Die langjährige Primarlehrerin und FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois kritisiert die schulische Integration im Kanton Zürich scharf. Sie schlägt einen grundsätzlichen Richtungswechsel vor.
Yasmine Bourgeois ist Primarlehrerin und FDP-Gemeinderätin, Bild: zvg
FDP-Gemeinderätin Bourgeois: «In meinen Augen ist die ganze Aktion gescheitert»
Seit knapp zehn Jahren versucht der Kanton
Zürich, Kinder mit Beeinträchtigungen vermehrt in Regelklassen zu integrieren.
Wie gut ist das aus Ihrer Sicht gelungen?
In meinen Augen ist die ganze Aktion gescheitert. So, wie wir es
jetzt machen, funktioniert die Integration nicht.
Warum?
Kinder, die dem Schulstoff nicht mal ansatzweise folgen können, sind in
Regelklassen schlicht am falschen Ort. Für sie ist es kein Vergnügen, Tag für
Tag zu erleben, dass sie nichts verstehen. Später arbeiten sie auch nicht in
einem völlig ungeeigneten Beruf. Jemand mit einer Mathematikschwäche wird nie
als Analyst tätig sein.
Ist
die Volksschule aber nicht ein Ort, an dem Integration stattfinden sollte?
Integration findet nicht nur in der Schule statt, sie kann auch in
Theatergruppen oder Sportvereinen stattfinden. Kinder mit Beeinträchtigungen
können in Regelklassen ohnehin nicht so gefördert werden, wie es eigentlich
möglich wäre. Die Integration nützt ihnen nichts. Sie sind in Kleinklassen oder
Sonderschulen häufig besser aufgehoben.
Die
Kinder können also nicht von der Integration profitieren?
Viele Sonderschullehrpersonen sagen mir, dass die Kinder aus den
Regelklassen grosse Rückstände auf ihre gleichaltrigen Klassenkameraden
aufweisen. Sie sind weniger selbständig und haben kein eigenes Lernverhalten,
weil sie selten Lernerfolge erleben.
Wo liegen
denn die Probleme im Regelunterricht?
Es wird ganz viel Zeit verbraten, in der diese Kinder unproduktiv
sind. Man stellt zwar Hilfspersonal an, die für einzelne Lektionen pro Woche
mit ihnen arbeiten. In allen anderen Schulstunden sind sie aber fast auf sich
allein gestellt, da die Klassenlehrperson sich auch noch um andere Kinder
kümmern muss. Niemand ist dann so richtig da für diese Kinder.
Brauchte
es also mehr Ressourcen?
Die schulische Heilpädagogik in Regelklassen kostet heute schon
alleine im Kanton Zürich rund 100 Millionen Franken pro Jahr. Die totalen
Kosten für die Sonderschulen und die schulische Integration belaufen sich auf
mehr als eine halbe Milliarde Franken pro Jahr. Das ist ganz grob geschätzt ein
Viertel der Gesamtkosten für die Volksschule, der für lediglich 4 Prozent der
Kinder verwendet wird. Das ist einfach nicht effizient.
Sollte es
uns das nicht wert sein?
Wenn es etwas bringen würde, auf jeden Fall! Bildung darf etwas kosten. Aber
wir buttern Geld in ein System, das nicht funktioniert. Die Bildung wird
dadurch nicht besser, sie wird schlechter. Das geht auf Kosten aller Kinder.
Also auch
von denjenigen ohne Beeinträchtigung?
Ja. Das Argument, dass die anderen Kinder nicht am Lernen
gehindert werden, lasse ich nicht gelten. Aus meiner Erfahrung ist das der
Fall. Es entsteht zu viel Unruhe im Klassenzimmer. Es ist ein Kommen und Gehen
von Heilpädagoginnen, Zivildienstlern, Klassenassistentinnen und Therapeuten.
Heute gibt es fast in jedem Klassenzimmer Gehörschutze für die Schülerinnen und
Schüler.
Die
Vermittlung von Lerninhalten ist die wichtigste Aufgabe der Volksschule. Doch
auch soziale Kompetenzen, wie Toleranz, sollten gefördert werden.
Ja, aber doch nicht auf Kosten der integrierten Kinder. Und man
muss sich schon fragen, ob zum Beispiel eine Mathematikstunde der geeignete Ort
ist, um soziale Kompetenzen zu erwerben. Wir können uns in der Bildung eine
Nivellierung nach unten nicht leisten.
Wie wird
im Lehrerzimmer über integrative Förderung gesprochen?
Das ist völlig unterschiedlich. Viele haben Bedenken, den Kindern
nicht gerecht zu werden. Andere sind der Meinung, dass wir in der Pflicht
stehen und das der Gesellschaft schuldig sind.
Sie sind
seit 16 Jahren Primarlehrerin. Haben Sie selber Erfahrungen mit integrativer
Förderung gemacht?
Ja, natürlich, haufenweise. Zum Beispiel hatte ich einmal einen
Jungen mit starken Lernbehinderungen in meiner Klasse, der dem Schulstoff
überhaupt nicht folgen konnte. Aber auch sozial war er ganz in seiner eigenen
Welt. Die anderen Kinder waren nett zu ihm, aber richtige Freunde hat er in der
Klasse nicht gefunden.
Wie haben
Sie reagiert?
Die Mutter des Jungen hat einen Wechsel an eine Sonderschule vorgeschlagen. Die
Primarschule hat das aber mit der Begründung verweigert, dass wir ein
integratives Schulsystem hätten. Schliesslich intervenierte die Mutter, seither
besucht das Kind eine Privatschule.
Wie
könnte die Situation aus Ihrer Sicht verbessert werden?
Kleinklassen wären eine Möglichkeit. Oder Formen der
Teilintegration. Die Kinder könnten in gewissen Fächern separiert und in
anderen, wie zum Beispiel im Sport, im Zeichnen oder im Musikunterricht, in die
Regelklassen integriert werden.
„Passepartout-Effekt“ bei der Wahrnehmung
AntwortenLöschen(Kritik an der schulischen Integration, NZZ 28.2.2020)
Das Experiment schulische Total-Integration ist klar gescheitert. Es rächt sich nun, dass man diese theoretische Konstruktion nicht vorher in Versuchsklassen getestet hat, bevor man die bewährten Schulformen abgeschafft hat. Bei der Diskussion gibt es einen „Passepartout-Effekt“: eine Wahrnehmensverschiebung zwischen Schulpraktikern und Theoretikern. Während viele Praktiker kaum mehr fördern können, weil sie überfordert werden, behaupten Behörden und Fachhochschulen, eine inklusive Schule sei eine gute Schule.
Weil die Zahl der Schüler mit Sonderschulstatus massiv zu, statt abgenommen hat, wie die Reformer angenommen haben, fällt die Rechnung für den Steuerzahler massiv höher aus. Deshalb möchte man mittels «Pauschalressourcierung» den Schwarzen Peter auf die Gemeinden und Schulen abschieben und auf der Sekundarstufe durchmischte Lerngruppen einführen, weil das in der Primarschule, so gut funktioniere. Die höheren Kosten bringen zudem weniger Qualität (siehe Pisa 2019) und den Schülern weniger Bildung und Wohlbefinden. Leidtragende sind vorallem die schwächeren Schüler: Tag für Tag erleben zu müssen, dass man nichts versteht und nicht mitkommt, ist auch eine Form von Stigmatisierung und sicher kein Menschenrecht.