Eine Stunde Bewegung pro Tag empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation
(WHO) für Kinder und Jugendliche. Das erreichen längst nicht alle. Vor allem
Smartphones, Computerspiele und Fernseher gelten laut Fachleuten als Ursachen
für die träge Jugend. Das können die drei Stunden Schulsport pro Woche, die in
der Schweiz an der Volksschule bundesgesetzlich vorgeschrieben sind, nicht
ausgleichen. «Diese drei Stunden sind das absolute Minimum», sagt Ruedi Schmid,
Sportlehrer und Präsident des Verbands für Sport in der Schule (SVSS): «Besser
wären vier Stunden. Aber das ist illusorisch.»
Vokabeln büffeln und dabei balancieren, Sonntagszeitung, 26.1. von Fabienne Riklin und Nadja Pastega
Der Grund: Für einen Ausbau des Schulsports fehlt das Personal – und in
einigen Gemeinden die Turnhallen. Kommt hinzu, dass im Turnunterricht wertvolle
Zeit verloren geht: umziehen, Geräte aufbauen, Übungen erklären, in der Reihe
stehen, bis man drankommt, einmal über den Bock springen, Geräte wieder abbauen
– vieles im Turnunterricht hat mit Sport nichts zu tun.
Nur ein Bruchteil der Zeit bleibt zum Turnen
Wie wenig Bewegung dort stattfindet, hat Jürgen Kühnis untersucht. Der
Professor der Pädagogischen Hochschule Schwyz hat erhoben, wie viel Zeit
Fünftklässler tatsächlich auf Trab sind. Ergebnis: In einer Doppellektion von
90 Minuten fielen 22 Minuten für Erklärungen weg, fast 13 Minuten fürs Umziehen
sowie den Raumwechsel und 6 Minuten fürs Auf- sowie Abbauen von Geräten.
In den verbleibenden 49 Minuten fielen weitere inaktive Leerzeiten an,
wie die 2017 durchgeführte Pilotstudie zeigt. Zum Beispiel, weil nicht alle
Kinder gleichzeitig auf dem Spielfeld herumrennen können und immer wieder
warten müssen. Insgesamt waren die Schülerinnen und Schüler im Durchschnitt
gerade mal 19 Minuten aktiv.
Daran hat sich laut Kühnis bis heute nicht viel geändert: «Eine
Bewegungszeit von 20 bis 40 Prozent der effektiven Unterrichtszeit ist gemäss
heutiger Befundlage eine realistische Orientierung.»
Ganz vermeiden lassen sich die Zeiteinbussen nicht. Aber durch eine
effiziente Organisation der Turnlektionen könne man die Leerzeiten zumindest
reduzieren, sagt Kühnis. Der Verband der Sportlehrer bietet bereits
Weiterbildungskurse an, um aufzuzeigen, wie mit guter Planung möglichst viel
Zeit für sportliche Aktivitäten bleibt.
Doch auch mit optimaler Organisation reicht der Schulsport heute nicht
mehr aus. «Die Schule allein kann den bewegungsarmen Alltag der Jugendlichen
nicht kompensieren», sagt Christoph Lauener vom Bundesamt für Sport (Baspo).
Für SSVS-Präsident Ruedi Schmid wäre es daher wichtig, «Bewegung in andere
Unterrichtsstunden einzubauen und Projekte zur Bewegungsförderung schweizweit
auszubauen».
Das Baspo hat deshalb das Programm «Schule bewegt» lanciert, um die
körperlichen Aktivitäten aus den Turnhallen in die Klassenzimmer zu tragen und
damit auszubauen. Das Programm liefert den Lehrerinnen und Lehrern Ideen, wie
sich die Schüler im normalen «Kopfunterricht» bewegen können, statt nur auf ihren
Stühlen zu sitzen: auf einem Balken hin- und hergehen und dabei
Französischwörtchen büffeln, auf einem Bein stehen und Mathe-Aufgaben lösen
oder auf einer Rolle balancieren und einen Text über Napoleon lesen.
Vor zwei Jahren hat Swiss Olympic das Programm vom Baspo übernommen und
«Schule bewegt» als Onlineplattform aufgebaut. Dort sind mittlerweile 6600
Lehrpersonen registriert, die in ihren Klassenzimmern bewegten Unterricht
durchführen. Insgesamt lernen bereits 10 Prozent der Schulkinder mit dieser Methode,
schätzt Swiss Olympic.
Die Muskelaktivität weckt das Gehirn
Geschult werden die Lehrpersonen unter anderem von Patrick Fust. «Ich
habe schon an rund 150 Schulen in der gesamten Deutschschweiz diese Kurse
durchgeführt», sagt Fust, «und wende das im Unterricht auch selber an.» Der
Vorteil der körperlichen Aktivität liege nicht nur darin, dass sich die Kinder
und Jugendlichen auch ausserhalb des Sportunterrichts bewegen, sagt Fust: «Es
ist nachgewiesen, dass man auch besser lernt, wenn man sich bewegt. Durch die
körperliche Aktivität macht man das Gehirn wach.»
Sportpädagogikdozent Jürgen Kühnis stimmt zu: «Studien zeigen, dass sich
bewegtes Lernen und Bewegungspausen positiv auf die kognitive
Leistungsfähigkeit und das Lernverhalten von Schülerinnen und Schülern
auswirken.»
Dass sich die Jugend zu wenig bewegt, beschäftigt inzwischen auch die
Bundespolitik. Der Thurgauer CVP-Nationalrat Christian Lohr fordert den
Bundesrat in einer Motion auf, die Einführung von täglichen
Bewegungsaktivitäten für Kinder und Jugendliche zu prüfen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen