25. April 2020

Steiner: "Kantone sollen selber entscheiden, wann sie den normalen Betrieb wieder hochfahren"


Nächste Woche wird der Bund Vorgaben für die Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts vom 11.Mai in der Volksschule machen. Mit welchen Massnahmen rechnen Sie?
Silvia Steiner: Wir gehen davon aus, dass der Bund Eckwerte in drei Bereichen erlassen wird: erstens zum Schutz der vulnerablen Personen, namentlich der Schüler, ihrer Eltern und der Lehrpersonen. Zweitens erwarten wir Angaben zum Thema Prävention und Aufklärung, drittens zur Umsetzung der Hygienemassnahmen.
"Wir dürfen die Lehrer nicht überlasten", Südostschweiz, 25.4. von Kari Kälin


Wird es vor allen Schulzimmertüren Desinfektionsspender geben?
Die Details sind noch nicht spruchreif, dazu kann ich mich nicht äussern. Der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK)ist es wichtig, dass die Kantone genügend Spielraum bei der Umsetzung der Schutzkonzepte haben, dass sie den unterschiedlichen Voraussetzungen in den einzelnen Gemeinden und Schulen Rechnung tragen können. Wir müssen zum Beispiel die Bedenken von Westschweizer Kantonen ernst nehmen, sie haben grössere Infektionsraten und stehen der Schulöffnung skeptischer gegenüber als die Deutschschweiz.

Ist das Einhalten der Coronaregeln in einer Primarklasse mit 20 Schülern realistisch?
Es ist unrealistisch, dass sich die Schüler im Klassenzimmer und im Turnunterricht nie näher als zwei Meter kommen. Es ist aber wichtig, dass sie im öffentlichen Raum die Abstandsregeln respektieren und maximal in Fünfergruppen unterwegs sind. Ich traue es den Lehrern zu, die Kinder für diese Anforderungen zu sensibilisieren.

Werden die Kantone gefährdete Kinder oder Kinder von gefährdeten Eltern dispensieren?
Der Bund wird zu diesem Thema keine detaillierten Weisungen erlassen, auch die EDK verzichtet bewusst darauf. Die Kantone müssen den Einzelfall bewerten und abwägen zwischen dem Recht auf körperliche Unversehrtheit von Schülern und deren Angehörigen sowie dem verfassungsmässigen Recht auf Bildung. Das Gesetz sieht Bussen vor für Eltern, die ihre Kinder von der Schule fernhalten.

Werden die Kantone Sanktionen aussprechen, wenn Eltern ihre Kinder aus Angst vor einer Ansteckung nicht in die Schule schicken?
Davon sehen wir bewusst ab. Es ist wichtig, dass die Menschen in dieser schwierigen Phase wieder Vertrauen in die Volksschule aufbauen. Mit Bussen werden wir die Ängste nicht vertreiben. Vielmehr werden wir das Gespräch suchen müssen, gerade auch mit Eltern, welche selber zur Risikogruppe gehören. Ich bin zuversichtlich, dass wir im Dialog passende Lösungen für den Einzelfall finden werden.

Wie viele Lehrpersonen gehören zur gefährdeten Gruppe?
Das wissen wir nicht. Es würde aber nichts bringen, wenn jemand mit Angst vor einer Klasse steht.

Können die Schulen einen Ausfall der vulnerablen Lehrer verkraften?
Ich habe grosses Vertrauen, dass auch Lehrpersonen mit gesundheitlichen Problemen ihrem Beruf nachgehen, weil sie Freude daran haben. Es ist entscheidend, dass die Schulen für sie ein Schutzkonzept umsetzen können. Da sind vor allem auch die Schulleitungen gefordert.
Ist eine Mischform von Präsenz- und Fernunterricht zum Schutz verletzlicher Lehrer denkbar?
Der Aufwand für diesen Tanz auf zwei Hochzeiten wäre sehr gross. Ich finde das keine gute Idee. Wir dürfen die Lehrer jetzt nicht überlasten, sondern müssen sorgfältig mit unseren Ressourcen umgehen. Entscheiden wird letztlich der Bund. Ich bin zuversichtlich, dass er die pädagogischen Inputs der Kantone berücksichtigen wird.

Sollen einzelne Kantone ihre Schulen auch später als nach dem 11.Mai öffnen dürfen?
Aus Sicht der EDK spricht nichts dagegen. Die Kantone sollen selber entscheiden, wann sie den normalen Betrieb wieder hochfahren. Die EDK wird sich auf Eckwerte bei den Schutzkonzepten einigen, aber keine didaktischen und operativen Vorgaben definieren.

Die EDK empfiehlt, keine mündliche Maturaprüfungen zu veranstalten. Weshalb hat sie keinen generellen Verzicht beschlossen?
Wir wollen den Kantonen Freiheiten lassen. Für viele bedeutet die Maturaprüfung eine Art psychologischer Abschluss eines wichtigen Abschnitts einer Bildungskarriere.

Einige Kantone werden schriftliche Maturaprüfungen durchführen, andere wie Zürich oder Bern wollen darauf verzichten. Kommt man in prüfungsfreien Kantonen im Schlafwagen zur Matura?
Die Gymnasiasten haben auf dem Weg zur Matura ein mehrjähriges, strenges Promotionsverfahren durchlaufen. Es wäre ein Armutszeugnis, wenn dieser Leistungsausweis respektive die Erfahrungsnoten nicht genügten, um nachher an einer Hochschule zu studieren. Die Universität Zürich hat mir übrigens bestätigt, dass sie keine Zweifel an der Studierfähigkeit des diesjährigen Maturajahrgangs hegt.

Stört die föderale Vielfalt bei den schriftlichen Prüfungen nicht?
Nein. Ich kann gut mit ein paar Farbtupfern leben. Ich gebe zu bedenken, dass sich nach einem langen Intermezzo mit Fernunterricht einige Probleme stellen. Wie können wir die Chancengerechtigkeit sicherstellen? Hatten alle die gleichen Lernbedingungen? Können die Prüfungen auch bestanden werden, wenn die Schüler während Wochen nur von der Ferne unterrichtet wurden? Die Prüfungen müssen auch rekursfähig sein. Ergo müssten die Mittelschullehrerinnen und -lehrer neue Prüfungen schreiben. Es geht auch darum, deren Ressourcen zu schonen.

Für das Streichen der schriftlichen Prüfung müsste der Bundesrat die Maturitätsverordnung mit Notrecht ändern. Was passiert, wenn der Bundesrat das nicht tut?
Die EDK-Plenarversammlung hat sich einstimmig dafür ausgesprochen, den Entscheid den Kantonen zu überlassen. Diverse Kantone, die 67 Prozent der Maturanden stellen, haben sich bereits gegen schriftliche Prüfungen ausgesprochen, unter anderem die ganze lateinische Schweiz. Wenn der Bund auf den schriftlichen Prüfungen beharrt, beschert das einigen Kantonen grosse Probleme bei der praktischen Umsetzung. Ob dem Bundesrat unser Antrag gefällt, weiss ich jedoch nicht.
Zur Person Silvia Steiner (CVP) ist seit 2015 Bildungsdirektorin des Kantons Zürich und Präsidentin der Schweizerischen Konferenz der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren.

1 Kommentar:

  1. Steiner: "Es ist unrealistisch, dass sich die Schüler im Klassenzimmer und im Turnunterricht nie näher als zwei Meter kommen. Es ist aber wichtig, dass sie im öffentlichen Raum die Abstandsregeln respektieren und maximal in Fünfergruppen unterwegs sind."
    Diese Aussage zeigt die Absurdität der momentanen Lage. Frau Steiner äussert hier Dinge, die ihr offenbar nicht als Widerspruch auffallen.

    Bereits beim Zeugnis hat sie sich mit dem Kanton Zürich einen eigenen Weg offen gehalten. Nun sagt sie auch noch, jeder Kanton könne die Schulen nach Belieben wieder öffnen. Wozu brauchen wir eigentlich noch eine EDK?

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