10. Mai 2020

Berner Förderung "vulnerabler Schüler"

Normalerweise fegen 370 Schülerinnen und Schüler vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse durch das Schulhaus Tscharnergut. Jetzt, an diesem windigen Vormittag des Corona-Frühlings, ist es still wie in einem Kloster beim Morgengebet. Die Schule ist geschlossen, die Kinder lernen seit dem Lockdown Mitte März zu Hause. Eigentlich. Doch in einem der Gruppenräume der 3./4. Klasse rauchen drei Köpfe. Zum Beispiel derjenige von A., der an seinem Pult sitzt und ausdauernd die schriftliche Multiplikation übt. Nicht ohne jedoch für den Fotografen seine Frisur jederzeit in Form zu halten.

Erster Sieg gegen den Wochenplan, Berner Zeitung, 5.5. von Jürg Steiner

Drei Stühle weiter kämpft A.’s Schwester S. mit Aufgaben im 1000er-Raum. Sie lässt auch dann nicht locker, als M., der drüben an der Fensterbank mit aufgesetzten Kopfhörern einem Französisch-Dialog des Lehrmittels «Mille feuilles» folgt, nach Heilpädagogin Nicole Jann Ait Bahmane ruft, weil er einen Satz nicht verstanden hat. Jann Ait Bahmane wechselt behende von Mathematik zu Französisch und wieder zurück, sie hilft, lobt und setzt ein wenig Druck auf, damit sich die Konzentration in der Kleingruppe nicht in Luft auflöst. Und für den Fall, dass jemand kurz Entspannung braucht, liegen hinten im Zimmer Jonglierbälle bereit.

Wenn niemand Deutsch spricht

So sieht praktische Lernunterstützung in der Corona-Krise aus. A., S. und M. gehören zu den 36 Schülerinnen und Schülern, die im Schulhaus Tscharnergut am freiwilligen Zusatzprogramm teilnehmen, das die von Gemeinderätin Franziska Teuscher (GB) geführte Direktion für Bildung, Soziales und Sport für «vulnerable Schülerinnen und Schüler» konzipiert hat. Ja, es gibt seit Corona nicht nur vulnerable Personen, die bei einer Ansteckung mit dem Virus gesundheitlich besonders gefährdet sind. Sondern es gibt auch die Kategorie der vulnerablen Schüler, die durch den behördlich verordneten Fernunterricht schulisch besonders gefährdet sind.

Es handelt sich in erster Linie um Kinder, die Lernschwierigkeiten haben oder deren familiäre Situation es praktisch unmöglich macht, dass sie zu Hause am Schulstoff arbeiten und von den Eltern unterstützt oder motiviert werden. Etwa, wenn in der Familie niemand Deutsch spricht. Für sie schuf das Stadtberner Schulamt nach dem Ende der Frühlingsferien das Angebot, an einem oder mehreren Vormittagen pro Woche für eine Doppelstunde in die Schule zu kommen. Hier sollen sie in einer coronagerechten Kleinstgruppe mit pädagogischer Unterstützung ihren Wochenplan abarbeiten. Die Einwilligung der Eltern vorausgesetzt.

 

Vom Radar verschwunden

Die Heilpädagoginnen Daniella Schlunegger, Corrie Weber und Nicole Jann Ait Bahmane leiten, unterstützt von einer Lehrerin der 1./2. Klasse sowie einem Praktikanten, im Tscharnergut den Zusatzunterricht. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler wird zusätzlich in der Tagesschule betreut. Jetzt, in der Mittagspause, desinfiziert Jann Ait Bahmane die benützten Pulte, Stühle und sogar die Filzstifte. Die Corona-Regeln sind omnipräsent. Aber den Kindern nicht zu nahe zu kommen, wenn man ihnen etwas erkläre, das sei praktisch unmöglich, sagen die Pädagoginnen. Allerdings habe sich auch kaum je so deutlich wie während des Corona-Lockdown gezeigt, wie wichtig die Präsenz einer Lehrperson sei.

«Es ist eindrücklich zu sehen, wie schnell sich die Bildungsschere öffnet», sagt Corrie Weber, «ein paar Wochen reichen.» Es gebe im Schulhaus Schülerinnen und Schüler, die seit dem Ende des Präsenzunterrichts vor sieben Wochen «wohl kaum mehr Deutsch gesprochen haben», sagt Daniella Schlunegger.

Die Schule und der Schulstoff seien teilweise komplett vom Radar verschwunden. Vielleicht, weil die Kinder kleinere Geschwister hüten müssen, wenn die Eltern arbeiten. Oder weil niemand die Schüler zum Lernen anhält oder ihnen helfen kann. Auch der Tagesrhythmus sei bei einigen aus den Fugen geraten, haben die Pädagoginnen festgestellt. Ohne Schulstundenplan fällt ein Grund weg, am Morgen aufzustehen. «Die Lernunterstützung im Schulhaus ist auch eine wichtige Hilfe, schrittweise in einen geregelten Schulalltag mit Verbindlichkeiten zurückzufinden», sagt Daniella Schlunegger.

Grenzen der Digitalisierung

Da die drei Heilpädagoginnen auch sonst mit den Klassen arbeiten, wussten sie rasch, für welche Kinder die zusätzliche Lernunterstützung nützlich wäre. Sie kontaktierten gezielt deren Eltern, und bei den allermeisten sei die Erleichterung über das schulische Angebot durchs Telefon zu hören gewesen. Es gab jedoch auch Bedenken. Zum Beispiel bei jener Familie, bei der eine Grossmutter im Haushalt wohnt, die für die Kinderbetreuung wichtig ist und keinesfalls mit dem Virus angesteckt werden darf. Die Pädagoginnen organisierten den Zusatzunterricht für die drei Geschwister dieser Familie so, dass ein Kontakt mit anderen Schulkindern ausgeschlossen ist.

Auch wenn ständig von Digitalisierung gesprochen wird und alle mit einem Smartphone herumlaufen: Längst nicht jede Familie hat zu Hause einen Computer oder einen Internet-Anschluss. «Wir kommunizieren mit den Eltern am Telefon oder per Post, und wenn wir niemanden erreichen, kommt es vor, dass wir vorbeigehen und klingeln, um den Wochenplan und den Schulstoff zu übergeben», sagt Daniella Schlunegger. Digitales Homeschooling funktioniere ab der 5./6. Klasse, in den Stufen darunter seien die Voraussetzungen je nach Familie zu unterschiedlich. Unter diesen Bedingungen komplizierte Dinge wie Mathematik oder Französisch im Fernunterricht zu vermitteln, sei praktisch ein Ding der Unmöglichkeit.

Pädagogin Corrie Weber arbeitet an diesem Vormittag mit drei Erst- und Zweitklässlern. Diszipliniert halten sie Distanz zueinander. R., dessen Familie mit einem Umzug beschäftigt ist, gelingt es, beim Thema Ergänzen bis 20 ein paar Rechnungen voranzukommen. G. belohnt sich, nachdem sie sorgfältig ihre Hand abgezeichnet hat, mit einem federleichten Sprung auf dem Mini-Trampolin hinten im Schulzimmer. Und L. schafft es zum ersten Mal in seiner Schulkarriere, den Wochenplan komplett fertigzustellen. Mit einer Triumphgeste steigt er auf seinen Stuhl. Wenn einer bereit ist für den Neustart der Schule am 11. Mai, dann er.

 


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