28. Februar 2020

Umsetzung der Integration harzt


Eines Tages steht Dominik* mit all seinen Schulsachen vor der Haustür. Seine Klassenkameraden haben sich lediglich für zwei Wochen Ferien voneinander verabschiedet. Er aber hat all seine Bücher, die Hefte und das Etui im Schulthek dabei. Die Heilpädagogin habe ihn nach Hause geschickt, berichtet er seinen Eltern. Nach den Ferien müsse er an eine andere Schule wechseln.

Dominik lebt in einer Gemeinde im Kanton Zürich, ist geistig behindert und heute ein Teenager. Das Erlebnis vor vier Jahren war nicht der erste Bruch seiner Bildungslaufbahn. Allein während seiner Primarschulzeit musste er mehrmals die Klasse wechseln. Einmal habe man ihn sogar eine Stufe überspringen lassen, erzählen seine Eltern, die nicht namentlich genannt werden möchten. Ihr Sohn sei stark und anpassungsfähig und könne das bewältigen, lautete die Begründung. 

Die ganze Familie habe unter den ständigen Wechseln gelitten, sagt Dominiks Mutter. «Konstanz ist für jedes Kind wichtig. Für eines mit speziellen Bedürfnissen ganz besonders.» Blickt sie auf die bisherige Schulzeit ihres Sohnes zurück, ist ihr Fazit ernüchternd: «Die Haupterkenntnis aus all den Jahren lautet: Es gibt keine echte Integration.»

«Umsetzung harzt»
Dominiks Eltern sind mit ihrer Kritik nicht allein. Auch andere Betroffene, aber ebenso Behindertenorganisationen und Experten bemängeln die schulische Integration im Kanton Zürich. «Es zeigt sich, dass die Umsetzung trotz den entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen harzt», sagt Marc Moser, Kommunikationsverantwortlicher bei Inclusion Handicap, dem Dachverband der Schweizer Behindertenorganisationen. Viele Eltern müssten dafür kämpfen, dass ihr Kind eine Regelschule besuchen könne.

Dabei ist der Grundsatz der integrativen Förderung im Bundesgesetz verankert. Die Umsetzung wird im neuen kantonalen Volksschulgesetz geregelt. Dort heisst es: «Die Schülerinnen und Schüler werden wenn möglich in der Regelklasse unterrichtet.» Mehr als 70 Prozent des Zürcher Stimmvolkes hatten 2005 für das Reformpaket und damit auch für die schulische Integration gestimmt. Auch die Zürcher Bildungsdirektorin nimmt bei dem Thema eine klare Haltung ein: «Der integrative Unterricht ist für mich kein Projekt, sondern ein Menschenrecht», sagte Silvia Steiner vor einem Jahr in einem NZZ-Interview.

Trotz diesen Bekenntnissen haben Betroffene im Alltag mit Hürden zu kämpfen. «Wir mussten die Integration unseres Kindes immer einfordern», sagt Dominiks Mutter. Stets habe es an Wissen oder Ressourcen gefehlt. «Schon seit dem ersten Kindergarten hat man uns gesagt, dass sich eine Integration gar nicht lohne. Dominik lande sowieso in einer Sonderschule.» Je näher der Übertritt in die Oberstufe gerückt sei, desto grösser seien die Widerstände geworden.

Professorin fordert Umdenken
Silvia Pool Maag ist Professorin für Inklusion und Diversität an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Auch sie kritisiert die gegenwärtigen Zustände und fordert tiefgreifendere Veränderungen im Bildungssystem. Insbesondere in zwei Bereichen müsse ein Umdenken stattfinden: bei der Ressourcenverteilung und bei der Segregation der Oberstufe.

Kinder mit Beeinträchtigungen werden heute in ein sogenanntes Förderstufenmodell eingeteilt. Auf der ersten Stufe sind die Schüler, die wenig Unterstützung brauchen, um angemessene Lernziele zu erreichen. Auf der dritten Stufe diejenigen, die am meisten Hilfe benötigen und eine integrierte Sonderschulung erhalten oder eine Sonderschule besuchen. Also Kinder wie Dominik.

Das erklärte Ziel ist es, möglichst viele dieser Kinder in Regelklassen zu unterrichten. Das ist in den letzten zehn Jahren gelungen: Der Anteil an Schülern in Sonderschulen ist in dieser Zeit gesunken. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Insgesamt ist die Sonderschulungsquote nämlich stark angestiegen. Aufgrund der steigenden Anzahl integrierter Sonderschüler ist der Anteil in derselben Zeitspanne um knapp die Hälfte gewachsen.

Immer mehr Primarschüler im Kanton Zürich haben einen Sonderschulstatus
Pool Maag hat für die Ursache dieser Entwicklung einen Namen: «Ressourcen-Etikettierungs-Dilemma». Erhält ein Kind wegen einer kognitiven Beeinträchtigung, einer Verhaltensauffälligkeit oder einer Lernschwäche das Etikett eines Sonderschülers, werden mehr Ressourcen gesprochen, die dann im Regelunterricht eingesetzt werden können. Diese Angebot-und-Nachfrage-Dynamik schafft falsche Anreize. Das Resultat: Die Kosten für die sonderschulischen Massnahmen steigen, und die betroffenen Schüler werden wegen des Sonderschulstatus stigmatisiert.

«Das System ist absurd», sagt Pool Maag. «Wenn wir nach demselben Muster weiterfahren, haben wir in zehn Jahren noch viel mehr Schüler mit Sonderschulstatus.» Stattdessen schlägt sie eine «Pauschalressourcierung» vor. Schulen und Gemeinden sollten den Bedarf pauschal für die gesamte Schülerschaft errechnen, statt einzelne Kinder zu etikettieren. So bekäme jede Schule die nötigen Ressourcen für die Population, die sie in den nächsten Jahren beschulen muss. Damit wäre sowohl der Stigmatisierung der Kinder als auch den falschen Anreizen Einhalt geboten.

Ein zweites Problem sieht Pool Maag beim Übertritt in die Sekundarstufe. Je näher die Oberstufe rücke, desto mehr Kinder würden in Sonderschulen abgeschoben. «Das hat massgeblich mit der Selektion und der Zuweisung in die verschiedenen Leistungsstufen zu tun», sagt die Professorin. Dieses Argument wird von der Statistik untermauert: Im Gegensatz zur Primarstufe ist in der Oberstufe der Anteil an separierten Sonderschülern in den letzten zehn Jahren leicht gestiegen.

Mehr separierte Sonderschüler auf Sekundarstufe
 «Im Kindergarten und in der Primarschule haben wir mittlerweile eine gute integrative Praxis etablieren können», sagt Pool Maag. Doch auch die Sekundarstufe gehöre zur Volksschule. Kinder mit Beeinträchtigungen laufen dort stets Gefahr, einfach in die unterste Leistungsstufe eingeteilt zu werden. Diese werde dann zu einem Sammelbecken für Schüler, die in irgendeiner Form spezielle Bedürfnisse haben. «In der Primarschule sind Klassen durchmischte Lerngruppen. Dort funktioniert die Integration sehr gut, wenn der Unterricht entsprechend differenziert wird», sagt Pool Maag. Sie stellt deshalb grundsätzlich die Niveaustufen der Sekundarstufe infrage und plädiert für heterogene Stammklassen.
Ihre Ansichten gründen in der Überzeugung, dass die Integration allen Kindern zugutekommt. «Eine inklusive Schule ist eine gute Schule», sagt Pool Maag. Die beeinträchtigten Kinder würden kognitiv grosse Fortschritte machen und hätten später bessere Chancen auf dem ersten Arbeitsmarkt. Das komme der Gesellschaft zugute und befördere ihre Selbstbestimmung. Auch die anderen Kinder würden profitieren: «Ich kenne keine Untersuchung, die von Integration abrät», sagt Pool Maag.

Kanton erkennt Handlungsbedarf
Philippe Dietiker, Leiter der Abteilung Besondere Förderung im Zürcher Volksschulamt (VSA), gibt der PH-Professorin teilweise recht. Insbesondere bei der Ressourcenverteilung bestehe Handlungsbedarf. Eine möglichst hohe Anzahl an Schülern mit Sonderschulstatus wirke sich positiv auf die Ressourcen einer Schule aus, weil sie die Kosten in die Höhe treibe und mehr Schüler stigmatisiert würden. «Dieser Effekt besteht und muss korrigiert werden», sagt Dietiker.

Die Bildungsdirektion unterstütze deshalb Gemeinden mit überhohen Sonderschulungsquoten mit einem Monitoring und entwickle mit ihnen Massnahmen zur Stärkung der Tragfähigkeit der Regelklassen sowie zur Steuerung der Quote.
Die höhere Anzahl Kinder in Sonderschulen auf der Sekundarstufe erklärt er damit, dass die Umsetzung des neuen Volksschulgesetzes noch nicht abgeschlossen sei. Sie erfolge in chronologischer Reihenfolge, vom Kindergarten über die Primarschule und die Oberstufe bis in die Sekundarstufe II. «Die Erfahrung zeigt, dass sich der Effekt immer weiter multiplizieren wird», sagt Dietiker.

Probleme wie beim eingangs erwähnten Dominik seien vor allem zu Beginn der Umsetzung des neuen Volksschulgesetzes aufgetreten. «Für Eltern und Kinder war das sicher nicht immer eine einfache Zeit», sagt Dietiker. «Sie haben Pionierarbeit geleistet.» Insgesamt sei der Kanton Zürich mit seinen Integrationsbemühungen heute aber schon sehr weit. Gegenwärtig sind auf der dritten Förderstufe 50 Prozent in Regelklassen integriert. «Die Frage lautet: Ist das Glas halb voll oder halb leer?»

Die Integration von allen Kindern mit Beeinträchtigungen ist laut Dietiker ohnehin kein realistisches Ziel. Dies wäre selbst bei idealen Schulverhältnissen kaum möglich. Einige Kinder könnten in Sonderschulen besser aufgehoben sein. Deshalb stehe auch der Vorbehalt «wenn möglich» im Volksschulgesetz. Der VSA-Abteilungsleiter ist aber überzeugt, dass in den Köpfen der Lehrerinnen und Lehrer ein Wandel stattgefunden habe: «Für die angehenden Lehrpersonen an der Pädagogischen Hochschule ist es heute gar keine Frage mehr, dass sie voll hinter der Integration stehen.»

Zusatzbelastung für Lehrer
Christian Hugi, Präsident des Zürcher Lehrerinnen- und Lehrerverbands (ZLV), bestätigt diesen Befund. Er zeigt aber auch Verständnis für gewisse Vorbehalte vonseiten der Lehrerschaft. Einerseits sei der integrative Unterricht noch nicht lange Teil der Ausbildung. Einige hätten deshalb Bedenken, den Bedürfnissen der Kinder nicht gerecht zu werden. Andererseits seien häufig mangelnde Ressourcen das Problem. «Wenn Lehrpersonen die nötige Unterstützung bekommen, ist vieles möglich», sagt Hugi. Ohne die Hilfe von Heilpädagoginnen oder Klassenassistenten stelle die Integration aber eine grosse Zusatzbelastung dar.

Hugi weiss, wovon er spricht. Bis zu den Sommerferien hatte der Primarlehrer zwei Kinder mit einer geistigen Beeinträchtigung in seiner Klasse. Sie wurden zur Hälfte der Zeit von einer Heilpädagogin begleitet. Wenn weder sie noch eine Klassenassistenz anwesend war, wirkte sich das laut eigenen Aussagen negativ auf seinen Unterricht aus. Dasselbe Bild zeigt auch die neueste Arbeitszeiterhebung des Dachverbands der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer. Mehr als die Hälfte der 10 000 befragten Lehrpersonen gaben an, dass sie die integrative Schulung und Förderung als Zusatzbelastung wahrnähmen. Drei Viertel schätzten die Ressourcen für deren Umsetzung als zu klein ein.

In Zürich stellt laut Hugi zurzeit der Mangel an Heilpädagoginnen das grösste Problem dar. Dieser dürfte sich aufgrund der wachsenden Schülerzahlen in den kommenden Jahren noch verschärfen. «Wir fordern die Ressourcen ganz klar ein», sagt der ZLV-Präsident. «Wenn sie nicht vorhanden sind, dann ist Integration nicht zu leisten.»

Falls sich künftig etwas bei der Ressourcenverteilung oder bei der Durchmischung der Leistungsstufen in der Oberstufe verändern sollte, kommt dies für Dominik zu spät. Er besucht mittlerweile eine private Sekundarschule. Laut seinen Eltern ist er im Quartier, im Sportklub und in der Musikschule aber sehr gut integriert.

Noch heute grüssen ihn alte Schulkollegen auf der Strasse, und Dominik selbst kennt gegenüber Gleichaltrigen keine Berührungsängste. Neulich habe er gerade spontan eine Stunde Basketball mit zwei Jugendlichen auf dem Pausenplatz gespielt. Für seine kognitive Entwicklung seien die Jahre im Regelunterricht extrem wertvoll gewesen, sagt seine Mutter. «Unser Beispiel zeigt, dass man mit einer guten Förderung sehr weit kommen kann.»


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