29. März 2020

Schule halten, damit es einen anscheisst


Am Dienstag wird Peter Bichsel 85 – ohne öffentliche Feier. Auf das Corona-Virus schaut er mit Fatalismus. Vor seinem Geburtstag erinnert sich der vielleicht beliebteste Schriftsteller der Schweiz an seine Anfänge, blickt als Alt-68er mit gemischten Gefühlen auf die Klimajugend und lobt Mike Müller für dessen Bichsel-Parodie.
Peter Bichsel, Bild: SRF

Peter Bichsel wird 85: «Über die Nützlichkeit dieser Epidemie möchte ich jetzt nicht nachdenken», St. Galler Tagblatt, 21.3. von Hansruedi Kugler

Ein literarisches Idol zu interviewen, kann einen nervös machen. «Es isch halt immer s gliich», sagt Peter Bichsel, als ich ihn Anfang März am Telefon um ein Treffen im Hinblick auf seinen runden Geburtstag am 24. März bitte. Über Politik und Literatur habe er eigentlich alles schon gesagt, und man meint, sein Achselzucken zu sehen. «Aber Nein sagen kann ich ja schlecht», sagt der Schriftsteller. Ein höflicher Mann, dem man zum Glück ohne Ehrfurcht begegnen kann. Den Besuch bei ihm in Bellach sage ich in Zeiten der Corona-Krise aber aus Rücksicht vor möglichen Ansteckungen ab. Das Interview findet ein paar Tage später am Telefon statt.

Herr Bichsel, in wenigen Tagen werden Sie 85 Jahre alt. Wie geht es Ihnen?
Peter Bichsel: Ach ja, ich glaube etwas besser, als man vom Alter her befürchten könnte. Es geht mir eigentlich gut.

Eine öffentliche Feier wird es wohl wegen des Corona-Virus nicht geben.
Es hätte auch sonst keine Feier gegeben.

Sie haben keine gewünscht?
Genau so.

Aber an den kommenden Solothurner Literaturtagen Ende Mai, sofern diese denn stattfinden, sind Sie Gast. Was darf man da von Ihnen erwarten?
Eine Lesung und ein Gespräch mit Beat Mazenauer, der das neue Buch «Auch der Esel hat eine Seele» mit alten Kolumnen von mir herausgegeben hat.

Sie leben alleine in ihrem Haus in Bellach bei Solothurn. Ihre Frau ist 2005 gestorben. Kommen Sie gut alleine zurecht?
Ja, mit Haushalt und Kochen komme ich noch gut zurecht.

Wegen des Corona-Virus führen wir unser Gespräch nun am Telefon. Wie empfinden Sie die jetzige Situation?
Es beschäftigt mich schon. Ich gehöre eindeutig zu dieser Risikogruppe.

Reagieren Sie eher mit Bedenken, Ängstlichkeit oder Fatalismus?
Eher fatalistisch, einigermassen gelassen. Es ist eine Art Warten. Und ich warte gern. Warten macht die Zeit lang und wenn die Zeit lang wird, lebt man länger.

Sie haben mal geschrieben: «Die Schweiz glaubt, es kann ihr nichts passieren. Das ist gefährlich.» Geraten wir gerade in gefährliche Zeiten?
Mit diesem Satz meinte ich natürlich nicht Naturereignisse wie dieses Virus, eher die Politik. Aber auch in den ersten Tagen und Wochen hatte ich bei den Leuten das Gefühl, sie denken, uns Schweizern könne nichts passieren. Die Meinung ist immer noch spürbar, dass die Schweiz eben nicht dasselbe ist wie das Ausland.

1969 schrieben Sie den Satz: «Für uns Schweizer hat das Wort Ausland immer noch den Klang von Elend.» Hat sich da nichts verändert?
Wohl nicht viel. Der Durchschnittsschweizer hat immer noch das Gefühl, es gäbe zwei Welten. Die eine Welt heisst Inland, die andere Welt heisst Ausland, wie das in unseren Zeitungen immer noch aufgeteilt wird. Wie wenn wir Schweizer die eine Hälfte der Welt wären. Alle wissen, dass es nicht so ist. Aber das Gefühl bleibt.

Zwei politische Schweizer Schriftsteller, Lukas Bärfuss und Jonas Lüscher, fordern den Beitritt der Schweiz zur EU. Wie stehen Sie dazu?
Da bin ich mit den beiden absolut einverstanden. Erstens wegen der Solidarität, wenigstens eine kleine internationale Solidarität. Und zweitens, um mitbestimmen zu können.

Das wäre ja eine urschweizerische Haltung. Mitbestimmen und sich nicht regieren lassen.
Von der Institution Schweiz her und von der Verfassung her schon. Aber ich weiss nicht, ob das mit der Demokratie noch in unseren Köpfen ist. Und Solidarität schon gar nicht.

Dieses Wort Solidarität wird in den letzten Tagen häufig benutzt. Ist das nicht auch eine Chance, sich an die Solidarität zu erinnern?
Es gibt viele gute Menschen. Ich zweifle nicht daran. Aber über die Nützlichkeit dieser Epidemie möchte ich jetzt nicht nachdenken. Wir haben dieses fatale Verhältnis zur Natur, wie wenn alles in dieser Natur irgendwie nützlich sein soll für uns Menschen. Diese Natur, die wir ja nun über Jahrhunderte schlecht behandelt haben und in den letzten Jahrzehnten am schlechtesten, die kann sich ja auch mal rächen. Und sie muss nicht immer nützlich sein. Ich glaube nicht, dass wir dann solidarischer sind, wenn wir dieses Virus hinter uns haben.

Sie sind ein Leben lang der Sozialdemokratie verbunden. Wen sähen Sie gerne als Nachfolgerin oder Nachfolger von Christian Levrat?
Alle vier Kandidaten, die Männer und die Frauen, scheinen mir geeignet zu sein. Und ich hoffe schon, dass sich damit etwas ändert. Vor allem, dass die Partei nicht einfach nur eine Angelegenheit der Bundeshausfraktion ist, sondern wieder eine Partei wird.

Gehen Sie selbst an Parteiversammlungen?
Ja, ja. Hier in Bellach. Ich gehe da gerne hin. Aber das ist nichts Grossartiges und Umwerfendes.

Sie haben für Bundesrat Willi Ritschard viele Reden geschrieben. Angenommen, Alain Berset würde von Ihnen eine Rede wünschen, was wäre deren Kernaussage?
Dann würde ich ihm sagen, Du kannst das besser, ich möchte lieber eine Rede von Dir hören, als selbst eine zu schreiben. Ich finde Alain Berset einen hervorragenden Bundesrat und einen hervorragenden Sozialisten.

Sie haben sich immer als Sympathisant der 68er bezeichnet. Wie hat Sie dieses Jahr 68 verändert?
Kein Ereignis hat mich so geprägt wie 68. Ich war 33 Jahre alt, gehörte also nicht dazu. Der Satz der 68er hiess, trau keinem über dreissig. Und ich musste lernen. Wenn ich hier sitze und mir vorstelle, dass vielleicht doch wieder einmal etwas Politisches von der Jugend ausgehen könnte, dann weiss ich etwas im Voraus. Wenn mir diese Bewegung gefallen würde, dann wäre sie zu nichts gut. Ich bin anfänglich erschrocken über die 68er und das Erschrecken hat mir gutgetan. Eine solche Bewegung muss uns aufrütteln. Es wäre schön, wenn aus der Klimabewegung etwas Politisches entstehen könnte. Vorläufig ist es das nicht. Wenn ich mich auch sehr freue über ihre Erfolge und staune, wie erfolgreich sie schon waren. Aber wenn es eine Partei wäre, dann wäre es eine Ein-Thema-Partei. Und Ein-Thema-Parteien sind nicht politisch, sondern im Gegenteil apolitisch. Ihr Blick auf die Gesellschaft ist viel zu eng. Aber man kann ihnen auch Zeit lassen.

Hat 68 Ihre eigene Literatur verändert?
Für mich hat sie sich verändert. Es hat nicht nur mit Inhalt, sondern mit einer bestimmten Sicht auf die Dinge zu tun. Ob das die Leser merken, weiss ich nicht. Es würde mich freuen, verlange es aber von ihnen nicht.

In welchem Buch kommt das am ehesten zum Ausdruck?
Das möchte ich nicht so definieren.

Ich würde Ihre Veränderung am liebsten am Cherubin Hammer festmachen. Es ist mein Lieblings-Bichsel, einerseits mit der verdoppelten Identität der Hauptfigur so vertrackt und formal experimentell gearbeitet, anderseits so typisch Bichsel, also liebevoll-­schräg, und gleichzeitig voller Anspielungen und untergründig politisch.
Ja, das freut mich wirklich.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, den einen Hammer ausschliesslich in diesen langen Fussnoten zu beschreiben?
Die literarische Fussnote gibt es schon lange. Zum Beispiel bei Jean Paul. Das ist das eine. Mit einem Mann namens Cherubin Hammer war ich übrigens in jüngeren Jahren in Solothurn befreundet. Später habe ich herausgefunden, dass Hammer im Althochdeutschen Stein heisst. Das ist ganz eigenartig. Ich habe auch erst später realisiert, dass es im Grunde so etwas ist wie meine eigene Autobiografie. Was wäre gewesen, wenn ich ein erfolgloser Schriftsteller gewesen wäre? Hätte ich weiter geschrieben oder hätte ich es gelassen? Hätte ich in Verbitterung weiter geschrieben oder fröhlich zu meinem eigenen Vergnügen? Ich weiss es nicht.

Der äussere Erfolg und das Wertvolle, das bleiben kann, sind doch zwei verschiedene Dinge. Der Möchtegernschriftsteller Hammer trägt Tag für Tag einen Stein auf einen Berg. Aber am Ende liegt da nur ein grosser, nichtssagender Steinhaufen. Anders als der legendäre Briefträger Ferdinand Cheval, der in Südfrankreich Ende des 19.Jahrhunderts während 33 Jahren aus zusammengetragenen Steinen einen Fantasiepalast gebaut hat, den heute sehr viele Menschen bewundern. Für uns Schweizer ist Peter Bichsel eindeutig eher Cheval als Hammer. Weil die Fantasie als Inspiration überlebt.
Ich bin mir nicht sicher. Ich bewundere Leute wie den Briefträger Cheval. Ich bewundere leidenschaftliche Menschen. Ich selbst bin es nicht. Ich bin kein leidenschaftlicher Mensch und auch kein leidenschaftlicher Schriftsteller. Das war ich nie. Ich freue mich aber, dass ich Leser und vor allem Leserinnen gefunden habe.

Ich hörte Sie mal auf einem Podium sagen, wenn Sie heute als Schriftsteller beginnen würden, hätten Sie kaum Erfolg, weil sich die Literaturszene sehr verändert habe.
Ja, davon bin ich überzeugt. Ein Buch wie der Milchmann würde heute niemandem auffallen. Literatur war wirklich in den 1960er-Jahren noch etwas anderes. Es war Suche, Experimente, Mutmassungen und nicht Tiere, Menschen und Sensationen.

Ich habe gelesen, Sie würden nun vor allem Klassiker, aber kaum mehr Neuerscheinungen lesen.
Ich lese fast nur noch Bücher, die ich schon mal gelesen habe. Die Wanderjahre von Goethe oder meinen Jean Paul. Was ich an zeitgenössischer Literatur noch lese, das sind Bücher von schreibenden Freundinnen und Freunden. Ich möchte ihnen nicht begegnen, ohne ihr Buch gelesen zu haben. Die Bücher, die ich in meiner Jugend gelesen habe und jetzt wieder lese, haben für mich fast die Qualität von Tagebüchern. Ich erinnere mich oft Satz für Satz, in welcher Situation ich war, als ich diese Sätze zum ersten Mal gelesen habe, und wie es mir ging. Meine frühe Lektüre wieder zu lesen, ist eine Erinnerung an mich selbst.

Wie erleben Sie den jungen Peter Bichsel bei dieser Erinnerung?
Wenn ich Texte von diesem jungen ­Peter Bichsel lese, dann sind sie oft so etwas wie Texte von einem anderen. Und wenn ich versuche, sie laut zu lesen, dann sind sie rhythmisch wieder Texte von mir. Das ist ein Hin und Her, sehr eigenartig. Der Andere, der einmal ich war und das Ich, das einmal ein Anderer war. Eine eigenartige, wundersame Begegnung.

Das tönt wie ein nächstes Buch von Peter Bichsel. Aber Sie haben vor ein paar Jahren verkündet, nichts mehr zu schreiben. Juckt es Sie manchmal noch in den Fingern, für eine Kolumne oder für ein solches Buch über das Fremde im Eigenen? Das wäre ein super Thema.
Man muss nicht alles aufschreiben, was einem so einfällt. Man kann auch mal schweigen und nicht schreiben. Wie gesagt, ein leidenschaftlicher Autor war ich nie. Aber wenn mir eine Geschichte vom Himmel fällt, dann würde ich mich nicht wehren, sie aufzuschreiben.

Haben Sie mal mit Mike Müller über dessen Peter-Bichsel-Parodie gestritten?
Nein, überhaupt nicht. Ich habe mich immer darüber gefreut, auch wenn es unter die Haut ging. Das tat schon ein bisschen weh, weil es mich an eine Zeit als Kind erinnert, als ich immer ausgelacht wurde für mein näselndes Reden. Aber Mike Müller, ein gescheiter Mann, hat das richtig grossartig gemacht. So grossartig, dass ich immer wieder mit ihm verwechselt worden bin. Das erste Mal im Spital, ich stand auf einer Treppe, um zu rauchen. Da kam eine Frau im Morgenrock, auch um zu rauchen, und sagte, sie kenne mich vom Fernsehen. Ich habe mich gefreut. Aber sie hat nicht mich gemeint, sondern Mike Müller als Peter Bichsel. Das ist doch ein Riesenkompliment für ihn, wenn man mich selbst mit meiner ­Parodie verwechselt. Ich kenne ihn gut und mag ihn sehr. Übrigens habe ich ihn gekannt, als er sich selbst noch nicht kannte. Ich habe ihn schon als kleines Baby gesehen, mit seinem Vater zusammen habe ich in Zuchwil Schule gehalten. Er war auch Lehrer dort.

Den Lehrerberuf haben Sie selbst aber relativ früh an den Nagel gehängt. Da waren Sie knapp vierzig Jahre alt. In verschiedenen Interviews von ihnen habe ich einen Unmut von Ihnen gespürt. Schule sei nicht für die Bildung da, sondern für die Selektion. Heisst das, Peter Bichsel würde heute den Lehrerberuf nicht mehr ergreifen.
Ich war sehr gerne Lehrer und ich freue mich sehr, ehemalige Schüler auf der Strasse zu treffen. Solange ich Schule gehalten habe, habe ich im Jahr zwei Formulare ausgefüllt, einen Bericht im Umfang von eineinhalb Schreibmaschinenseiten über das, was ich gemacht habe, und eine Liste aller Schüler. Das war alles. Heute haben Lehrer oft täglich eine Stunde Büroarbeit, weil sie Material liefern müssen, damit an den Pädagogischen Hochschulen Forschung betrieben werden kann. Pädagogik hat man auch damals studieren können, nur hat man Pädagogen für nichts gebrauchen können. Trotzdem gab es Berufskollegen, die an die Uni gegangen sind. Es waren jene, die es angeschissen hat, Schule zu halten. Ich habe hie und da das Gefühl, sie kommen zurück und bringen ihren Kollegen bei, wie man Schule halten muss, damit es einen anscheisst. Bildungswahnsinn. Forschung, Forschung, Forschung.


Zur Person
Der 1935 in Luzern geborene Peter Bichsel war zunächst Lehrer. Mit seinem Erzählband «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen» gelang ihm 1964 spektakulär der literarische Durchbruch als origineller Vertreter der Moderne.
Der Mitbegründer der Solothurner Literaturtage, persönliche Berater von SP-Bundesrat Willi Ritschard, seit 1957 Mitglied der SP und Kolumnist hat zudem das Nachdenken über die Schweiz mitgeprägt. Unter dem Titel «Auch der Esel hat eine Seele» ist gerade ein von Beat Mazenauer herausgegebener Band mit Bichsels frühen Kolumnen erschienen.

1 Kommentar:

  1. "Aber ich war vielleicht kein typischer Lehrer. Ich habe versucht, die Schüler ernst zu nehmen, nicht auf sie herabzusehen. Stolz war ich, wenn es mir gelang, sie für Grammatik und Rechnen zu begeistern, indem ich nicht dozierte, sondern erzählte."
    Ausschnitt aus einem Interview mit Manfred Papst, NZZaS, 29.3.
    https://nzzas.nzz.ch/kultur/was-der-dichter-peter-bichsel-waehrend-der-corona-krise-tut-ld.1548826

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