Die Schweizer
Bildungslandschaft gleicht derzeit einem Flickenteppich. Das Coronavirus hat
die Kantonsgrenzen in tiefe Gräben verwandelt: Sei es bei Fragen zur geplanten
Schulöffnung, den Zeugnisnoten oder den Maturitätsprüfungen – nirgends wurde
eine einheitliche Lösung gefunden. Nicht einmal die obligatorische Schulstufe
definieren alle Kantone gleich. Bestrebungen zur Harmonisierung, die in den
letzten Jahren und Jahrzehnten auf allen Stufen mit viel Aufwand verfolgt
wurden, scheinen innert Wochen vergessen zu sein.
Kantönligeist statt Geschlossenheit: Das Coronavirus verwandelt die Schweizer Bildungslandschaft in einen Flickenteppich, NZZ, 30.4. von Nils Pfändler
Das Wirrwarr ist nicht nur unverständlich und irritierend, sondern hat auch
negative Folgen für die betroffenen Schüler und Eltern. Jetzt, sechs Wochen
nach der Schulschliessung, ist das Chaos perfekt. Die Schweiz-Karte sieht aus,
als hätte sie ein unbegabter Primarschüler mit einer Schere bearbeitet.
Zürich und St. Gallen werden ab dem 11. Mai auf eine schrittweise
Öffnung der Schulen und Halbklassenunterricht setzen, in Basel-Stadt, im
Aargau, in Luzern und Schaffhausen beginnt der Unterricht fast regulär. In
Luzern, im Aargau oder in Nidwalden werden in der Volksschule wie gewohnt
Zeugnisnoten vergeben, in Zürich nicht. Die Romandie und das Tessin tendieren
genauso zu einem Verzicht auf die schriftliche Maturitätsprüfung wie Zürich,
Bern oder Basel-Stadt. In den meisten anderen Deutschschweizer Kantonen kommt
dies nicht infrage.
Der Föderalismus ist eine Stärke des politischen Systems der
Schweiz. Auch während der Corona-Krise ist es durchaus sinnvoll, dass nicht
allen Kantonen eine Einheitslösung für ihr Bildungswesen vorgeschrieben wird.
Die Kantone Tessin, Waadt oder Genf, die weit höhere Ansteckungsraten
aufweisen als die anderen Teile der Schweiz, sollen die Rückkehr zum
Normalbetrieb langsamer angehen können.
Doch kantonale Souveränität in Ehren: Zumindest die Deutschschweiz
hätte für die meisten Fragen eine einheitliche Antwort finden müssen. Dass dies
möglich gewesen wäre, zeigt das Beispiel der Lehrabschlussprüfungen. Dort haben
Bund, Kantone und Spitzenverbände der Wirtschaft bereits Mitte April eine
national abgestimmte Lösung präsentiert.
Die unterschiedlichen Lösungen in praktisch allen Fragen sind weder
effizient noch sinnvoll – und sie schüren Unsicherheit. Einige Eltern in
Zürich dürften am 11. Mai nach mehreren Wochen als Lehrer in der eigenen Stube
neidisch über die Kantonsgrenzen blicken. Dann dürfen andernorts die Kinder
wieder regulär zur Schule gehen, die eigenen Schützlinge werden aber nur
halbtags unterrichtet. Auch die Arbeitgeber können nach wie vor nicht voll und
ganz auf ihre Angestellten zählen, weil das Betreuungsangebot je nach Kanton so
unterschiedlich ausfällt.
Auch für die Maturanden sind die Folgen dieser zerstückelten
Politik verheerend. Weil sich die Kantone so lange nicht auf eine einheitliche
Position einigen konnten, wurde der Entscheid bis Ende April hinausgezögert. In
manchen Gymnasien finden die Maturitätsprüfungen schon in Kürze statt. Statt
sich konzentriert auf die grossen Abschlussprüfungen vorbereiten zu können,
wurden die Schüler durch das politische Geplänkel abgelenkt und hingehalten.
Das ist Gift für die Motivation und den Lernerfolg.
Auf der anderen Seite wurden die Maturanden in Zürich, Bern und
Basel-Stadt kurzfristig um den Höhepunkt ihrer bisherigen Schulkarriere
gebracht. Viele hadern zu Recht mit diesem Entscheid. Wenn nun in den
Nachbarkantonen der Abschluss gefeiert wird, während der eigene Lebensabschnitt
im Krisenmodus ausfranst, ist der Frust der Gymnasiasten mehr als verständlich.
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