22. Februar 2020

Deutsch lernen – ein unterschätzter Grundauftrag der Volksschule


Zweifellos besteht zwischen den offenkundigen Sprachdefiziten vieler Vorschulkinder und dem PISA-Debakel bei den Schulabgängern im Deutsch ein Zusammenhang. Dennoch wäre es verfehlt, den Hebel nur bei der Frühförderung anzusetzen, wie dies allgemein gefordert wird. Lesen und Schreiben lernen ist ein Grundauftrag der Volksschule. Was so banal tönt, ist letztlich ein komplexer Lernprozess, der systematisch und fächerübergreifend gefördert werden muss.
Deutsch lernen – ein unterschätzter Grundauftrag der Volksschule, 9.2. von Hanspeter Amstutz


Sprachbildung durch Erzählen und anschauliches Erklären
Kinder haben Hunger nach Geschichten, bei denen sie in eine andere Welt eintauchen und sich mit Erzählfiguren identifizieren können. Dabei spielt die Rolle der Lehrerin eine zentrale Rolle. Kinder lesen im Gesicht und in der Gestik der Erzählerin, was sich in der Geschichte abspielt. Wortwahl und Tonfall der Sprache verstärken das Emotionale, aber auch die Logik des Handlungsablaufs muss für die Kinder einsichtig sein. Lebendige Erzählungen sind enorm sprachfördernd und Bausteine eines guten Sprachunterrichts.

Jugendliche öffnen sich für Neues, wenn ein von einer Sache begeisterter Lehrer ihnen ein Stück Welt anschaulich erklärt. Ihr Wortschatz kann so mit einer gewissen Leichtigkeit entscheidend erweitert werden. Eine auf wesentliche Inhalte beruhende sprachliche Horizonterweiterung in den Realienfächern ist die beste Voraussetzung für das Verstehen der meisten Texte. Wo eine Sache oder ein Geschehen fasziniert, wollen die Schüler die Zusammenhänge verstehen und darüber reden. Nicht selten sind es lesescheue Buben, die über einen fesselnden Realienunterricht zum sprachlichen Ausdruck finden.

Mehr Zeit in Sprachtraining und Aufsätze investieren
Eine Lehrperson muss kreative Übungsformen finden und zeigen, dass sie Freude an den sprachlichen Formen hat. Ähnlich wie ein guter Fussballtrainer beim Training auf dem Fussballplatz höchste Präsenz ausstrahlt, wird dies auch eine Lehrerin beim Sprachtraining Im Klassenzimmer tun. Sie wird sich nicht hinter einem Computer verstecken und sich mit der Rolle als Coach zufrieden geben. Wie die Erfahrung zeigt, macht gemeinsames Üben im Klassenverband den meisten Schülern durchaus Spass. Erst wenn diese primäre Unterrichtsform gelingt, kann individualisierendes Lernen mit digitalen Programmen eine gute Ergänzung sein. 

Aktuell wird erwartet, dass Jugendliche die Qualität und den Wahrheitsgehalt von Texten erkennen können. Doch wie gelingt es, diese wichtigen Fähigkeiten in der Schule zu fördern? Mit etwas Medienkunde allein ist es nicht getan. Wer hingegen selber zu einigen Themen differenziert etwas schreiben kann, wird generell eine kritischere Grundhaltung einnehmen. Jugendlichen  Vertrauen ins eigene Schreiben zu vermitteln ist für die Orientierung in der Medienwelt von zentraler Bedeutung. Der Weg zum eigenen schriftlichen Ausdruck fällt aber nicht allen Schülern leicht. Für Lehrpersonen bedeutet die Arbeit in der schulischen Schreibwerkstatt oft eine Herkulesarbeit. Doch die Korrekturarbeiten und individuellen Nachbesprechungen lohnen sich. Gelingt es einer Lehrerin in einem lebendigen Aufsatzunterricht einen Dialog mit den Schülern zu entwickeln, trägt dies in hohem Mass zur sprachlichen Sensibilisierung bei.

Ganzheitliche Deutschförderung hat Vorrang
Im mündlichen Bereich gibt es unzählige Möglichkeiten für ein tägliches Sprachbad. So lässt eine Ballade wie Fontanes John Maynard keinen Schüler gleichgültig, wenn das Gedicht packend vorgetragen, erhellend interpretiert und sprachlich-spielerisch von den Jugendlichen gestaltet wird. Für manche Schülerin geht eine Türe zur sprachlichen Form weit auf, wenn sie Goethes tollem Zauberlehrling zuhört. Ähnlich verhält es sich mit geeigneten Theaterstücken oder der gemeinsamen Klassenlektüre eines Jugendbuch-Klassikers. Anregende Bibliotheksbesuche und die Ermunterung zum Lesen in der Freizeit helfen mit, einen weiteren Zugang zur deutschen Sprache zu öffnen.

Deutsch lernen ist sehr zeitintensiv. Abkürzen kann man dabei nicht. Doch genau bei dieser Aussage wird es bildungspolitisch brisant. Vor allem die Primarschule ist arg unter Druck, ausserhalb der Bildungs-Kernbereiche noch eine ganze Reihe von Wunschzielen erreichen zu müssen. Wer die Schüler im Deutsch ganzheitlich fördern will, wird mit einer Geschichtsstunde pro Woche und dem standardisierten schmalen Zeitbudget beim Aufsatzunterricht nicht zufrieden sein. Nötig ist eine Neubewertung der  Prioritäten und eine stärkere Fokussierung des Bildungsprogramms auf die schulische Erstsprache.







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