Über keinen Schulstoff debattiert die Schweiz so
heftig: Peter Gautschi, Professor für Geschichtsdidaktik, spricht über die
Kritik am Lehrplan 21, einseitige Schulbücher – und erklärt, weshalb Tell nicht
aus den Köpfen zu bekommen ist.
"Was heisst schon politisch neutral?" - Wie heute Geschichte unterrichtet wird, NZZ, 25.4. von Marc Tribelhorn und Erich Aschwanden
Anfang Mai jährt sich der Tag des Endes des Zweiten Weltkriegs zum
75. Mal. Was wissen die heutigen Schülerinnen und Schüler darüber?
Das hängt von der Schulstufe, von den Lehrpersonen und den Lehrmitteln
ab. Wenn man die Lehrpläne studiert, zeigt sich, dass den Schülern dazu ein
Grundwissen vermittelt wird. Was ihnen effektiv bleibt, ist aber sehr
unterschiedlich.
Wissen sie mehr als früher?
Bedeutend mehr! Der heutige Unterricht auf der Sekundarstufe I dringt
weit in die Zeitgeschichte vor, in der Sek II, also den Gymis, ist das noch
ausgeprägter. Das war früher nicht so. Damals wurde die zweite Hälfte des
20. Jahrhunderts oft nur in ein paar wenigen Lektionen abgehandelt.
Zeitgeschichte ist heute die Epoche, die Schülerinnen und Schüler am meisten
interessiert. Es gibt dazu gute Filme und Apps, der Stoff ist entsprechend
attraktiv vermittelbar.
Wir hören immer wieder Klagen von Eltern, dass ihre Kinder kaum noch
historisches Wissen hätten. Die Themenwahl in der Schule sei zudem willkürlich.
Diese Klagen kenne ich, und es gibt sie schon lange. Aber man kann nicht
aus dem, was einzelne Schüler von der Geschichte wissen, schliessen, was
gelehrt wurde. Anekdotisches Wissen ist zudem ein generelles Phänomen in der
Schule. Zum Glück haben wir in der Geschichte noch keine Pisa-Tests.
Wieso? Ein bisschen mehr Vergleichbarkeit schadete doch nicht!
Geschichte ist ein bildendes Fach, also stark kulturspezifisch.
Geschichtsunterricht unterscheidet sich von Land zu Land. Da ist eine sinnvolle
Vergleichbarkeit entsprechend schwierig herzustellen. Und zudem wollen
Bildungsadministration und Bildungspolitik heute eine permanente
Überprüfbarkeit von Leistungen. Was in der Schule nicht gemessen wird, scheint
nicht wertvoll zu sein. Das hat von einer Vertrauens- zu einer
Misstrauenskultur gegenüber Lehrpersonen geführt. Das ist keine positive
Entwicklung.
Was wird denn heute in dem Fach gelehrt?
Im Geschichtsunterricht geht es um menschliches Handeln in
gesellschaftlicher Praxis, um Handlungsspielräume, um Veränderungen in der
Zeit. Kinder und Jugendliche bekommen die Chance, sich aus dem «Gefängnis ihrer
Gegenwart» zu befreien und einen Blick ins Universum des Historischen zu
werfen.
Früher wurden Eckdaten auswendig gelernt, die eine zeitliche
Orientierung ermöglichten. Heute werden sogenannte Kompetenzen geschult.
Auch schon vor zwanzig Jahren musste kaum jemand nur Jahreszahlen in der
Schule büffeln. Aber es stimmt: Früher war vor allem Wissensvermittlung das
Ziel, dann verschob sich der Fokus auf das Können, also den Umgang mit
historischen Quellen, der bis zum Abwinken geschult wurde. Heute ist der
Unterricht ausbalanciert, eine gute Mischung aus Wissen und Anwendung. Das Wort
Kompetenz ist in den Debatten um den Lehrplan 21 zum reinen Schlagwort
verkommen. Da wurde ein Gegensatz konstruiert, den es gar nicht gibt: Kompetenz
ist nicht auszubilden ohne Wissen, ich kann ja auch nicht stricken ohne Wolle.
Viele wissen doch am Ende der Volksschule nicht, ob die Reformation vor
oder nach der Französischen Revolution war.
Das ist mir zu polemisch. Richtig ist, dass die grosse Meistererzählung
der Schweizer Geschichte – von Tell bis zur «Bewährung» im Zweiten Weltkrieg – keine
Rolle mehr spielt. Dieses alte Narrativ, das bis in die 1980er Jahre vermittelt
wurde, war eindeutig und einprägsam. Doch heute geht es im Geschichtsunterricht
nicht mehr in erster Linie um die Vermittlung von nationaler Identität, sondern
um historische Bildung, um das Verstehen komplexer historischer Zusammenhänge.
Das hat zu einer thematischen Fragmentierung geführt; der berühmte deutsche
Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen spricht gar von der «zerkrümelten
Geschichte».
Dass der Geschichtsunterricht nicht mehr «nationale Aufgabe» und
«Erziehung zum guten Eidgenossen» sein soll, wie es früher im Lehrplan hiess,
ist klar. Aber ging die Abkehr davon zu weit?
Partiell schon. Guter Unterricht verfolgt drei Ziele: Geschichte
ermöglicht Bildung, damit wir uns in der Welt besser orientieren können. Es
wird das kritische Denken geschult. Und selbstverständlich soll mit dem
Geschichtsunterricht auch der individuelle und gesellschaftliche
Identitätsaufbau gefördert werden, was in den letzten Jahrzehnten leider zu
stark in Abrede gestellt wurde.
Wird in der Volksschule zu wenig Schweizer Geschichte vermittelt?
Ja. Geschichtsunterricht braucht den Lebensweltbezug. Die lange Zeit
dominante Meistererzählung bot das nicht. Und auch danach, als mit viel Aufwand
unsere Geschichtsmythen dekonstruiert wurden, blieb eine Leere: Schweizer
Geschichte kam in den Lehrmitteln nur noch episodisch vor. Das hat sich in den
letzten Jahren aber geändert: In neuen Lehrmitteln gibt es Weltgeschichte,
Schweizer Geschichte, Geschichtskultur und Politische Bildung.
Im Ausland wird die Nationalgeschichte weniger verkrampft gelehrt als
hierzulande. Täuscht der Eindruck?
Diese Frage lässt sich nicht generell beantworten. Es gibt Länder, da
wird heute mit Nationalgeschichte Indoktrination betrieben, und es werden
Feindbilder aufgebaut. Andernorts wird die Geschichte des eigenen Landes kaum
vermittelt. Und wieder für andere ist Nationalgeschichte auch gleich
Weltgeschichte. Die Mythen der Alten Eidgenossen sind übrigens nicht
verschwunden: Sie werden nun einfach als Teil der Geschichtskultur des 19. und
20. Jahrhunderts behandelt.
Im öffentlichen Geschichtsbewusstsein sind sie noch immer präsent.
1291 bleibt bei vielen als historische Tatsache in den Köpfen, auch wenn
es in den Schulen als Mythos vermittelt wird. Das zeigen Befragungen von
Jugendlichen. In der populären Geschichtskultur in Filmen, Kinderbüchern, im
Tourismus, in der Politik spielt das alte Narrativ immer noch eine prominente
Rolle.
Je packender die Erzählung, desto mehr bleibt in den Köpfen hängen.
Der Historiker Yehuda Bauer sagte einmal: Unterrichte Geschichte nie,
ohne eine Geschichte zu erzählen. Gutes Storytelling und Personifizierung sind
für jede Form der Geschichtsvermittlung entscheidend. Für heutige Lehrpersonen
ist die Aufgabe schwieriger geworden, denn sie müssen auch ohne
Meistererzählung versuchen, interessante Geschichten zu erzählen. Und die
Balance muss stimmen: Eine Erzählung darf nicht ins Ideologische kippen.
Apropos Ideologie: Das Schullehrmittel «Gesellschaften im Wandel» löste
in mehreren Kantonen politische Vorstösse aus. Es werde darin für linke politische
Akteure und Anliegen geworben, so die Kritik. Wie beurteilen Sie das?
Wenn man in die Geschichte zurückblickt, ist das ein klassischer
Vorwurf: Je nach Zeitgeist und politischer Warte waren die Schulbücher entweder
zu katholisch, zu reformiert, zu Zürich-orientiert, zu ländlich, zu liberal, zu
konservativ, zu modern, zu Bergier-lastig, zu rechts oder eben zu links. Sicher
ist: Wenn Sie ein Geschichtslehrmittel entwickeln, werden Sie dafür kritisiert.
Die Ausarbeitung ist heute ein breit abgestützter Prozess. Politische,
pädagogische und fachwissenschaftliche Gremien balancieren die Schulbücher inhaltlich
aus.
Dann sind also die heutigen Schulgeschichtsbücher schon «politisch
neutral», wie das zurzeit mehrerer Parlamentarier in verschiedenen Kantonen
fordern?
Was heisst schon politisch neutral? Das ist eine wenig hilfreiche
Chiffre im Umgang mit Schule im Allgemeinen und Lehrmitteln im Besonderen.
Lehrmittel müssen den Stand der Wissenschaft spiegeln, die vom Lehrplan
vorgegebenen Ziele umsetzen, natürlich der Verfassung entsprechen und viele
weitere Qualitätskriterien erfüllen. Dazu gehört auch «Ausgewogenheit», was
bedeutet, dass Sach- und Werturteile hergeleitet und begründet werden sowie
Multiperspektivität umgesetzt wird. Die in der Schweiz anerkannten
Lehrmittelverlage haben alle eine elaborierte Qualitätsprüfung, die auch
politische Einseitigkeiten in aller Regel verhindert. Aber natürlich kann es
einmal vorkommen, dass nachgebessert werden muss.
Wieso gibt es eigentlich kein verbindliches Geschichtsbuch für die
kleine Schweiz?
Konkurrenz belebt auch diesen Bereich. Zudem spielen bei der Wahl eines
Schulbuchs drei Instanzen eine Rolle: die Wissenschaft, die Praxis, also die
Lehrpersonen, und die Politik. Wenn ein obligatorisches Schulbuch bestimmt
würde, bekäme die Politik eine dominante Stellung. Die Gefahr der politischen
Instrumentalisierung zuungunsten der Wissenschaftlichkeit wäre gross, wie
Beispiele aus dem Ausland zeigen. Und zudem unterscheidet sich die
Geschichtsvermittlung zwischen den Sprachregionen erheblich.
Neben den Lehrmitteln sind auch die Lehrpersonen entscheidend für die
Lernkurve der Schülerinnen und Schüler. Wie steht es um deren Qualität?
Gut. Unsere Studien zeigen, dass im Schulalltag sehr viele Lehrpersonen
unterrichten, die äusserst interessiert und motiviert sind. Aber leider bilden
wir meiner Ansicht nach in der Deutschschweiz auf der Sekundarstufe I zu breit
und deshalb zu wenig fachspezifisch aus. In der Romandie oder in Deutschland
absolvieren angehende Geschichtslehrpersonen ein Fachstudium und erwerben
deutlich mehr Kreditpunkte in Geschichte als bei uns. Hier haben wir einen
grossen Optimierungsbedarf.
Im Lehrplan 21 ist Geschichte kein eigenständiges Fach mehr. Sie übten
damals harsche Kritik. Haben Sie sich mit dem neuen Sammelfach «Räume, Zeiten,
Gesellschaften» inzwischen angefreundet?
Nein. An internationalen Tagungen lachen die Kollegen, wenn ich erzähle,
wir würden in der Schweiz «Räume, Zeiten, Gesellschaften» unterrichten. Diese
Bezeichnung ist weder anschlussfähig an die Wissenschaft noch an die Erfahrung
der Kinder, die ja wissen, was Geschichte ist. Aber der Verteilungskampf in der
Schule um Zeit und Lektionen ist eine Tatsache. Lange wurden die Sprachen gestärkt,
dann die Naturwissenschaften. Und wenn Gelder und Stunden knapp werden,
bedeutet das die Zusammenlegung von Fächern. Ich hoffe, dass mit der
anstehenden Weiterentwicklung der gymnasialen Maturität nicht auch noch die gut
ausgestattete Geschichtsbildung in der Sek II zusammengestrichen, sondern
im Gegenteil mit der Integration von Politischer Bildung gestärkt wird.
Fehlt der Geschichte die Lobby?
Das Bewusstsein für die gesellschaftliche Bedeutung von Geschichte ist
in Behörden und Verwaltungen leider vielerorts nicht mehr so stark, wie ich mir
das wünsche. Zudem beteiligten sich viele universitäre Historikerinnen und
Historiker in den letzten Jahren zu wenig an aktuellen Debatten zu den
Lehrplänen. Das war dem Ansehen des Fachs natürlich nicht dienlich. Bei der
Entwicklung des Lehrplans 21 hatten wir als Geschichtsdidaktiker wenig
Unterstützung, auch von den politischen Parteien nicht. Jetzt wird es aber
wieder besser.
Woher der Optimismus?
Nach dem Ende des Kalten Kriegs etablierte sich in unserer Gesellschaft
ein Sicherheitsgefühl, das auch dazu geführt hat, dass Geschichte ihre
orientierende Funktion verlor. Das war trügerisch. In Zeiten von grossen
gesellschaftlichen Herausforderungen wie Klimawandel, Migration, Pandemien
bekommt Geschichte wieder eine wichtigere Funktion. Wir können aus der
Vergangenheit lernen und tun es ja auch. Und: Die grossen Probleme lösen wir
nicht einfach mit mehr Technik, sondern mit besseren Problemanalysen und
gemeinsam getragenen Lösungsideen. Der Blick in die Geschichte kann dabei
helfen.
An unserer Schule unterrichtet nun ein Mathelehrer das Kombifach Geschichte-Geographie. Er hatte in seiner Ausbildung keine Minute Geschichtsunterricht oder -didaktik. So wird es wohl an vielen Orten sein. Ich kann deshalb den Optimismus von Gautschi nicht nachvollziehen.
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