7. April 2020

Längst fälliger Fortschritt


Plötzlich ist die Schule digital. Lehrerinnen chatten mit ihren Schülern, Kinder lernen mit webbasierten Tools, Lehrer laden ihre Lektion als Video ins Netz, und Unterrichtsmaterialien stehen auf Online-Plattformen für die Klasse bereit. Seit wegen des Coronavirus der Fernunterricht eingeführt wurde, spriessen Ideen für den digitalen Unterricht wie Pop-up-Werbung auf zweifelhaften Websites. Die Ausnahmesituation hat der Digitalisierung des Schulbetriebs den Schub verliehen, auf den das Bildungswesen jahrzehntelang gewartet hat.
Die Coronakrise verleiht der Digitalisierung der Schulen einen längst fälligen Schub, NZZ, 7.4. von Nils Pfändler

Denn der Ruf nach technologischem Fortschritt ist alt. Älter sind mancherorts nur die Computer, die den Schülerinnen zur Verfügung stehen – wenn sie denn überhaupt vorhanden sind. Der Schritt in ein digitales Zeitalter schien seit Jahrzehnten unmittelbar bevorzustehen. Doch er wurde nie gemacht.

Die NZZ warf schon 1998 die Frage auf, ob das «Lernen mit der Maus» in der Primarschule sinnvoll sei – was der Gastautor klar bejahte. Ein Jahr später phantasierte der «Sonntags-Blick» mit einer Mischung aus Faszination und Grusel über die Schule der Zukunft. Der «total vernetzte Schüler» sei nicht mehr allzu fern, verkündeten die Autoren. Aus heutiger Perspektive hat die Beschreibung aus dem vergangenen Jahrtausend beinahe prophetische Qualität:
«Schüler und ihre Lehrer konferieren via Bildschirm, suchen sich ihre Lektionen gemeinsam im Internet. Schülerteams erarbeiten zu Hause mithilfe des portablen PCs fächerübergreifende Projekte. Kontakte zu internationalen Experten laufen über E-Mail. Ab und zu treffen sich die Kinder im realen Klassenzimmer.
Was heute noch nach Science-Fiction klingt, ist in ein paar Jahren Realität.»

Die Vision entspricht in diesen Wochen tatsächlich dem Alltag der Schülerinnen und Lehrer. Grund dafür ist aber nicht der fortschrittliche Wandel in den Schulen, sondern das Coronavirus. Die rasante Entwicklung der letzten Wochen kann die Tatsache nicht vertuschen, dass der technologische Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte an manchen Klassenzimmern fast spurlos vorbeigegangen ist.

Die Krise hat diese Versäumnisse nun gnadenlos aufgedeckt: In vielen Schulen fehlt es an Infrastruktur, Tools, Wissen und Erfahrung – ein Mangel, den die betroffenen Schulleiter und Lehrerinnen nun mit enormem Stress und Aufwand zu beheben versuchen.

Kluft zwischen den Schulzimmern
Die Schweizer Bildungslandschaft gleicht in Bezug auf die Digitalisierung einem kunterbunt verpixelten Display. Innerhalb des Landes, der Kantone, ja gar innerhalb der Schulen bestehen riesige Unterschiede. Einige Lehrerinnen und Lehrer haben schon lange Initiative ergriffen und neue technologische Möglichkeiten im Unterricht eingeführt. Bei anderen stellt selbst die Kommunikation per E-Mail noch ein Hindernis dar.

Die Kluft ist beachtlich, erstaunen tut sie nicht. Zum einen geniessen die Lehrerinnen in ihren Klassenzimmern grosse Freiheiten. Zum anderen ist das Bildungswesen nicht für seine Reformfreudigkeit bekannt. Beides ist nicht grundsätzlich schlecht: Die individuellen Stärken der Lehrer sollen unbedingt in den Unterricht einfliessen; und schon manch ein pädagogischer Trend erwies sich im Nachhinein als Humbug. Trotzdem ist es falsch, dass sich gewisse Schulen gegenüber jeglichen Neuerungen verschliessen. Die Zeit darf auch in den Klassenzimmern niemals stehenbleiben.

Lehren aus der Krise
Klar, die gegenwärtige Ausnahmesituation ist mit dem normalen Schulalltag nicht zu vergleichen. Der Fernunterricht ist eine Übergangslösung. Es steht im Interesse aller Beteiligten, dass dieser Zustand nicht allzu lange dauern wird. Für ein abschliessendes Fazit dieser verrückten Zeit ist es noch zu früh. Trotzdem zeigen sich bereits jetzt erste Erkenntnisse, von denen einige für die Weiterentwicklung der Schule – auch nach der Corona-Krise – von Bedeutung sein können.

Eine Tendenz kristallisiert sich nach den ersten Wochen Homeschooling heraus: Je älter die Schüler, desto digitaler kann der Unterricht gestaltet werden. Das liegt nicht primär an der Technologieaffinität der Kinder. Viele Knirpse verstehen es nach einer kurzen Anleitung besser als manche Erwachsene, neue Tools zu nutzen. Wen wundert’s: Viele von ihnen haben bereits digitale Geräte in den Händen gehalten, bevor sie auf zwei Beinen stehen konnten.

Vielmehr liegt der Unterschied am Entwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler. Auf der Primarstufe zeigte sich bereits nach den ersten Tagen Fernunterricht, dass der direkte Kontakt unersetzlich ist. Viele Schüler vermissten ihre Klassenkameraden und Lehrerinnen bitterlich. Die digitale Kommunikation erfordert ein Abstraktionsvermögen, das gerade in der Unterstufe noch nicht vorausgesetzt werden kann.

In der Oberstufe sieht die Sache schon ganz anders aus. Viele Jugendliche schätzen es, dass ihnen nun – wenn auch gezwungenermassen – mehr Verantwortung übertragen wird. Besonders das projektbasierte Lernen fördert sowohl das selbständige Planen und Organisieren als auch die individuelle Zeiteinteilung – Fähigkeiten, die später im Berufsleben oder an den Hochschulen unerlässlich sind.

Noch eindeutiger ist die Lage an den Universitäten. Vielen Studenten war es schon vor Jahren schleierhaft, wieso sie zu einer bestimmten Zeit für eine neunzigminütige Vorlesung zur Uni fahren mussten. Es kommt deshalb nicht von ungefähr, dass in Zürich noch vor der Schliessung der Universität Hunderte Studenten in einer Online-Petition endlich die flächendeckende Einführung von Podcast-Vorlesungen forderten. Zahlreiche Professoren unterstützen ihr Anliegen.

Die Entwicklungen der letzten Wochen wecken trotz allen Turbulenzen Hoffnungen für die Zukunft. Innert kürzester Zeit entstanden Kommunikationswege zwischen Schülern, Lehrern und Eltern, die vorher nicht oder nur ansatzweise vorhanden waren. Einige Pädagogen erkannten, dass multimediale Unterrichtsformen nicht nur eine Spielerei sind, sondern die Motivation und den Lernerfolg ihrer Schülerinnen steigern können. Und fast alle Schulen setzen neuerdings Plattformen zum Austausch von Materialien ein, die auch nach der Corona-Krise nützlich sein werden.

Grenzen der Digitalisierung
Doch die Ausnahmesituation zeigt auch, wo die Grenzen der digitalen Technologien beim Unterrichten liegen. Der Klassenverbund ist für die Schülerinnen ein essenzielles soziales Gefüge – das gilt nicht nur für Erstklässler in der Primarschule, sondern auch für Maturanden am Gymnasium. Das Schulzimmer ist ein Auffangbecken für benachteiligte Schüler und kann für Kinder, die gerade nicht gerne zu Hause sind, ein willkommener Fluchtort sein. Schule ist viel mehr als Lehren und Lernen.

Die physische Anwesenheit der Schülerinnen und Studenten, Lehrer und Dozentinnen ist dabei nicht für alle, aber doch für viele Interaktionen sinnvoll. Wer einmal mit einem Dutzend Leute eine hitzige Diskussion im virtuellen Raum geführt hat, sehnt sich schnell in ein Zimmer mit vier Wänden zurück.

Die unaufhaltbare Digitalisierung der Welt erhöht den Stellenwert des direkten Austausches zusätzlich. In einer Zeit, in der immer mehr soziale Interaktionen über Bildschirme stattfinden, bekommt der persönliche Dialog einen neuen Wert. Deshalb müssen die Technologien auch in Zukunft gezielt dort eingesetzt werden, wo ein Mehrwert entsteht. Schulen und Universitäten müssen Orte der Debatte bleiben.

Einige Fragen warten zudem noch auf überzeugende Antworten. Die Chancengerechtigkeit kann noch weniger gewährleistet werden, wenn die Schüler nicht im Klassenzimmer anwesend sind. Prüfungen lassen sich kaum in der Ferne auf digitalem Wege durchführen, was die Notensetzung schwierig macht. Auch in Bezug auf den Datenschutz dürften in der überstürzten Phase nach den Schulschliessungen einige Lücken entstanden sein.
Viele Schulen hätten die Digitalisierung lange vor der Corona-Krise vorantreiben können und müssen. Zahlreiche Probleme, besonders in der Kommunikation und beim Austausch von Unterrichtsmaterialien, hätten ohne weiteres vermieden werden können. Was nun aber Lehrer, Schulleiterinnen, Eltern und ihre Kinder vielerorts leisten, ist beachtlich. Die Ausnahmesituation erfordert von allen Beteiligten eine grosse Portion Flexibilität und Spontaneität – eine Herausforderung, die viele auf beeindruckende Art und Weise meistern. In manch einem Haushalt dürfte die Achtung für die tagtägliche Arbeit der Lehrerinnen in den letzten Wochen gestiegen sein.

Es bleibt zu hoffen, dass wir dereinst auf die Schulzeit während der Corona-Krise zurückblicken und nicht nur Negatives, sondern auch einen längst fälligen Fortschritt erkennen. Wenn der Ausnahmezustand einmal vorbei ist und die Schülerinnen in die Klassenzimmer zurückkehren, wird trotzdem wieder vieles so sein wie vorher. Und das ist gut so. Die Vorstellung, dass Schule ausschliesslich am Computer stattfindet, war schon vor mehr als zwanzig Jahren nicht mehr als Science-Fiction. Das darf sie auch in Zukunft bleiben.

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