Plötzlich ist die Schule digital. Lehrerinnen chatten mit ihren
Schülern, Kinder lernen mit webbasierten Tools, Lehrer laden ihre Lektion als
Video ins Netz, und Unterrichtsmaterialien stehen auf Online-Plattformen für
die Klasse bereit. Seit wegen des Coronavirus der Fernunterricht eingeführt
wurde, spriessen Ideen für den digitalen Unterricht wie Pop-up-Werbung auf
zweifelhaften Websites. Die Ausnahmesituation hat der Digitalisierung des
Schulbetriebs den Schub verliehen, auf den das Bildungswesen jahrzehntelang
gewartet hat.
Die Coronakrise verleiht der Digitalisierung der Schulen einen längst fälligen Schub, NZZ, 7.4. von Nils Pfändler
Denn der Ruf nach technologischem Fortschritt ist alt. Älter sind
mancherorts nur die Computer, die den Schülerinnen zur Verfügung stehen – wenn
sie denn überhaupt vorhanden sind. Der Schritt in ein digitales Zeitalter
schien seit Jahrzehnten unmittelbar bevorzustehen. Doch er wurde nie gemacht.
Die NZZ warf schon 1998 die Frage auf, ob das «Lernen mit der Maus» in
der Primarschule sinnvoll sei – was der Gastautor klar bejahte. Ein Jahr später
phantasierte der «Sonntags-Blick» mit einer Mischung aus Faszination und Grusel
über die Schule der Zukunft. Der «total vernetzte Schüler» sei nicht mehr allzu
fern, verkündeten die Autoren. Aus heutiger Perspektive hat die Beschreibung
aus dem vergangenen Jahrtausend beinahe prophetische Qualität:
«Schüler und ihre Lehrer konferieren via Bildschirm, suchen sich ihre
Lektionen gemeinsam im Internet. Schülerteams erarbeiten zu Hause mithilfe des
portablen PCs fächerübergreifende Projekte. Kontakte zu internationalen
Experten laufen über E-Mail. Ab und zu treffen sich die Kinder im realen
Klassenzimmer.
Was heute noch nach Science-Fiction klingt, ist in ein paar Jahren
Realität.»
Die Vision entspricht in diesen Wochen tatsächlich dem Alltag der
Schülerinnen und Lehrer. Grund dafür ist aber nicht der fortschrittliche Wandel
in den Schulen, sondern das Coronavirus. Die rasante Entwicklung der letzten
Wochen kann die Tatsache nicht vertuschen, dass der technologische Fortschritt
der vergangenen Jahrzehnte an manchen Klassenzimmern fast spurlos
vorbeigegangen ist.
Die Krise hat diese Versäumnisse nun gnadenlos aufgedeckt: In vielen
Schulen fehlt es an Infrastruktur, Tools, Wissen und Erfahrung – ein Mangel,
den die betroffenen Schulleiter und Lehrerinnen nun mit enormem Stress und
Aufwand zu beheben versuchen.
Kluft zwischen den Schulzimmern
Die Schweizer Bildungslandschaft gleicht in Bezug auf die
Digitalisierung einem kunterbunt verpixelten Display. Innerhalb des Landes, der
Kantone, ja gar innerhalb der Schulen bestehen riesige Unterschiede. Einige
Lehrerinnen und Lehrer haben schon lange Initiative ergriffen und neue
technologische Möglichkeiten im Unterricht eingeführt. Bei anderen stellt
selbst die Kommunikation per E-Mail noch ein Hindernis dar.
Die Kluft ist beachtlich, erstaunen tut sie nicht. Zum einen geniessen
die Lehrerinnen in ihren Klassenzimmern grosse Freiheiten. Zum anderen ist das
Bildungswesen nicht für seine Reformfreudigkeit bekannt. Beides ist nicht
grundsätzlich schlecht: Die individuellen Stärken der Lehrer sollen unbedingt
in den Unterricht einfliessen; und schon manch ein pädagogischer Trend erwies
sich im Nachhinein als Humbug. Trotzdem ist es falsch, dass sich gewisse
Schulen gegenüber jeglichen Neuerungen verschliessen. Die Zeit darf auch in den
Klassenzimmern niemals stehenbleiben.
Lehren aus der Krise
Klar, die gegenwärtige Ausnahmesituation ist mit dem normalen
Schulalltag nicht zu vergleichen. Der Fernunterricht ist eine Übergangslösung.
Es steht im Interesse aller Beteiligten, dass dieser Zustand nicht allzu lange
dauern wird. Für ein abschliessendes Fazit dieser verrückten Zeit ist es noch
zu früh. Trotzdem zeigen sich bereits jetzt erste Erkenntnisse, von denen
einige für die Weiterentwicklung der Schule – auch nach der Corona-Krise – von
Bedeutung sein können.
Eine Tendenz kristallisiert sich nach den ersten Wochen Homeschooling
heraus: Je älter die Schüler, desto digitaler kann der Unterricht gestaltet
werden. Das liegt nicht primär an der Technologieaffinität der Kinder. Viele
Knirpse verstehen es nach einer kurzen Anleitung besser als manche Erwachsene,
neue Tools zu nutzen. Wen wundert’s: Viele von ihnen haben bereits digitale
Geräte in den Händen gehalten, bevor sie auf zwei Beinen stehen konnten.
Vielmehr liegt der Unterschied am Entwicklungsstand der Schülerinnen und
Schüler. Auf der Primarstufe zeigte sich bereits nach den ersten Tagen
Fernunterricht, dass der direkte Kontakt unersetzlich ist. Viele Schüler
vermissten ihre Klassenkameraden und Lehrerinnen bitterlich. Die digitale
Kommunikation erfordert ein Abstraktionsvermögen, das gerade in der Unterstufe
noch nicht vorausgesetzt werden kann.
In der Oberstufe sieht die Sache schon ganz anders aus. Viele
Jugendliche schätzen es, dass ihnen nun – wenn auch gezwungenermassen – mehr
Verantwortung übertragen wird. Besonders das projektbasierte Lernen fördert
sowohl das selbständige Planen und Organisieren als auch die individuelle
Zeiteinteilung – Fähigkeiten, die später im Berufsleben oder an den Hochschulen
unerlässlich sind.
Noch eindeutiger ist die Lage an den Universitäten. Vielen Studenten war
es schon vor Jahren schleierhaft, wieso sie zu einer bestimmten Zeit für eine
neunzigminütige Vorlesung zur Uni fahren mussten. Es kommt deshalb nicht von
ungefähr, dass in Zürich noch vor der Schliessung der Universität Hunderte
Studenten in einer Online-Petition endlich die flächendeckende Einführung von
Podcast-Vorlesungen forderten. Zahlreiche Professoren unterstützen ihr
Anliegen.
Die Entwicklungen der letzten Wochen wecken trotz allen Turbulenzen
Hoffnungen für die Zukunft. Innert kürzester Zeit entstanden Kommunikationswege
zwischen Schülern, Lehrern und Eltern, die vorher nicht oder nur ansatzweise
vorhanden waren. Einige Pädagogen erkannten, dass multimediale
Unterrichtsformen nicht nur eine Spielerei sind, sondern die Motivation und den
Lernerfolg ihrer Schülerinnen steigern können. Und fast alle Schulen setzen
neuerdings Plattformen zum Austausch von Materialien ein, die auch nach der
Corona-Krise nützlich sein werden.
Grenzen der Digitalisierung
Doch die Ausnahmesituation zeigt auch, wo die Grenzen der digitalen
Technologien beim Unterrichten liegen. Der Klassenverbund ist für die
Schülerinnen ein essenzielles soziales Gefüge – das gilt nicht nur für
Erstklässler in der Primarschule, sondern auch für Maturanden am Gymnasium. Das
Schulzimmer ist ein Auffangbecken für benachteiligte Schüler und kann für
Kinder, die gerade nicht gerne zu Hause sind, ein willkommener Fluchtort sein.
Schule ist viel mehr als Lehren und Lernen.
Die physische Anwesenheit der Schülerinnen und Studenten, Lehrer und
Dozentinnen ist dabei nicht für alle, aber doch für viele Interaktionen
sinnvoll. Wer einmal mit einem Dutzend Leute eine hitzige Diskussion im
virtuellen Raum geführt hat, sehnt sich schnell in ein Zimmer mit vier Wänden
zurück.
Die unaufhaltbare Digitalisierung der Welt erhöht den Stellenwert des
direkten Austausches zusätzlich. In einer Zeit, in der immer mehr soziale
Interaktionen über Bildschirme stattfinden, bekommt der persönliche Dialog
einen neuen Wert. Deshalb müssen die Technologien auch in Zukunft gezielt dort
eingesetzt werden, wo ein Mehrwert entsteht. Schulen und Universitäten müssen
Orte der Debatte bleiben.
Einige Fragen warten zudem noch auf überzeugende Antworten. Die
Chancengerechtigkeit kann noch weniger gewährleistet werden, wenn die Schüler
nicht im Klassenzimmer anwesend sind. Prüfungen lassen sich kaum in der Ferne
auf digitalem Wege durchführen, was die Notensetzung schwierig macht. Auch in
Bezug auf den Datenschutz dürften in der überstürzten Phase nach den
Schulschliessungen einige Lücken entstanden sein.
Viele Schulen hätten die Digitalisierung lange vor der Corona-Krise
vorantreiben können und müssen. Zahlreiche Probleme, besonders in der
Kommunikation und beim Austausch von Unterrichtsmaterialien, hätten ohne
weiteres vermieden werden können. Was nun aber Lehrer, Schulleiterinnen, Eltern
und ihre Kinder vielerorts leisten, ist beachtlich. Die Ausnahmesituation
erfordert von allen Beteiligten eine grosse Portion Flexibilität und
Spontaneität – eine Herausforderung, die viele auf beeindruckende Art und Weise
meistern. In manch einem Haushalt dürfte die Achtung für die tagtägliche Arbeit
der Lehrerinnen in den letzten Wochen gestiegen sein.
Es bleibt zu hoffen, dass wir dereinst auf die Schulzeit während der
Corona-Krise zurückblicken und nicht nur Negatives, sondern auch einen längst
fälligen Fortschritt erkennen. Wenn der Ausnahmezustand einmal vorbei ist und
die Schülerinnen in die Klassenzimmer zurückkehren, wird trotzdem wieder vieles
so sein wie vorher. Und das ist gut so. Die Vorstellung, dass Schule ausschliesslich
am Computer stattfindet, war schon vor mehr als zwanzig Jahren nicht mehr als
Science-Fiction. Das darf sie auch in Zukunft bleiben.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen