Eines Tages steht Dominik* mit all seinen Schulsachen vor der Haustür.
Seine Klassenkameraden haben sich lediglich für zwei Wochen Ferien voneinander
verabschiedet. Er aber hat all seine Bücher, die Hefte und das Etui im
Schulthek dabei. Die Heilpädagogin habe ihn nach Hause geschickt, berichtet er
seinen Eltern. Nach den Ferien müsse er an eine andere Schule wechseln.
Dominik lebt in einer Gemeinde im Kanton Zürich, ist geistig behindert
und heute ein Teenager. Das Erlebnis vor vier Jahren war nicht der erste Bruch
seiner Bildungslaufbahn. Allein während seiner Primarschulzeit musste er
mehrmals die Klasse wechseln. Einmal habe man ihn sogar eine Stufe überspringen
lassen, erzählen seine Eltern, die nicht namentlich genannt werden möchten. Ihr
Sohn sei stark und anpassungsfähig und könne das bewältigen, lautete die
Begründung.
Die ganze Familie habe unter den ständigen Wechseln gelitten, sagt
Dominiks Mutter. «Konstanz ist für jedes Kind wichtig. Für eines mit speziellen
Bedürfnissen ganz besonders.» Blickt sie auf die bisherige Schulzeit ihres
Sohnes zurück, ist ihr Fazit ernüchternd: «Die Haupterkenntnis aus all den
Jahren lautet: Es gibt keine echte Integration.»
«Umsetzung harzt»
Dominiks Eltern sind mit ihrer Kritik nicht allein. Auch andere
Betroffene, aber ebenso Behindertenorganisationen und Experten bemängeln die
schulische Integration im Kanton Zürich. «Es zeigt sich, dass die Umsetzung
trotz den entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen harzt», sagt Marc Moser,
Kommunikationsverantwortlicher bei Inclusion Handicap, dem Dachverband der
Schweizer Behindertenorganisationen. Viele Eltern müssten dafür kämpfen, dass
ihr Kind eine Regelschule besuchen könne.
Dabei ist der Grundsatz der integrativen Förderung im Bundesgesetz
verankert. Die Umsetzung wird im neuen kantonalen Volksschulgesetz geregelt.
Dort heisst es: «Die Schülerinnen und Schüler werden wenn möglich in der
Regelklasse unterrichtet.» Mehr als 70 Prozent des Zürcher Stimmvolkes hatten
2005 für das Reformpaket und damit auch für die schulische Integration
gestimmt. Auch die Zürcher Bildungsdirektorin nimmt bei dem Thema eine klare
Haltung ein: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein
Menschenrecht», sagte Silvia Steiner vor einem Jahr in einem NZZ-Interview.
Trotz diesen Bekenntnissen haben Betroffene im Alltag mit Hürden zu
kämpfen. «Wir mussten die Integration unseres Kindes immer einfordern», sagt
Dominiks Mutter. Stets habe es an Wissen oder Ressourcen gefehlt. «Schon seit
dem ersten Kindergarten hat man uns gesagt, dass sich eine Integration gar
nicht lohne. Dominik lande sowieso in einer Sonderschule.» Je näher der
Übertritt in die Oberstufe gerückt sei, desto grösser seien die Widerstände
geworden.
Professorin fordert Umdenken
Silvia Pool Maag ist Professorin für Inklusion und Diversität an der
Pädagogischen Hochschule Zürich. Auch sie kritisiert die gegenwärtigen Zustände
und fordert tiefgreifendere Veränderungen im Bildungssystem. Insbesondere in
zwei Bereichen müsse ein Umdenken stattfinden: bei der Ressourcenverteilung und
bei der Segregation der Oberstufe.
Kinder mit Beeinträchtigungen werden heute in ein sogenanntes
Förderstufenmodell eingeteilt. Auf der ersten Stufe sind die Schüler, die wenig
Unterstützung brauchen, um angemessene Lernziele zu erreichen. Auf der dritten
Stufe diejenigen, die am meisten Hilfe benötigen und eine integrierte
Sonderschulung erhalten oder eine Sonderschule besuchen. Also Kinder wie
Dominik.
Das erklärte Ziel ist es, möglichst viele dieser Kinder in Regelklassen
zu unterrichten. Das ist in den letzten zehn Jahren gelungen: Der Anteil an
Schülern in Sonderschulen ist in dieser Zeit gesunken. Doch das ist nur
eine Seite der Medaille. Insgesamt ist die Sonderschulungsquote nämlich stark
angestiegen. Aufgrund der steigenden Anzahl integrierter Sonderschüler ist der
Anteil in derselben Zeitspanne um knapp die Hälfte gewachsen.
Immer mehr
Primarschüler im Kanton Zürich haben einen Sonderschulstatus
Pool Maag hat für die Ursache dieser Entwicklung einen Namen:
«Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma». Erhält ein Kind wegen einer
kognitiven Beeinträchtigung, einer Verhaltensauffälligkeit oder einer
Lernschwäche das Etikett eines Sonderschülers, werden mehr Ressourcen
gesprochen, die dann im Regelunterricht eingesetzt werden können.
Diese Angebot-und-Nachfrage-Dynamik schafft falsche Anreize. Das Resultat:
Die Kosten für die sonderschulischen Massnahmen steigen, und die betroffenen
Schüler werden wegen des Sonderschulstatus stigmatisiert.
«Das System ist absurd», sagt Pool Maag. «Wenn wir nach demselben Muster
weiterfahren, haben wir in zehn Jahren noch viel mehr Schüler mit
Sonderschulstatus.» Stattdessen schlägt sie eine «Pauschalressourcierung» vor.
Schulen und Gemeinden sollten den Bedarf pauschal für die gesamte Schülerschaft
errechnen, statt einzelne Kinder zu etikettieren. So bekäme jede Schule die
nötigen Ressourcen für die Population, die sie in den nächsten Jahren beschulen
muss. Damit wäre sowohl der Stigmatisierung der Kinder als auch den falschen
Anreizen Einhalt geboten.
Ein zweites Problem sieht Pool Maag beim Übertritt in die Sekundarstufe.
Je näher die Oberstufe rücke, desto mehr Kinder würden in Sonderschulen
abgeschoben. «Das hat massgeblich mit der Selektion und der Zuweisung in die
verschiedenen Leistungsstufen zu tun», sagt die Professorin. Dieses Argument
wird von der Statistik untermauert: Im Gegensatz zur Primarstufe ist in der
Oberstufe der Anteil an separierten Sonderschülern in den letzten zehn Jahren
leicht gestiegen.
Mehr
separierte Sonderschüler auf Sekundarstufe
«Im Kindergarten und in der
Primarschule haben wir mittlerweile eine gute integrative Praxis etablieren
können», sagt Pool Maag. Doch auch die Sekundarstufe gehöre zur Volksschule.
Kinder mit Beeinträchtigungen laufen dort stets Gefahr, einfach in die unterste
Leistungsstufe eingeteilt zu werden. Diese werde dann zu einem Sammelbecken für
Schüler, die in irgendeiner Form spezielle Bedürfnisse haben. «In der
Primarschule sind Klassen durchmischte Lerngruppen. Dort funktioniert die
Integration sehr gut, wenn der Unterricht entsprechend differenziert wird»,
sagt Pool Maag. Sie stellt deshalb grundsätzlich die Niveaustufen der
Sekundarstufe infrage und plädiert für heterogene Stammklassen.
Ihre Ansichten gründen in der Überzeugung, dass die Integration allen
Kindern zugutekommt. «Eine inklusive Schule ist eine gute Schule», sagt Pool
Maag. Die beeinträchtigten Kinder würden kognitiv grosse Fortschritte machen
und hätten später bessere Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das komme der
Gesellschaft zugute und befördere ihre Selbstbestimmung. Auch die anderen
Kinder würden profitieren: «Ich kenne keine Untersuchung, die von Integration
abrät», sagt Pool Maag.
Kanton erkennt Handlungsbedarf
Philippe Dietiker, Leiter der Abteilung Besondere Förderung im Zürcher
Volksschulamt (VSA), gibt der PH-Professorin teilweise recht. Insbesondere bei
der Ressourcenverteilung bestehe Handlungsbedarf. Eine möglichst hohe Anzahl an
Schülern mit Sonderschulstatus wirke sich positiv auf die Ressourcen einer
Schule aus, weil sie die Kosten in die Höhe treibe und mehr Schüler
stigmatisiert würden. «Dieser Effekt besteht und muss korrigiert werden»,
sagt Dietiker.
Die Bildungsdirektion unterstütze deshalb Gemeinden mit überhohen
Sonderschulungsquoten mit einem Monitoring und entwickle mit ihnen Massnahmen
zur Stärkung der Tragfähigkeit der Regelklassen sowie zur Steuerung der Quote.
Die höhere Anzahl Kinder in Sonderschulen auf der Sekundarstufe erklärt
er damit, dass die Umsetzung des neuen Volksschulgesetzes noch nicht
abgeschlossen sei. Sie erfolge in chronologischer Reihenfolge, vom Kindergarten
über die Primarschule und die Oberstufe bis in die Sekundarstufe II. «Die
Erfahrung zeigt, dass sich der Effekt immer weiter multiplizieren wird», sagt
Dietiker.
Probleme wie beim eingangs erwähnten Dominik seien vor allem zu Beginn
der Umsetzung des neuen Volksschulgesetzes aufgetreten. «Für Eltern und Kinder
war das sicher nicht immer eine einfache Zeit», sagt Dietiker. «Sie haben
Pionierarbeit geleistet.» Insgesamt sei der Kanton Zürich mit seinen
Integrationsbemühungen heute aber schon sehr weit. Gegenwärtig sind auf der
dritten Förderstufe 50 Prozent in Regelklassen integriert. «Die Frage lautet:
Ist das Glas halb voll oder halb leer?»
Die Integration von allen Kindern mit Beeinträchtigungen ist laut
Dietiker ohnehin kein realistisches Ziel. Dies wäre selbst bei idealen
Schulverhältnissen kaum möglich. Einige Kinder könnten in Sonderschulen
besser aufgehoben sein. Deshalb stehe auch der Vorbehalt «wenn möglich» im
Volksschulgesetz. Der VSA-Abteilungsleiter ist aber überzeugt, dass in den
Köpfen der Lehrerinnen und Lehrer ein Wandel stattgefunden habe: «Für die
angehenden Lehrpersonen an der Pädagogischen Hochschule ist es heute gar keine
Frage mehr, dass sie voll hinter der Integration stehen.»
Zusatzbelastung für Lehrer
Christian Hugi, Präsident des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands
(ZLV), bestätigt diesen Befund. Er zeigt aber auch Verständnis für gewisse
Vorbehalte vonseiten der Lehrerschaft. Einerseits sei der integrative
Unterricht noch nicht lange Teil der Ausbildung. Einige hätten deshalb
Bedenken, den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht zu werden. Andererseits
seien häufig mangelnde Ressourcen das Problem. «Wenn Lehrpersonen die nötige
Unterstützung bekommen, ist vieles möglich», sagt Hugi. Ohne die Hilfe von
Heilpädagoginnen oder Klassenassistenten stelle die Integration aber eine
grosse Zusatzbelastung dar.
Hugi weiss, wovon er spricht. Bis zu den Sommerferien hatte der
Primarlehrer zwei Kinder mit einer geistigen Beeinträchtigung in seiner
Klasse. Sie wurden zur Hälfte der Zeit von einer Heilpädagogin begleitet. Wenn
weder sie noch eine Klassenassistenz anwesend war, wirkte sich das laut eigenen
Aussagen negativ auf seinen Unterricht aus. Dasselbe Bild zeigt auch die neueste
Arbeitszeiterhebung des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Mehr
als die Hälfte der 10 000 befragten Lehrpersonen gaben an, dass sie die
integrative Schulung und Förderung als Zusatzbelastung wahrnähmen. Drei Viertel
schätzten die Ressourcen für deren Umsetzung als zu klein ein.
In Zürich stellt laut Hugi zurzeit der Mangel an Heilpädagoginnen das
grösste Problem dar. Dieser dürfte sich aufgrund der wachsenden Schülerzahlen
in den kommenden Jahren noch verschärfen. «Wir fordern die Ressourcen ganz klar
ein», sagt der ZLV-Präsident. «Wenn sie nicht vorhanden sind, dann ist
Integration nicht zu leisten.»
Falls sich künftig etwas bei der Ressourcenverteilung oder bei der
Durchmischung der Leistungsstufen in der Oberstufe verändern sollte, kommt dies
für Dominik zu spät. Er besucht mittlerweile eine private Sekundarschule. Laut
seinen Eltern ist er im Quartier, im Sportklub und in der Musikschule aber sehr
gut integriert.
Noch heute grüssen ihn alte Schulkollegen auf der Strasse, und Dominik
selbst kennt gegenüber Gleichaltrigen keine Berührungsängste. Neulich habe er
gerade spontan eine Stunde Basketball mit zwei Jugendlichen auf dem Pausenplatz
gespielt. Für seine kognitive Entwicklung seien die Jahre im Regelunterricht
extrem wertvoll gewesen, sagt seine Mutter. «Unser Beispiel zeigt, dass man mit
einer guten Förderung sehr weit kommen kann.»
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