28. Februar 2020

"Integration ist gescheitert"

Die langjährige Primarlehrerin und FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois kritisiert die schulische Integration im Kanton Zürich scharf. Sie schlägt einen grundsätzlichen Richtungswechsel vor.

Yasmine Bourgeois ist Primarlehrerin und FDP-Gemeinderätin, Bild: zvg

FDP-Gemeinderätin Bourgeois: «In meinen Augen ist die ganze Aktion gescheitert»


Seit knapp zehn Jahren versucht der Kanton Zürich, Kinder mit Beeinträchtigungen vermehrt in Regelklassen zu integrieren. Wie gut ist das aus Ihrer Sicht gelungen?
In meinen Augen ist die ganze Aktion gescheitert. So, wie wir es jetzt machen, funktioniert die Integration nicht.

Warum?

Kinder, die dem Schulstoff nicht mal ansatzweise folgen können, sind in Regelklassen schlicht am falschen Ort. Für sie ist es kein Vergnügen, Tag für Tag zu erleben, dass sie nichts verstehen. Später arbeiten sie auch nicht in einem völlig ungeeigneten Beruf. Jemand mit einer Mathematikschwäche wird nie als Analyst tätig sein.

Ist die Volksschule aber nicht ein Ort, an dem Integration stattfinden sollte?
Integration findet nicht nur in der Schule statt, sie kann auch in Theatergruppen oder Sportvereinen stattfinden. Kinder mit Beeinträchtigungen können in Regelklassen ohnehin nicht so gefördert werden, wie es eigentlich möglich wäre. Die Integration nützt ihnen nichts. Sie sind in Kleinklassen oder Sonderschulen häufig besser aufgehoben.

Die Kinder können also nicht von der Integration profitieren?
Viele Sonderschullehrpersonen sagen mir, dass die Kinder aus den Regelklassen grosse Rückstände auf ihre gleichaltrigen Klassenkameraden aufweisen. Sie sind weniger selbständig und haben kein eigenes Lernverhalten, weil sie selten Lernerfolge erleben.

Wo liegen denn die Probleme im Regelunterricht?
Es wird ganz viel Zeit verbraten, in der diese Kinder unproduktiv sind. Man stellt zwar Hilfspersonal an, die für einzelne Lektionen pro Woche mit ihnen arbeiten. In allen anderen Schulstunden sind sie aber fast auf sich allein gestellt, da die Klassenlehrperson sich auch noch um andere Kinder kümmern muss. Niemand ist dann so richtig da für diese Kinder.

Brauchte es also mehr Ressourcen?
Die schulische Heilpädagogik in Regelklassen kostet heute schon alleine im Kanton Zürich rund 100 Millionen Franken pro Jahr. Die totalen Kosten für die Sonderschulen und die schulische Integration belaufen sich auf mehr als eine halbe Milliarde Franken pro Jahr. Das ist ganz grob geschätzt ein Viertel der Gesamtkosten für die Volksschule, der für lediglich 4 Prozent der Kinder verwendet wird. Das ist einfach nicht effizient.

Sollte es uns das nicht wert sein?
Wenn es etwas bringen würde, auf jeden Fall! Bildung darf etwas kosten. Aber wir buttern Geld in ein System, das nicht funktioniert. Die Bildung wird dadurch nicht besser, sie wird schlechter. Das geht auf Kosten aller Kinder.

Also auch von denjenigen ohne Beeinträchtigung?
Ja. Das Argument, dass die anderen Kinder nicht am Lernen gehindert werden, lasse ich nicht gelten. Aus meiner Erfahrung ist das der Fall. Es entsteht zu viel Unruhe im Klassenzimmer. Es ist ein Kommen und Gehen von Heilpädagoginnen, Zivildienstlern, Klassenassistentinnen und Therapeuten. Heute gibt es fast in jedem Klassenzimmer Gehörschutze für die Schülerinnen und Schüler.

Die Vermittlung von Lerninhalten ist die wichtigste Aufgabe der Volksschule. Doch auch soziale Kompetenzen, wie Toleranz, sollten gefördert werden.
Ja, aber doch nicht auf Kosten der integrierten Kinder. Und man muss sich schon fragen, ob zum Beispiel eine Mathematikstunde der geeignete Ort ist, um soziale Kompetenzen zu erwerben. Wir können uns in der Bildung eine Nivellierung nach unten nicht leisten.

Wie wird im Lehrerzimmer über integrative Förderung gesprochen?
Das ist völlig unterschiedlich. Viele haben Bedenken, den Kindern nicht gerecht zu werden. Andere sind der Meinung, dass wir in der Pflicht stehen und das der Gesellschaft schuldig sind.

Sie sind seit 16 Jahren Primarlehrerin. Haben Sie selber Erfahrungen mit integrativer Förderung gemacht?
Ja, natürlich, haufenweise. Zum Beispiel hatte ich einmal einen Jungen mit starken Lernbehinderungen in meiner Klasse, der dem Schulstoff überhaupt nicht folgen konnte. Aber auch sozial war er ganz in seiner eigenen Welt. Die anderen Kinder waren nett zu ihm, aber richtige Freunde hat er in der Klasse nicht gefunden.

Wie haben Sie reagiert?
Die Mutter des Jungen hat einen Wechsel an eine Sonderschule vorgeschlagen. Die Primarschule hat das aber mit der Begründung verweigert, dass wir ein integratives Schulsystem hätten. Schliesslich intervenierte die Mutter, seither besucht das Kind eine Privatschule.

Wie könnte die Situation aus Ihrer Sicht verbessert werden?
Kleinklassen wären eine Möglichkeit. Oder Formen der Teilintegration. Die Kinder könnten in gewissen Fächern separiert und in anderen, wie zum Beispiel im Sport, im Zeichnen oder im Musikunterricht, in die Regelklassen integriert werden.

1 Kommentar:

  1. „Passepartout-Effekt“ bei der Wahrnehmung
    (Kritik an der schulischen Integration, NZZ 28.2.2020)

    Das Experiment schulische Total-Integration ist klar gescheitert. Es rächt sich nun, dass man diese theoretische Konstruktion nicht vorher in Versuchsklassen getestet hat, bevor man die bewährten Schulformen abgeschafft hat. Bei der Diskussion gibt es einen „Passepartout-Effekt“: eine Wahrnehmensverschiebung zwischen Schulpraktikern und Theoretikern. Während viele Praktiker kaum mehr fördern können, weil sie überfordert werden, behaupten Behörden und Fachhochschulen, eine inklusive Schule sei eine gute Schule.

    Weil die Zahl der Schüler mit Sonderschulstatus massiv zu, statt abgenommen hat, wie die Reformer angenommen haben, fällt die Rechnung für den Steuerzahler massiv höher aus. Deshalb möchte man mittels «Pauschalressourcierung» den Schwarzen Peter auf die Gemeinden und Schulen abschieben und auf der Sekundarstufe durchmischte Lerngruppen einführen, weil das in der Primarschule, so gut funktioniere. Die höheren Kosten bringen zudem weniger Qualität (siehe Pisa 2019) und den Schülern weniger Bildung und Wohlbefinden. Leidtragende sind vorallem die schwächeren Schüler: Tag für Tag erleben zu müssen, dass man nichts versteht und nicht mitkommt, ist auch eine Form von Stigmatisierung und sicher kein Menschenrecht.

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