Bei den letztjährigen
landesweiten GCSE-Prüfungen in Grossbritannien,
einer nationalen Prüfung für 15- und 16-Jährige, die ihre zukünftige
akademische Laufbahn bestimmt,
gab es eine sensationelle Überraschung: Die Brennpunktschule Michaela Community School aus dem
unterprivilegierten, mehrheitlich von ethnischen
Minderheiten bewohnten
Londoner Stadtbezirk Brent überflügelte die meisten britischen Schulen.
Brennpunktschule übertrifft alle, 9.2. von Peter Aebersold
Die 2014 gegründete Michaela Community School, die das erste Mal an den nationalen
Prüfungen teilnahm, hat Schülern, von denen viele aus benachteiligten Verhältnissen
kommen, zu einigen der besten Ergebnisse aller nicht selektiven staatlichen
Sekundarschulen des Landes verholfen.
Noch bemerkenswerter: Indem die Michaela Schule auf
den bewährten Klassenunterricht, auf geordnete Strukturen und traditionelle
Werte wie Autorität, Anstand und Disziplin setzte, schaffte sie den „Brexit“
aus der 50jährigen Geschichte erfolgloser progressiver Schulreformen in
Grossbritannien. Dabei setzte sie nicht nur das nie erreichte Ziel dieser
Reformen, die Chancengleichheit, in die Tat um, sondern erzielte vier Mal
bessere Ergebnisse als der nationale Durchschnitt.
Mehr
als die Hälfte (54%) aller Klassenstufen der Michaela Schule erreichte die Note
7 oder höher (entspricht dem alten A und A*), was mehr als doppelt so hoch war
wie der nationale Durchschnitt von 22%. Fast jeder Fünfte (18%) glänzte mit der
Höchstnote 9, verglichen mit 4,5% im Inland, und in der Mathematik hatte jedes
vierte Ergebnis die Höchstnote 9.
Erfahrungen mit dem staatlichen
Schulsystem
Die
Gründerin der Michaela Schule, Katherine Birbalsingh, hatte als erfolgreiche
Absolventin der Universität von Oxford auf eine glänzende Lehrerkarriere
verzichtet und begann in einer unterprivilegierten Londoner Schule zu
unterrichten. Sie stellte jedoch bald fest, dass an den staatlichen Schulen
vieles falsch lief: "Meine Erfahrung, die ich über ein Jahrzehnt lang in
fünf verschiedenen Schulen gemacht habe, hat mich zweifelsfrei davon überzeugt,
dass das System gescheitert ist, weil es arme Kinder arm hält."
Durch
ihren Blog To Miss With Love, wo sie seit 2007 anonym über ihre
Erfahrungen als Lehrerin an einer Inner City Sekundarschule in London schrieb,
wurde sie bald bekannt.
Der größte Verrat an unseren Kindern ist
unser Schweigen
Als
sie das Buch The Schools We Need and Why We Don't Have Them (Die
Schulen, die wir benötigen und warum wir sie nicht haben) des renommierten
amerikanischen Schulkritikers und Vertreters der traditionellen
Unterrichtsmethoden, E.D. Hirsch, las, wurde ihr bewusst, woran die Schule
krankte: „Bildung sei, den Kindern Wissen zu lehren und nicht Kompetenzen
(skills) beizubringen“. Für Hirsch ist der Grund, warum die meisten Studenten
am Community College und nicht an der Universität landen, nicht die angeborenen
Fähigkeiten oder der familiäre Hintergrund, sondern das für den akademischen
Aufstieg fehlende Grundwissen über kulturelle Begriffe und Konzepte.
Von
der Bildungspolitik der Labour Party enttäuscht, hielt sie eine Rede an der Conservative Party-Konferenz 2010, wo sie das
staatliche britische Bildungssystem kritisierte und die Bildungspolitik der
Partei unterstützte. Mit dieser Rede erlangte sie nationale Berühmtheit, verlor
aber ihren Job als stellvertretende Leiterin einer von der Regierung geführten
Schule im Süden Londons.
In
ihrem 2011 erschienenen Buch "To Miss with Love" schreibt
Birbalsingh: „Ich mache mir Sorgen, dass ich meinen Job verliere, weil ich
dieses Buch geschrieben habe. Als Berufsstand werden wir stark davon
abgehalten, uns gegen das System auszusprechen. Aber ich glaube, der größte
Verrat an unseren Kindern ist unser Schweigen. Wie eine Freundin von mir bei
der Lektüre sagte: "To Miss with Love" wagt es, das zu sagen, was wir
Lehrer immer denken, aber niemand sagt“.
Chancengleichheit für die
Unterprivilegierten
Birbalsingh
gründete ihre eigene Schule, eine gebührenfreie Gemeindeschule (kostenlose,
staatlich finanzierte, von örtlichen Behörden unabhängige „Freie Schule“) für Unterprivilegierte und wirtschaftlich
Benachteiligte im Londoner Bezirk Brent. Im September 2014 startete die Michaela
Community School mit 120 Schülern (für 2020 sind 840 Schüler
geplant). Die Schüler, die zur „Michaela Schule“ kamen, konnten sich
keine Privatschule leisten. Aber sie brauchten Ordnung und Disziplin im Leben,
die ihnen in ihren Familien und Gemeinschaften verzweifelt fehlte. Die Schule wird
von vielen Medien als „strikteste Schule Grossbritanniens“ verunglimpft.
Verglichen mit den Laisser-faire-Standards die man an britischen Schulen
beobachten kann, grenzt sie sich wohltuend ab.
Mit der neuen Michaela Sixth Form (letzte drei Jahre der
Sekundarschule) wird die Tradition der Schule in Bezug auf akademische
Exzellenz, hohe Standards und außergewöhnliche Ergebnisse für die Schüler fortgesetzt.
Für September 2020 werden Bewerber gesucht, die einen Studienplatz in Oxford,
Cambridge und anderen Spitzenuniversitäten in Großbritannien und der ganzen
Welt anstreben.
„Ich ließ
Hunderte von Kindern in meinem Leben scheitern, weil ich Teil eines Systems
war, das Kinder scheitern ließ. Ich habe mir vorgenommen, nie mehr ein weiteres
Kind scheitern zu lassen, und wenn mir das gelingt, dann hat die Michaela
Schule nicht nur sie gerettet, sondern auch mich. Es ist möglich. Wir müssen
nur anders denken.“ – Katharine
Birbalsingh, The Spectator 19. März 2016
Verantwortung, Rücksichtnahme und
Handlungsfähigkeit lehren
In
der Schulordnung wurde festgehalten, welches Benehmen und Verhalten von den
Schülern erwartet wurde. Birbalsingh hatte die Erfahrung gemacht, dass wenn
eine Schule zu freizügig ist und zu viele Ausnahmen zulässt, sie Gefahr läuft,
bei ihren Schülern eher Hilflosigkeit, Egoismus oder Abhängigkeit zu schaffen
als Verantwortung, Rücksichtnahme und Handlungsfähigkeit. Sie meint, wenn eine
Schule ihre Standards für ärmere Schüler aufgrund ihrer Armut oder ihres
schwierigen Heimlebens herabsetzt, erweise sie ihnen einen schlechten Dienst
und erwecke den Eindruck, dass sie nicht genug an sie glaube.
Londons
damaliger Bürgermeister Boris Johnson besuchte 2015
die Michela School: “What an incredible experience. This is one of the most extraordinary schools I have seen”.
OECD-Direktor
Andreas Schleicher meinte, beeindruckt von dem Besuch der erfolgreichen
Michaela Schule im November 2019: „Vielleicht ist es an der Zeit, den
lehrergeleiteten Unterricht und das schülerorientierte Lernen nicht mehr
gegeneinander auszuspielen und zu behaupten, das eine sei altmodisch und
erdrückend, das andere zukunftsorientiert und befähigend. Beide Ansätze haben
eindeutig ihren Platz."
Zu
Katharine Birbalsingh
Birbalsingh wurde in Neuseeland als ältere von zwei
Töchtern des Lehrers Frank Birbalsingh aus Guyana und seiner
Frau Norma, einer Krankenschwester aus Jamaika, geboren
und ist in Kanada
aufgewachsen. Ihr Großvater Ezrom S. Birbalsingh war Leiter der kanadischen
Missionsschule in Better Hope, Demerara, Guyana. Mit fünfzehn Jahren
übersiedelte sie ins Vereinigte Königreich, wo ihr Vater an der University of Warwick als Gaststipendiat
weilte.
Sie
studierte Französisch und Philosophie an der University of Oxford. Nach ihrem Abschluss
ließ sie sich im Vereinigten Königreich nieder. Sie schreibt regelmäßig für den
Daily
Telegraph. Ihr im März 2011 veröffentlichtes Buch To Miss with Love,
das ihre Erlebnisse während eines Schuljahres beschreibt, wurde sofort zu einem
Bestseller:
Es wurde zum Buch der Woche gewählt und von Radio BBC
4 als Serie ausgestrahlt. 2017 wurde sie auf Anthony Seldons Liste
der 20 einflussreichsten Personen im britischen Bildungswesen aufgeführt. 2019
erhielt sie den Contrarian
Prize: die Schulleiterin, die es wagte, das Bildungssystem herauszufordern,
gewinnt den Contrarian-Preis.
Quellen:
https://oecdedutoday.com/working-hard-and-being-kind/ Bericht von Andreas Schleicher OECD
Katherine Birbalsingh et al.: Battle Hymn of the
Tiger Teachers: The Michaela Way. John Catt Educational Ltd, Woodbridge
(Suffolk) 2016, ISBN 978-1909717961
Katharine Birbalsingh et al.: Michaela: The Battle
For Western Education. Tiger Teachers Take Two: The Michaela Way.
John Catt Educational Ltd, Woodbridge (Suffolk) 2020, ISBN 978-1-912906-21-5
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