Um die Chancengerechtigkeit in Berner Schulen ist es schlecht bestellt.
Das liegt an den Vorurteilen mancher Lehrer – und vor allem an den Eltern, wie
ein Besuch im Berner Bethlehemquartier zeigt.
Die Lehrerin Mai Ling Parente liebt das Multikulturelle, Bild: Raphael Moser)
Sind Kinder in Multikulti-Klassen benachteiligt? Berner Oberländer, 27.1. von Mirjam Comtesse
Die Drittklässler trudeln langsam im Schulhaus Bethlehemacker in der
Stadt Bern ein. Ein Kind nach dem anderen gibt der Lehrerin Mai Ling Parente,
die südamerikanische Wurzeln hat, die Hand. Einige stellen sich sogar artig der
Journalistin vor, die heute zu Besuch ist. Viele von ihnen haben noch nasse
Haare – in der ersten Lektion am Morgen war Schwimmunterricht.
Mühe mit Deutsch
Der Schulkreis Bethlehem ist bekannt als Schmelztiegel der Kulturen.
Viele Kinder aus Migrantenfamilien besuchen hier den Unterricht. Auch die
Hälfte der insgesamt achtzehn Kinder in Mai Ling Parentes Klasse hat einen
ausländischen Hintergrund. Die Eltern stammen unter anderem aus Vietnam, Eritrea,
Pakistan, Mazedonien und der Türkei. Eine Herausforderung?
Die Lehrerin lacht: «Ich liebe das Multikulturelle. Es ist zwar
anstrengend, Kinder so unterschiedlicher Herkunft zu unterrichten, aber ich
empfinde es auch als Bereicherung.» Dass die 30-Jährige ihre Arbeit so positiv
betrachtet, erklärt wohl auch ihre Offenheit: Sie war als einzige von mehreren
Lehrerinnen und Lehrern in ähnlichen Konstellationen bereit, sich für einen
Artikel über die Schulter blicken zu lassen.
Eltern entscheidend
Jetzt steht das Fach NMG an – Natur – Mensch – Gesellschaft. Mai Ling
Parente verteilt Blätter zum Thema «Steinzeit». Im Text sind Lücken, welche die
Kinder mit den richtigen Begriffen füllen sollen. Schwierig! Das
Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler ist begrenzt. Wörter wie
«Meilenstein», «verständigen» oder «Vorfahre» sagen ihnen wenig.
Beim nächsten Fach, Mathematik, haben ebenfalls einige Mädchen und Buben
Mühe. Ihnen fehlt weniger die mathematische Intelligenz als die
Sprachkompetenz, die Aufgabenstellungen überhaupt zu verstehen. Ein krasser
Nachteil, wenn sie irgendwann auch in höheren Stufen mithalten sollen.
Die Lehrerin betont, dass die Kinder mit Schwierigkeiten nicht unbedingt
diejenigen sind, die daheim kein Deutsch sprechen. Vielmehr handelt es sich um
die Schülerinnen und Schüler, die wenig Unterstützung erhalten von ihren
Eltern. Denn wer gefördert wird, lernt in der Regel schnell Deutsch.
Gleichzeitig hat auch manches Schweizer Kind nur ein rudimentäres
Leseverständnis, weil es daheim kaum mit geschriebener Sprache in Berührung
kommt. Nein, die Trennlinie verläuft nicht zwischen Schweizern und Migranten –
sondern zwischen Kindern aus Akademikerfamilien und solchen aus bildungsfernen
Schichten.
Das Problem ist erkannt. Der Bildungssoziologe Rolf Becker von der
Universität Bern sagt: «Der Erfolg im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt
hängt nicht vom Migrationshintergrund per se ab, sondern vom Bildungsniveau,
von den Sprachfertigkeiten, dem sozialen Netzwerk mit einheimischen Bekannten
und den sozioökonomischen Ressourcen. Dabei sind Familien und Personen mit
Migrationserfahrung oftmals im Nachteil.»
Ehrgeiz berechtigt
Fakt ist aber auch: Sind in einer Klasse viele Kinder aus sozial
schwächeren Familien, dann wirkt sich das auf den gesamten Unterricht aus. Mai
Ling Parente sagt: «Ich muss mehr erklären, bevor wir mit den eigentlichen
Aufgaben beginnen können.» So komme sie weniger schnell voran. Da stellt sich
natürlich die Frage: Haben Schweizer Mittelstandskinder, die eine solche Klasse
besuchen, einen Nachteil? Immerhin lernen sie in der gleichen Zeit weniger als
Gspänli in einer Schule für Privilegiertere.
«Nein», behauptet Rolf Becker. «Die Migrantenkinder profitieren von den
Einheimischen, aber die Leistungen der Einheimischen leiden nicht zwingend
unter den Migranten.» Dies belegen mehrere Studien: Schweizer schneiden in
heterogenen Klassen etwa gleich gut ab wie in homogenen.
Aber gleichzeitig zeigt die Forschung – und das dürfte für viele Eltern
wichtiger sein –, dass die Kinder in dieser Situation nicht ihr maximales
Potenzial entfalten können. Denn so wie Migrantenkinder von den stärkeren
Schweizer Kindern lernen, so können Schweizer Kinder ihre Leistungen
verbessern, wenn sie mit vielen besonders starken Schülerinnen und Schülern
zusammen sind.
Für ambitionierte Mütter und Väter spricht also alles dafür, ihre Söhne
und Töchter in eine solche Schule zu schicken. Und das tun sie auch: Es ist ein
verbreitetes Phänomen, dass gut situierte Eltern die multikulturellen Quartiere
verlassen, sobald der Schuleintritt des Nachwuchses näher rückt.
Wollen alle gleiche Chancen?
Es ist nachvollziehbar, dass Mütter und Väter ihren Kindern die
bestmöglichen Bedingungen bieten wollen. In einer Wettbewerbsgesellschaft gilt
es, sich gegen Konkurrenz durchzusetzen. Gerecht ist das nicht. Da es gleiche
Chancen für alle ohnehin nicht gibt, spricht man heute von Chancengerechtigkeit
als Ziel.
Die Besten sollen es an die Spitze schaffen. Das wäre
volkswirtschaftlich betrachtet am sinnvollsten. Aber es ist nun mal nicht im
Interesse aller. Denn dies würde bedeuten, dass manche ihren vielleicht
ungerechtfertigten Vorsprung aufgeben müssten.
«Sozial privilegierte Gruppen verhalten sich so, dass sie ihre Vorzüge
erhalten. Dadurch stellen sie oftmals andere, nicht privilegierte Gruppen
schlechter», sagt der Berner Bildungssoziologe Rolf Becker.
Gut ausgebildete Eltern sind kaum bereit, einen Schritt zurück zu
machen. Lehrerinnen und Lehrer erzählen davon, wie schwierig es manchmal nur
schon bei Kleinigkeiten ist, sich gegenüber Akademikerfamilien durchzusetzen.
Mai Ling Parente vom Schulhaus Bethlehemacker betont: «Das ist der
Vorteil in meiner Klasse: Eltern stellen mein Urteil kaum infrage.» An anderen
Schulen habe sie dagegen schon erlebt, dass sie sich für ein einzelnes
Arbeitsblatt habe rechtfertigen müssen.
Erwartungen haben Einfluss
Das Problem liegt aber nicht allein bei den Eltern. Auch Lehrerinnen und
Lehrer tragen – in der Regel unabsichtlich – zur Unfairness bei. Dies hat das
Zentrum Lernen und Sozialisation der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz
nachgewiesen. Es führt das Forschungsprojekt Scala mit einer Laufzeit bis 2020
durch.
Daran nehmen über tausend Schülerinnen und Schüler aus sechs Kantonen –
darunter Bern – teil. Die bisherigen Ergebnisse zeigen: Auch wenn Kinder
gleich gute Leistungen erbringen, erwarten Lehrpersonen von Kindern aus
Arbeiterfamilien weniger als von Akademikerkindern.
Dies wirkt wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Denn wer viel
aufgerufen und gefördert wird, der setzt sich mehr ein und lernt so schneller.
«Dadurch geht die Schere noch weiter auseinander», sagt Markus Neuenschwander,
Leiter des Zentrums Lernen und Sozialisation. Er und sein Team haben deshalb
Weiterbildungsangebote entwickelt, in denen Lehrkräfte lernen, sich ihrer
eigenen möglichen Vorurteile bewusst zu werden.
Mai Ling Parente am Schulhaus Bethlehemacker hat keinen dieser Kurse besucht,
aber sie ist sich der Gefahr bewusst, einzelne Kinder aus Versehen zu
bevorzugen. Ihr Rezept dagegen ist simpel, aber einleuchtend: «Ich erwarte von
allen viel», sagt sie.
Pause!
Heterogene Klassen wie jene von Mai Ling Parente sind für Lehrerinnen
und Lehrer eine Herausforderung, weil sie jedes Kind dort abholen müssen, wo es
steht. «Für die Kinder ist es aber ein Vorteil, weil sie voneinander lernen»,
sagt Markus Neuenschwander.
Das Verständnis für andere Kulturen hilft auch später im Arbeitsleben.
Und er ist überzeugt: «Wenn Lehrerinnen und Lehrer akzeptieren, dass nicht
jedes Kind gleich viel erreichen kann, dann können sie mit individuellen
Unterschieden besser umgehen.» Sie fühlen sich weniger unter Druck, bestimmte
Vorgaben zu erfüllen.
Bei Mai Ling Parentes Drittklässlern zeigen sich inzwischen erste
Ermüdungserscheinungen. Sie haben genug vom konzentrierten Arbeiten, werden
unruhig. Schnell ruft die Lehrerin alle nach vorn in den Kreis für ein Spiel.
Die Mädchen und Buben werfen sich einen Ball zu, es wird viel gelacht.
Danach sind die Kinder wieder bereit für die nächsten Rechnungen – bis
schliesslich die Pausenglocke läutet. Für einmal sind alle gleich – sowohl
Migranten-, Arbeiter- als vielleicht auch einige Akademikerkinder rennen so schnell
wie möglich nach draussen.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen