26. Januar 2020

Sportlehrer beklagen ineffizienten Unterricht


Eine Stunde Bewegung pro Tag empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Kinder und Jugendliche. Das erreichen längst nicht alle. Vor allem Smartphones, Computerspiele und Fernseher gelten laut Fachleuten als Ursachen für die träge Jugend. Das können die drei Stunden Schulsport pro Woche, die in der Schweiz an der Volksschule bundesgesetzlich vorgeschrieben sind, nicht ausgleichen. «Diese drei Stunden sind das absolute Minimum», sagt Ruedi Schmid, Sportlehrer und Präsident des Verbands für Sport in der Schule (SVSS): «Besser wären vier Stunden. Aber das ist illusorisch.»
Vokabeln büffeln und dabei balancieren, Sonntagszeitung, 26.1. von Fabienne Riklin und Nadja Pastega

Der Grund: Für einen Ausbau des Schulsports fehlt das Personal – und in einigen Gemeinden die Turnhallen. Kommt hinzu, dass im Turnunterricht wertvolle Zeit verloren geht: umziehen, Geräte aufbauen, Übungen erklären, in der Reihe stehen, bis man drankommt, einmal über den Bock springen, Geräte wieder abbauen – vieles im Turnunterricht hat mit Sport nichts zu tun.

Nur ein Bruchteil der Zeit bleibt zum Turnen
Wie wenig Bewegung dort stattfindet, hat Jürgen Kühnis untersucht. Der Professor der Pädagogischen Hochschule Schwyz hat erhoben, wie viel Zeit Fünftklässler tatsächlich auf Trab sind. Ergebnis: In einer Doppellektion von 90 Minuten fielen 22 Minuten für Erklärungen weg, fast 13 Minuten fürs Umziehen sowie den Raumwechsel und 6 Minuten fürs Auf- sowie Abbauen von Geräten.

In den verbleibenden 49 Minuten fielen weitere inaktive Leerzeiten an, wie die 2017 durchgeführte Pilotstudie zeigt. Zum Beispiel, weil nicht alle Kinder gleichzeitig auf dem Spielfeld herumrennen können und immer wieder warten müssen. Insgesamt waren die Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt gerade mal 19 Minuten aktiv.
Daran hat sich laut Kühnis bis heute nicht viel geändert: «Eine Bewegungszeit von 20 bis 40 Prozent der effektiven Unterrichtszeit ist gemäss heutiger Befundlage eine realistische Orientierung.»

Ganz vermeiden lassen sich die Zeiteinbussen nicht. Aber durch eine effiziente Organisation der Turnlektionen könne man die Leerzeiten zumindest reduzieren, sagt Kühnis. Der Verband der Sportlehrer bietet bereits Weiterbildungskurse an, um aufzuzeigen, wie mit guter Planung möglichst viel Zeit für sportliche Aktivitäten bleibt.

Doch auch mit optimaler Organisation reicht der Schulsport heute nicht mehr aus. «Die Schule allein kann den bewegungsarmen Alltag der Jugendlichen nicht kompensieren», sagt Christoph Lauener vom Bundesamt für Sport (Baspo). Für SSVS-Präsident Ruedi Schmid wäre es daher wichtig, «Bewegung in andere Unterrichtsstunden einzubauen und Projekte zur Bewegungsförderung schweizweit auszubauen».

Das Baspo hat deshalb das Programm «Schule bewegt» lanciert, um die körperlichen Aktivitäten aus den Turnhallen in die Klassenzimmer zu tragen und damit auszubauen. Das Programm liefert den Lehrerinnen und Lehrern Ideen, wie sich die Schüler im normalen «Kopfunterricht» bewegen können, statt nur auf ihren Stühlen zu sitzen: auf einem Balken hin- und hergehen und dabei Französischwörtchen büffeln, auf einem Bein stehen und Mathe-Aufgaben lösen oder auf einer Rolle balancieren und einen Text über Napoleon lesen.

Vor zwei Jahren hat Swiss Olympic das Programm vom ­Baspo übernommen und «Schule bewegt» als Onlineplattform aufgebaut. Dort sind mittlerweile 6600 Lehrpersonen registriert, die in ihren Klassenzimmern bewegten Unterricht durchführen. Insgesamt lernen bereits 10 Prozent der Schulkinder mit dieser Methode, schätzt Swiss Olympic.

Die Muskelaktivität weckt das Gehirn
Geschult werden die Lehrpersonen unter anderem von Patrick Fust. «Ich habe schon an rund 150 Schulen in der gesamten Deutschschweiz diese Kurse durchgeführt», sagt Fust, «und wende das im Unterricht auch selber an.» Der Vorteil der körperlichen Aktivität liege nicht nur darin, dass sich die Kinder und Jugendlichen auch ausserhalb des Sportunterrichts bewegen, sagt Fust: «Es ist nachgewiesen, dass man auch besser lernt, wenn man sich bewegt. Durch die körperliche Aktivität macht man das Gehirn wach.»

Sportpädagogikdozent Jürgen Kühnis stimmt zu: «Studien zeigen, dass sich bewegtes Lernen und Bewegungspausen positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit und das Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern auswirken.»

Dass sich die Jugend zu wenig bewegt, beschäftigt inzwischen auch die Bundespolitik. Der Thurgauer CVP-Nationalrat Christian Lohr fordert den Bundesrat in einer Motion auf, die Einführung von täglichen Bewegungsaktivitäten für Kinder und Jugendliche zu ­prüfen.


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