28. März 2020

Urs Moser warnt vor zu hohen Erwartungen


Herr Moser, im Interview mit der NZZ hat die oberste Zürcher Schulleiterin, Sarah Knüsel, in Aussicht gestellt, dass alle Schüler wegen der Corona-Krise das Jahr wiederholen müssen. Was halten Sie von dieser Einschätzung?

Ich sehe das nicht so pessimistisch. Auch wenn die Schulschliessung bis zu den Sommerferien andauern würde, wäre das nicht die absolute Katastrophe. Die Schule findet ja trotzdem statt – einfach mit neuen Unterrichtsformen. Es ist nicht so, dass die Kinder nichts lernen. Finanziell und organisatorisch wäre es zudem unmöglich, einen ganzen Jahrgang nochmals zu unterrichten. Das ist keine praktikable Lösung.

«Eltern sollen nicht die Lehrperson spielen», NZZ, 28.3. von Linda Kaponen

Die Schüler werden den verpassten Schulstoff also nachholen?
Das ist schwierig zu beantworten, weil wir nicht wissen, wie wirksam der Fernunterricht in dieser Situation ist. Meist werden Befürchtungen aufgrund der Sommerlochstudien geäussert. Diese zeigen, dass die Kinder während der Sommerferien eher Inhalte vergessen, als etwas dazu zu lernen. Die jetzige Situation ist jedoch anders – wir haben keine Ferien. Klar ist dennoch, dass wir die Ansprüche revidieren müssen. Wir können nicht mehr überall das Maximum fordern, wenn während eines Viertels des Schuljahres der Unterricht unter erschwerten Bedingungen stattfindet. Da braucht es Flexibilität. Ich bin jedoch überzeugt, dass der Grossteil der Schülerinnen und Schüler auch von dieser Situation profitieren kann.

Einige Schulgemeinden, darunter auch die Stadt Zürich, haben die Devise herausgegeben, dass nur Zusatzstoff vermittelt und Vertiefung betrieben werden soll. Je länger die Schulschliessung andauert, desto grösser wird die Lücke.
Repetition ist – vor allem kurzfristig gesehen – auf jeder Stufe sinnvoll, weil weniger Input notwendig ist. Was möglich ist, hängt vor allem auch von den Kommunikationsmöglichkeiten der Schulen ab. Ich habe vor wenigen Tagen ein Beispiel von einem virtuellen Klassenzimmer gesehen und war beeindruckt. Alle Schüler waren auf dem Bildschirm angeordnet, und die Lehrerin sprach mit ihnen wie im Präsenzunterricht. Ob man neuen Stoff vermitteln kann, hängt auch stark vom Alter der Kinder ab. Ältere Schüler können generell besser selbständig lernen und über den Bildschirm kommunizieren. Am Gymnasium ist Fernunterricht weniger ein Problem, und dort würde ich nicht ausschliessen, dass man auch neue Themen behandeln kann. Bei den Jüngeren ist es deutlich schwieriger.

Sie sagen also, dass man sich vom Lehrplan lösen sollte.
Es gilt Druck und Stress zu vermeiden. Viele Eltern sind durch die neue Situation genug gefordert. Wenn sie das Gefühl erhalten, sie müssten zu Hause auch noch die Rolle der Lehrperson übernehmen, weil der Lehrplan strikt eingehalten werden soll, kann das kontraproduktiv wirken und zu unnötigen Spannungen in den Familien führen. Das zeigt auch die Forschung zu Hausaufgaben. Die Eltern sollen emotionale Unterstützung bieten, das Gespräch suchen, aber nicht die Lehrperson spielen – auch weil sie fachlich und didaktisch überfordert sind. Unterstützen heisst, sich nicht in den selbständigen Lernprozess einzumischen. Wenn der Druck zu gross wird, können Mütter und Väter ihre Funktion falsch interpretieren.

Wie soll der Unterricht stattdessen aussehen?
Die Krise ist auch eine Chance – nicht nur für die Digitalisierung an den Schulen. Jetzt ist eine gute Gelegenheit, fächerübergreifende Kompetenzen wie Selbständigkeit zu fördern. Die Kinder müssen zu Hause das Lernen planen, organisieren und auch das Lernergebnis überprüfen. Diese Zeit könnte vielleicht auch dazu genutzt werden, Kinder zum Lesen zu bringen. Hier haben wir bekanntlich grosse Defizite. Keinesfalls sollte man nur die fachlichen Ziele im Auge haben. Man muss hier alternativ denken. Statt nach Plan im Mathematikbuch fortzufahren, können die Schüler zu Hause auch Experimente machen, Recherchen durchführen oder kleinere Projekte starten.

Muss man letztlich gewisse Inhalte vom Lehrplan streichen?
Das ist eine bildungspolitische Frage, die man aushandeln muss. Klar ist, dass auch hier Flexibilität gefragt ist.

Es gibt Stimmen, die nach «zeugnisfesten» Lernkontrollen verlangen. Das Volksschulamt hingegen weist die Schulen an, zumindest vorerst auf Noten zu verzichten. Was halten Sie für sinnvoll?
Lernen ohne qualitativ differenziertes Feedback funktioniert nicht. Es reicht nicht, zu prüfen, ob das Kind seine Aufträge erfüllt hat. Auch in dieser Phase ist die Überprüfung des Lernerfolgs wichtig. Schüler, die ihre Fähigkeiten einschätzen können, sind besonders erfolgreich. Lernkontrollen und die Beurteilung des Lernerfolgs in einem Zeugnis sind jedoch zwei unterschiedliche Dinge. Das Problem an der jetzigen Situation ist, dass man die Lehr- und Lernbedingungen nicht vergleichen kann. Sie unterscheiden sich zwischen den einzelnen Schulen, Klassen und Familien. Es ist auch noch nicht klar, was von den Schülern verlangt wird. In dieser Zeit Noten zu verteilen, wäre daher problematisch.

Wie kann man ohne Noten entscheiden, welche Schüler in die nächste Klasse versetzt werden und welche nicht?
Entscheidend ist der Lernfortschritt im ganzen Jahr. Eine Beurteilung ist auch möglich, ohne das letzte Quartal zu berücksichtigen.

Die Bildungsdirektion hat sich bereits dafür entschieden, dass alle Mittelschüler mit dem Promotionsstand vom Herbstsemester in die nächste Klasse übertreten dürfen. Wenn es ohnehin nicht zählt, sinkt dann nicht die Motivation der Schüler und Eltern?
Zum einen lernen die Schüler nicht nur für die Promotion, und zum andern kann die jetzige Form des Unterrichts auch motivierend sein.

Trotzdem wird der Graben zwischen den guten Schülern aus bildungsnahen Haushalten und jenen aus weniger privilegierten Verhältnissen anwachsen. Müssen wir uns vom Prinzip der Chancengleichheit verabschieden?
Die Frage, was wir mit den Kindern aus sozial benachteiligten Familien machen, die jetzt unter noch ungünstigeren Bedingungen sehr viel leisten müssen, ist die grösste Herausforderung. Sommerlochstudien zeigen, dass die Schere zwischen den Kindern unterschiedlicher Herkunft grösser wird, je länger die Ferien andauern. Die Schule ist eine Institution, die trotz aller Kritik auch im Kanton Zürich ausgleichend wirkt. Ich würde deshalb nicht so weit gehen zu sagen, dass der Fernunterricht ein Übel für die Chancengleichheit ist. Vergessen wir nicht, dass Unterricht immer noch stattfindet. Förderlehrer und Heilpädagogen, die sich gerade den schwächeren Schülern annehmen, können hier Gegensteuer geben. Ich nehme hier ein grosses Engagement wahr.

Eine Idee, die im Raum steht, sind digitale Kleinklassen für Schülerinnen und Schüler mit besonderem Förderbedarf. Kann das funktionieren?
Wenn dadurch die Kommunikation und die Beziehung zu den Schülern gestärkt werden kann, ist das eine gute Sache. Vor allem für Kinder, die von zu Hause nur wenig Unterstützung erhalten. Damit alle Schüler profitieren, muss auch beim Fernunterricht eine Differenzierung stattfinden. Die Lehrer sind darauf vorbereitet, denn die Bedürfnisse der Familien für Unterstützung sind schon im regulären Schulalltag unterschiedlich. Die Schule muss sich auch in der Krise nach allen Kindern ausrichten. Für alle ist es zentral, dass die Beziehung zum Lehrer aufrechterhalten bleibt.

Die Primarschule in Zumikon hat Kontakttage eingeführt, an denen die Schüler gestaffelt zur Schule kommen und die Lehrperson treffen. Was halten Sie von diesem Ansatz?
Das ist ein sehr gutes Modell, wenn man die nötige Distanz wahren kann und die vorgeschriebene Gruppengrösse einhält. Der Kontakt ist enorm wichtig, auch zwischen den Schülerinnen und Schülern. Digitaler Unterricht kann den direkten Kontakt nicht ersetzen. Wenn die Schüler diesen verlieren, droht ihre Motivation und Leistungsbereitschaft abzunehmen. Sie müssen wissen, dass sich jemand um sie kümmert.

Welche Faktoren sind aus Ihrer Sicht neben dem Kontakt entscheidend dafür, dass der Fernunterricht funktioniert?
Man kann auf unterschiedliche Arten erfolgreich sein. Eines der grössten Probleme ist sicherlich der Arbeitsplatz. Nicht alle Familien können sich diesen gleich einfach einrichten. Die Gefahr der Ablenkung ist grösser, wenn auf kleinem Raum mehrere Kinder sind. Man kann aber auch an einem Küchentisch erfolgreich sein, wenn alle wissen, was sie zu tun haben. Am wichtigsten ist, dass das Lernen zielorientiert und strukturiert ist. Ohne Ziele und Tagesplan kann man in dieser Situation kaum lernen. Die Klarheit der Aufträge ist gefragt, genau wie im Unterricht. Die Kinder müssen wissen, wo sie hin wollen, wie sie dorthin kommen und ob sie das Ziel erreicht haben. Es muss allen bewusst sein: Schule findet statt.

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