Am Dienstag wird Peter Bichsel 85 – ohne
öffentliche Feier. Auf das Corona-Virus schaut er mit Fatalismus. Vor seinem Geburtstag
erinnert sich der vielleicht beliebteste Schriftsteller der Schweiz an seine
Anfänge, blickt als Alt-68er mit gemischten Gefühlen auf die Klimajugend und
lobt Mike Müller für dessen Bichsel-Parodie.
Peter Bichsel, Bild: SRF
Peter Bichsel wird 85: «Über die Nützlichkeit dieser Epidemie möchte ich jetzt nicht nachdenken», St. Galler Tagblatt, 21.3. von Hansruedi Kugler
Ein
literarisches Idol zu interviewen, kann einen nervös machen. «Es isch halt
immer s gliich», sagt Peter Bichsel, als ich ihn Anfang März am Telefon um ein
Treffen im Hinblick auf seinen runden Geburtstag am 24. März bitte. Über
Politik und Literatur habe er eigentlich alles schon gesagt, und man meint,
sein Achselzucken zu sehen. «Aber Nein sagen kann ich ja schlecht», sagt der
Schriftsteller. Ein höflicher Mann, dem man zum Glück ohne Ehrfurcht begegnen
kann. Den Besuch bei ihm in Bellach sage ich in Zeiten der Corona-Krise aber aus
Rücksicht vor möglichen Ansteckungen ab. Das Interview findet ein paar Tage
später am Telefon statt.
Herr Bichsel,
in wenigen Tagen werden Sie 85 Jahre alt. Wie geht es Ihnen?
Peter Bichsel:
Ach ja, ich glaube etwas besser, als man vom Alter her befürchten könnte. Es
geht mir eigentlich gut.
Eine
öffentliche Feier wird es wohl wegen des Corona-Virus nicht geben.
Es hätte auch
sonst keine Feier gegeben.
Sie haben keine
gewünscht?
Genau so.
Aber an den
kommenden Solothurner Literaturtagen Ende Mai, sofern diese denn stattfinden,
sind Sie Gast. Was darf man da von Ihnen erwarten?
Eine Lesung und
ein Gespräch mit Beat Mazenauer, der das neue Buch «Auch der Esel hat eine
Seele» mit alten Kolumnen von mir herausgegeben hat.
Sie leben
alleine in ihrem Haus in Bellach bei Solothurn. Ihre Frau ist 2005 gestorben.
Kommen Sie gut alleine zurecht?
Ja, mit
Haushalt und Kochen komme ich noch gut zurecht.
Wegen des
Corona-Virus führen wir unser Gespräch nun am Telefon. Wie empfinden Sie die
jetzige Situation?
Es beschäftigt
mich schon. Ich gehöre eindeutig zu dieser Risikogruppe.
Reagieren Sie
eher mit Bedenken, Ängstlichkeit oder Fatalismus?
Eher
fatalistisch, einigermassen gelassen. Es ist eine Art Warten. Und ich warte
gern. Warten macht die Zeit lang und wenn die Zeit lang wird, lebt man länger.
Sie haben mal
geschrieben: «Die Schweiz glaubt, es kann ihr nichts passieren. Das ist
gefährlich.» Geraten wir gerade in gefährliche Zeiten?
Mit diesem Satz
meinte ich natürlich nicht Naturereignisse wie dieses Virus, eher die Politik.
Aber auch in den ersten Tagen und Wochen hatte ich bei den Leuten das Gefühl,
sie denken, uns Schweizern könne nichts passieren. Die Meinung ist immer noch
spürbar, dass die Schweiz eben nicht dasselbe ist wie das Ausland.
1969 schrieben
Sie den Satz: «Für uns Schweizer hat das Wort Ausland immer noch den Klang von
Elend.» Hat sich da nichts verändert?
Wohl nicht
viel. Der Durchschnittsschweizer hat immer noch das Gefühl, es gäbe zwei
Welten. Die eine Welt heisst Inland, die andere Welt heisst Ausland, wie das in
unseren Zeitungen immer noch aufgeteilt wird. Wie wenn wir Schweizer die eine
Hälfte der Welt wären. Alle wissen, dass es nicht so ist. Aber das Gefühl
bleibt.
Zwei politische
Schweizer Schriftsteller, Lukas Bärfuss und Jonas Lüscher, fordern den Beitritt
der Schweiz zur EU. Wie stehen Sie dazu?
Da bin ich mit
den beiden absolut einverstanden. Erstens wegen der Solidarität, wenigstens
eine kleine internationale Solidarität. Und zweitens, um mitbestimmen zu
können.
Das wäre ja
eine urschweizerische Haltung. Mitbestimmen und sich nicht regieren lassen.
Von der
Institution Schweiz her und von der Verfassung her schon. Aber ich weiss nicht,
ob das mit der Demokratie noch in unseren Köpfen ist. Und Solidarität schon gar
nicht.
Dieses Wort
Solidarität wird in den letzten Tagen häufig benutzt. Ist das nicht auch eine
Chance, sich an die Solidarität zu erinnern?
Es gibt viele
gute Menschen. Ich zweifle nicht daran. Aber über die Nützlichkeit dieser
Epidemie möchte ich jetzt nicht nachdenken. Wir haben dieses fatale Verhältnis
zur Natur, wie wenn alles in dieser Natur irgendwie nützlich sein soll für uns
Menschen. Diese Natur, die wir ja nun über Jahrhunderte schlecht behandelt
haben und in den letzten Jahrzehnten am schlechtesten, die kann sich ja auch
mal rächen. Und sie muss nicht immer nützlich sein. Ich glaube nicht, dass wir
dann solidarischer sind, wenn wir dieses Virus hinter uns haben.
Sie sind ein
Leben lang der Sozialdemokratie verbunden. Wen sähen Sie gerne als Nachfolgerin
oder Nachfolger von Christian Levrat?
Alle vier
Kandidaten, die Männer und die Frauen, scheinen mir geeignet zu sein. Und ich
hoffe schon, dass sich damit etwas ändert. Vor allem, dass die Partei nicht
einfach nur eine Angelegenheit der Bundeshausfraktion ist, sondern wieder eine
Partei wird.
Gehen Sie
selbst an Parteiversammlungen?
Ja, ja. Hier in
Bellach. Ich gehe da gerne hin. Aber das ist nichts Grossartiges und
Umwerfendes.
Sie haben für
Bundesrat Willi Ritschard viele Reden geschrieben. Angenommen, Alain Berset
würde von Ihnen eine Rede wünschen, was wäre deren Kernaussage?
Dann würde ich
ihm sagen, Du kannst das besser, ich möchte lieber eine Rede von Dir hören, als
selbst eine zu schreiben. Ich finde Alain Berset einen hervorragenden Bundesrat
und einen hervorragenden Sozialisten.
Sie haben sich
immer als Sympathisant der 68er bezeichnet. Wie hat Sie dieses Jahr 68
verändert?
Kein Ereignis
hat mich so geprägt wie 68. Ich war 33 Jahre alt, gehörte also nicht dazu. Der
Satz der 68er hiess, trau keinem über dreissig. Und ich musste lernen. Wenn ich
hier sitze und mir vorstelle, dass vielleicht doch wieder einmal etwas
Politisches von der Jugend ausgehen könnte, dann weiss ich etwas im Voraus.
Wenn mir diese Bewegung gefallen würde, dann wäre sie zu nichts gut. Ich bin
anfänglich erschrocken über die 68er und das Erschrecken hat mir gutgetan. Eine
solche Bewegung muss uns aufrütteln. Es wäre schön, wenn aus der Klimabewegung
etwas Politisches entstehen könnte. Vorläufig ist es das nicht. Wenn ich mich auch
sehr freue über ihre Erfolge und staune, wie erfolgreich sie schon waren. Aber
wenn es eine Partei wäre, dann wäre es eine Ein-Thema-Partei. Und
Ein-Thema-Parteien sind nicht politisch, sondern im Gegenteil apolitisch. Ihr
Blick auf die Gesellschaft ist viel zu eng. Aber man kann ihnen auch Zeit
lassen.
Hat 68 Ihre
eigene Literatur verändert?
Für mich hat
sie sich verändert. Es hat nicht nur mit Inhalt, sondern mit einer bestimmten
Sicht auf die Dinge zu tun. Ob das die Leser merken, weiss ich nicht. Es würde
mich freuen, verlange es aber von ihnen nicht.
In welchem Buch
kommt das am ehesten zum Ausdruck?
Das möchte ich
nicht so definieren.
Ich würde Ihre
Veränderung am liebsten am Cherubin Hammer festmachen. Es ist mein
Lieblings-Bichsel, einerseits mit der verdoppelten Identität der Hauptfigur so
vertrackt und formal experimentell gearbeitet, anderseits so typisch Bichsel,
also liebevoll-schräg, und gleichzeitig voller Anspielungen und untergründig
politisch.
Ja, das freut
mich wirklich.
Wie sind Sie
auf die Idee gekommen, den einen Hammer ausschliesslich in diesen langen
Fussnoten zu beschreiben?
Die
literarische Fussnote gibt es schon lange. Zum Beispiel bei Jean Paul. Das ist
das eine. Mit einem Mann namens Cherubin Hammer war ich übrigens in jüngeren
Jahren in Solothurn befreundet. Später habe ich herausgefunden, dass Hammer im
Althochdeutschen Stein heisst. Das ist ganz eigenartig. Ich habe auch erst
später realisiert, dass es im Grunde so etwas ist wie meine eigene
Autobiografie. Was wäre gewesen, wenn ich ein erfolgloser Schriftsteller
gewesen wäre? Hätte ich weiter geschrieben oder hätte ich es gelassen? Hätte
ich in Verbitterung weiter geschrieben oder fröhlich zu meinem eigenen
Vergnügen? Ich weiss es nicht.
Der äussere
Erfolg und das Wertvolle, das bleiben kann, sind doch zwei verschiedene Dinge.
Der Möchtegernschriftsteller Hammer trägt Tag für Tag einen Stein auf einen
Berg. Aber am Ende liegt da nur ein grosser, nichtssagender Steinhaufen. Anders
als der legendäre Briefträger Ferdinand Cheval, der in Südfrankreich Ende des
19.Jahrhunderts während 33 Jahren aus zusammengetragenen Steinen einen
Fantasiepalast gebaut hat, den heute sehr viele Menschen bewundern. Für uns
Schweizer ist Peter Bichsel eindeutig eher Cheval als Hammer. Weil die Fantasie
als Inspiration überlebt.
Ich bin mir
nicht sicher. Ich bewundere Leute wie den Briefträger Cheval. Ich bewundere
leidenschaftliche Menschen. Ich selbst bin es nicht. Ich bin kein
leidenschaftlicher Mensch und auch kein leidenschaftlicher Schriftsteller. Das
war ich nie. Ich freue mich aber, dass ich Leser und vor allem Leserinnen
gefunden habe.
Ich hörte Sie
mal auf einem Podium sagen, wenn Sie heute als Schriftsteller beginnen würden,
hätten Sie kaum Erfolg, weil sich die Literaturszene sehr verändert habe.
Ja, davon bin
ich überzeugt. Ein Buch wie der Milchmann würde heute niemandem auffallen.
Literatur war wirklich in den 1960er-Jahren noch etwas anderes. Es war Suche,
Experimente, Mutmassungen und nicht Tiere, Menschen und Sensationen.
Ich habe
gelesen, Sie würden nun vor allem Klassiker, aber kaum mehr Neuerscheinungen
lesen.
Ich lese fast
nur noch Bücher, die ich schon mal gelesen habe. Die Wanderjahre von Goethe
oder meinen Jean Paul. Was ich an zeitgenössischer Literatur noch lese, das sind
Bücher von schreibenden Freundinnen und Freunden. Ich möchte ihnen nicht
begegnen, ohne ihr Buch gelesen zu haben. Die Bücher, die ich in meiner Jugend
gelesen habe und jetzt wieder lese, haben für mich fast die Qualität von
Tagebüchern. Ich erinnere mich oft Satz für Satz, in welcher Situation ich war,
als ich diese Sätze zum ersten Mal gelesen habe, und wie es mir ging. Meine
frühe Lektüre wieder zu lesen, ist eine Erinnerung an mich selbst.
Wie erleben Sie
den jungen Peter Bichsel bei dieser Erinnerung?
Wenn ich Texte
von diesem jungen Peter Bichsel lese, dann sind sie oft so etwas wie Texte von
einem anderen. Und wenn ich versuche, sie laut zu lesen, dann sind sie
rhythmisch wieder Texte von mir. Das ist ein Hin und Her, sehr eigenartig. Der
Andere, der einmal ich war und das Ich, das einmal ein Anderer war. Eine
eigenartige, wundersame Begegnung.
Das tönt wie
ein nächstes Buch von Peter Bichsel. Aber Sie haben vor ein paar Jahren
verkündet, nichts mehr zu schreiben. Juckt es Sie manchmal noch in den Fingern,
für eine Kolumne oder für ein solches Buch über das Fremde im Eigenen? Das wäre
ein super Thema.
Man muss nicht
alles aufschreiben, was einem so einfällt. Man kann auch mal schweigen und
nicht schreiben. Wie gesagt, ein leidenschaftlicher Autor war ich nie. Aber
wenn mir eine Geschichte vom Himmel fällt, dann würde ich mich nicht wehren,
sie aufzuschreiben.
Haben Sie mal
mit Mike Müller über dessen Peter-Bichsel-Parodie gestritten?
Nein, überhaupt
nicht. Ich habe mich immer darüber gefreut, auch wenn es unter die Haut ging.
Das tat schon ein bisschen weh, weil es mich an eine Zeit als Kind erinnert,
als ich immer ausgelacht wurde für mein näselndes Reden. Aber Mike Müller, ein
gescheiter Mann, hat das richtig grossartig gemacht. So grossartig, dass ich
immer wieder mit ihm verwechselt worden bin. Das erste Mal im Spital, ich stand
auf einer Treppe, um zu rauchen. Da kam eine Frau im Morgenrock, auch um zu
rauchen, und sagte, sie kenne mich vom Fernsehen. Ich habe mich gefreut. Aber
sie hat nicht mich gemeint, sondern Mike Müller als Peter Bichsel. Das ist doch
ein Riesenkompliment für ihn, wenn man mich selbst mit meiner Parodie
verwechselt. Ich kenne ihn gut und mag ihn sehr. Übrigens habe ich ihn gekannt,
als er sich selbst noch nicht kannte. Ich habe ihn schon als kleines Baby
gesehen, mit seinem Vater zusammen habe ich in Zuchwil Schule gehalten. Er war
auch Lehrer dort.
Den Lehrerberuf
haben Sie selbst aber relativ früh an den Nagel gehängt. Da waren Sie knapp
vierzig Jahre alt. In verschiedenen Interviews von ihnen habe ich einen Unmut
von Ihnen gespürt. Schule sei nicht für die Bildung da, sondern für die
Selektion. Heisst das, Peter Bichsel würde heute den Lehrerberuf nicht mehr
ergreifen.
Ich war sehr
gerne Lehrer und ich freue mich sehr, ehemalige Schüler auf der Strasse zu
treffen. Solange ich Schule gehalten habe, habe ich im Jahr zwei Formulare
ausgefüllt, einen Bericht im Umfang von eineinhalb Schreibmaschinenseiten über
das, was ich gemacht habe, und eine Liste aller Schüler. Das war alles. Heute
haben Lehrer oft täglich eine Stunde Büroarbeit, weil sie Material liefern
müssen, damit an den Pädagogischen Hochschulen Forschung betrieben werden kann.
Pädagogik hat man auch damals studieren können, nur hat man Pädagogen für
nichts gebrauchen können. Trotzdem gab es Berufskollegen, die an die Uni
gegangen sind. Es waren jene, die es angeschissen hat, Schule zu halten. Ich
habe hie und da das Gefühl, sie kommen zurück und bringen ihren Kollegen bei,
wie man Schule halten muss, damit es einen anscheisst. Bildungswahnsinn.
Forschung, Forschung, Forschung.
Zur Person
Der 1935 in
Luzern geborene Peter Bichsel war zunächst Lehrer. Mit seinem Erzählband
«Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen» gelang ihm 1964
spektakulär der literarische Durchbruch als origineller Vertreter der Moderne.
Der
Mitbegründer der Solothurner Literaturtage, persönliche Berater von
SP-Bundesrat Willi Ritschard, seit 1957 Mitglied der SP und Kolumnist hat zudem
das Nachdenken über die Schweiz mitgeprägt. Unter dem Titel «Auch der Esel hat
eine Seele» ist gerade ein von Beat Mazenauer herausgegebener Band mit Bichsels
frühen Kolumnen erschienen.
"Aber ich war vielleicht kein typischer Lehrer. Ich habe versucht, die Schüler ernst zu nehmen, nicht auf sie herabzusehen. Stolz war ich, wenn es mir gelang, sie für Grammatik und Rechnen zu begeistern, indem ich nicht dozierte, sondern erzählte."
AntwortenLöschenAusschnitt aus einem Interview mit Manfred Papst, NZZaS, 29.3.
https://nzzas.nzz.ch/kultur/was-der-dichter-peter-bichsel-waehrend-der-corona-krise-tut-ld.1548826