Normalerweise fegen 370 Schülerinnen und Schüler
vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse durch das Schulhaus Tscharnergut.
Jetzt, an diesem windigen Vormittag des Corona-Frühlings, ist es still wie in
einem Kloster beim Morgengebet. Die Schule ist geschlossen, die Kinder lernen
seit dem Lockdown Mitte März zu Hause. Eigentlich. Doch in einem der
Gruppenräume der 3./4. Klasse rauchen drei Köpfe. Zum Beispiel derjenige von
A., der an seinem Pult sitzt und ausdauernd die
schriftliche Multiplikation übt. Nicht ohne jedoch für den Fotografen
seine Frisur jederzeit in Form zu halten.
Erster Sieg gegen den Wochenplan, Berner Zeitung, 5.5. von Jürg Steiner
Drei Stühle weiter kämpft A.’s Schwester
S. mit Aufgaben im 1000er-Raum. Sie lässt auch dann nicht locker, als
M., der drüben an der Fensterbank mit aufgesetzten Kopfhörern einem
Französisch-Dialog des Lehrmittels «Mille feuilles» folgt, nach Heilpädagogin
Nicole Jann Ait Bahmane ruft, weil er einen Satz nicht verstanden hat. Jann Ait
Bahmane wechselt behende von Mathematik zu Französisch und wieder zurück, sie
hilft, lobt und setzt ein wenig Druck auf, damit sich die Konzentration in der
Kleingruppe nicht in Luft auflöst. Und für den Fall, dass jemand kurz Entspannung
braucht, liegen hinten im Zimmer Jonglierbälle bereit.
Wenn niemand
Deutsch spricht
So sieht praktische Lernunterstützung in der
Corona-Krise aus. A., S. und M. gehören zu
den 36 Schülerinnen und Schülern, die im Schulhaus Tscharnergut am
freiwilligen Zusatzprogramm teilnehmen, das die von Gemeinderätin Franziska
Teuscher (GB) geführte Direktion für Bildung, Soziales und Sport für
«vulnerable Schülerinnen und Schüler» konzipiert hat. Ja, es gibt seit Corona
nicht nur vulnerable Personen, die bei einer Ansteckung mit dem Virus
gesundheitlich besonders gefährdet sind. Sondern es gibt auch die Kategorie der
vulnerablen Schüler, die durch den behördlich verordneten
Fernunterricht schulisch besonders gefährdet sind.
Es handelt sich in erster Linie um Kinder, die
Lernschwierigkeiten haben oder deren familiäre Situation es praktisch unmöglich
macht, dass sie zu Hause am Schulstoff arbeiten und von den Eltern unterstützt
oder motiviert werden. Etwa, wenn in der Familie niemand Deutsch spricht. Für
sie schuf das Stadtberner Schulamt nach dem Ende der Frühlingsferien das
Angebot, an einem oder mehreren Vormittagen pro Woche für eine Doppelstunde in
die Schule zu kommen. Hier sollen sie in einer coronagerechten
Kleinstgruppe mit pädagogischer Unterstützung ihren Wochenplan abarbeiten.
Die Einwilligung der Eltern vorausgesetzt.
Vom Radar
verschwunden
Die Heilpädagoginnen Daniella Schlunegger, Corrie
Weber und Nicole Jann Ait Bahmane leiten, unterstützt von einer Lehrerin der
1./2. Klasse sowie einem Praktikanten, im Tscharnergut den
Zusatzunterricht. Ein Teil der Schülerinnen und Schüler wird zusätzlich in
der Tagesschule betreut. Jetzt, in der Mittagspause, desinfiziert Jann Ait
Bahmane die benützten Pulte, Stühle und sogar die Filzstifte. Die Corona-Regeln
sind omnipräsent. Aber den Kindern nicht zu nahe zu kommen, wenn man ihnen
etwas erkläre, das sei praktisch unmöglich, sagen die Pädagoginnen. Allerdings
habe sich auch kaum je so deutlich wie während des
Corona-Lockdown gezeigt, wie wichtig die Präsenz einer Lehrperson sei.
«Es ist eindrücklich zu sehen, wie schnell sich die
Bildungsschere öffnet», sagt Corrie Weber, «ein paar Wochen reichen.» Es gebe
im Schulhaus Schülerinnen und Schüler, die seit dem Ende des Präsenzunterrichts
vor sieben Wochen «wohl kaum mehr Deutsch gesprochen haben», sagt Daniella
Schlunegger.
Die Schule und der Schulstoff seien teilweise komplett vom Radar verschwunden. Vielleicht, weil die Kinder kleinere Geschwister hüten müssen, wenn die Eltern arbeiten. Oder weil niemand die Schüler zum Lernen anhält oder ihnen helfen kann. Auch der Tagesrhythmus sei bei einigen aus den Fugen geraten, haben die Pädagoginnen festgestellt. Ohne Schulstundenplan fällt ein Grund weg, am Morgen aufzustehen. «Die Lernunterstützung im Schulhaus ist auch eine wichtige Hilfe, schrittweise in einen geregelten Schulalltag mit Verbindlichkeiten zurückzufinden», sagt Daniella Schlunegger.
Grenzen der
Digitalisierung
Da die drei Heilpädagoginnen auch sonst mit den
Klassen arbeiten, wussten sie rasch, für welche Kinder die zusätzliche
Lernunterstützung nützlich wäre. Sie kontaktierten gezielt deren Eltern, und
bei den allermeisten sei die Erleichterung über das schulische Angebot durchs
Telefon zu hören gewesen. Es gab jedoch auch Bedenken. Zum Beispiel bei
jener Familie, bei der eine Grossmutter im Haushalt wohnt, die für die
Kinderbetreuung wichtig ist und keinesfalls mit dem Virus angesteckt werden
darf. Die Pädagoginnen organisierten den Zusatzunterricht für die drei
Geschwister dieser Familie so, dass ein Kontakt mit anderen Schulkindern
ausgeschlossen ist.
Auch wenn ständig von Digitalisierung gesprochen
wird und alle mit einem Smartphone herumlaufen: Längst nicht jede Familie hat
zu Hause einen Computer oder einen Internet-Anschluss. «Wir kommunizieren mit
den Eltern am Telefon oder per Post, und wenn wir niemanden erreichen, kommt es
vor, dass wir vorbeigehen und klingeln, um den Wochenplan und den Schulstoff zu
übergeben», sagt Daniella Schlunegger. Digitales Homeschooling funktioniere ab
der 5./6. Klasse, in den Stufen darunter seien die Voraussetzungen je nach
Familie zu unterschiedlich. Unter diesen Bedingungen komplizierte Dinge wie
Mathematik oder Französisch im Fernunterricht zu vermitteln, sei
praktisch ein Ding der Unmöglichkeit.
Pädagogin Corrie Weber arbeitet an diesem Vormittag
mit drei Erst- und Zweitklässlern. Diszipliniert halten sie Distanz zueinander.
R., dessen Familie mit einem Umzug beschäftigt ist, gelingt es, beim Thema
Ergänzen bis 20 ein paar Rechnungen voranzukommen. G. belohnt sich,
nachdem sie sorgfältig ihre Hand abgezeichnet hat, mit einem federleichten
Sprung auf dem Mini-Trampolin hinten im Schulzimmer. Und L. schafft es zum
ersten Mal in seiner Schulkarriere, den Wochenplan komplett fertigzustellen.
Mit einer Triumphgeste steigt er auf seinen Stuhl. Wenn einer bereit ist
für den Neustart der Schule am 11. Mai, dann er.
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