Unsicherheit. Einige Eltern in Zürich dürften am 11. Mai nach mehreren Wochen als Lehrer in der eigenen Stube neidisch über die Kantonsgrenzen blicken. Dann dürfen andernorts die Kinder wieder regulär zur Schule gehen, die eigenen Schützlinge werden aber nur halbtags unterrichtet. Auch die Arbeitgeber können nach wie vor nicht voll und ganz auf ihre Angestellten zählen, weil das Betreuungsangebot je nach Kanton so unterschiedlich ausfällt.
Auch für die Maturanden sind die Folgen dieser zerstückelten Politik verheerend. Weil sich die Kantone so lange nicht auf eine einheitliche Position einigen konnten, wurde der Entscheid bis Ende April hinausgezögert. In manchen Gymnasien finden die Maturitätsprüfungen schon in Kürze statt. Statt sich konzentriert auf die grossen Abschlussprüfungen vorbereiten zu können, wurden die Schüler durch das politische Geplänkel abgelenkt und hingehalten. Das ist Gift für die Motivation und den Lernerfolg.
Auf der anderen Seite wurden die Maturanden in Zürich, Bern und Basel-Stadt kurzfristig um den Höhepunkt ihrer bisherigen Schulkarriere gebracht. Viele hadern zu Recht mit diesem Entscheid. Wenn nun in den Nachbarkantonen der Abschluss gefeiert wird, während der eigene Lebensabschnitt im Krisenmodus ausfranst, ist der Frust der Gymnasiasten mehr als verständlich.


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