27. Januar 2020

Sind Kinder in Multikulti-Klassen benachteiligt?


Um die Chancengerechtigkeit in Berner Schulen ist es schlecht bestellt. Das liegt an den Vorurteilen mancher Lehrer – und vor allem an den Eltern, wie ein Besuch im Berner Bethlehemquartier zeigt.
Die Lehrerin Mai Ling Parente liebt das Multikulturelle, Bild: Raphael Moser)
Sind Kinder in Multikulti-Klassen benachteiligt? Berner Oberländer, 27.1. von Mirjam Comtesse


Die Drittklässler trudeln langsam im Schulhaus Bethlehemacker in der Stadt Bern ein. Ein Kind nach dem anderen gibt der Lehrerin Mai Ling Parente, die südamerikanische Wurzeln hat, die Hand. Einige stellen sich sogar artig der Journalistin vor, die heute zu Besuch ist. Viele von ihnen haben noch nasse Haare – in der ersten Lektion am Morgen war Schwimmunterricht.

Mühe mit Deutsch
Der Schulkreis Bethlehem ist bekannt als Schmelztiegel der Kulturen. Viele Kinder aus Migrantenfamilien besuchen hier den Unterricht. Auch die Hälfte der insgesamt achtzehn Kinder in Mai Ling Parentes Klasse hat einen ausländischen Hintergrund. Die Eltern stammen unter anderem aus Vietnam, Eritrea, Pakistan, Mazedonien und der Türkei. Eine Herausforderung?

Die Lehrerin lacht: «Ich liebe das Multikulturelle. Es ist zwar anstrengend, Kinder so unterschiedlicher Herkunft zu unterrichten, aber ich empfinde es auch als Bereicherung.» Dass die 30-Jährige ihre Arbeit so positiv betrachtet, erklärt wohl auch ihre Offenheit: Sie war als einzige von mehreren Lehrerinnen und Lehrern in ähnlichen Konstellationen bereit, sich für einen Artikel über die Schulter blicken zu lassen.

Eltern entscheidend
Jetzt steht das Fach NMG an – Natur – Mensch – Gesellschaft. Mai Ling Parente verteilt Blätter zum Thema «Steinzeit». Im Text sind Lücken, welche die Kinder mit den richtigen Begriffen füllen sollen. Schwierig! Das Leseverständnis der Schülerinnen und Schüler ist begrenzt. Wörter wie «Meilenstein», «verständigen» oder «Vorfahre» sagen ihnen wenig.
Beim nächsten Fach, Mathematik, haben ebenfalls einige Mädchen und Buben Mühe. Ihnen fehlt weniger die mathematische Intelligenz als die Sprachkompetenz, die Aufgabenstellungen überhaupt zu verstehen. Ein krasser Nachteil, wenn sie irgendwann auch in höheren Stufen mithalten sollen.

Die Lehrerin betont, dass die Kinder mit Schwierigkeiten nicht unbedingt diejenigen sind, die daheim kein Deutsch sprechen. Vielmehr handelt es sich um die Schülerinnen und Schüler, die wenig Unterstützung erhalten von ihren Eltern. Denn wer gefördert wird, lernt in der Regel schnell Deutsch.

Gleichzeitig hat auch manches Schweizer Kind nur ein rudimentäres Leseverständnis, weil es daheim kaum mit geschriebener Sprache in Berührung kommt. Nein, die Trennlinie verläuft nicht zwischen Schweizern und Migranten – sondern zwischen Kindern aus Akademikerfamilien und solchen aus bildungsfernen Schichten.

Das Problem ist erkannt. Der Bildungssoziologe Rolf Becker von der Universität Bern sagt: «Der Erfolg im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt hängt nicht vom Migrationshintergrund per se ab, sondern vom Bildungsniveau, von den Sprachfertigkeiten, dem sozialen Netzwerk mit einheimischen Be­kannten und den sozioökonomischen Ressourcen. Dabei sind Familien und Personen mit Migrationserfahrung oftmals im Nachteil.»

Ehrgeiz berechtigt
Fakt ist aber auch: Sind in einer Klasse viele Kinder aus sozial schwächeren Familien, dann wirkt sich das auf den gesamten Unterricht aus. Mai Ling Parente sagt: «Ich muss mehr erklären, bevor wir mit den eigentlichen Aufgaben beginnen können.» So komme sie weniger schnell voran. Da stellt sich natürlich die Frage: Haben Schweizer Mittelstandskinder, die eine solche Klasse besuchen, einen Nachteil? Immerhin lernen sie in der gleichen Zeit weniger als Gspänli in einer Schule für Privilegiertere.

«Nein», behauptet Rolf Becker. «Die Migrantenkinder profitieren von den Einheimischen, aber die Leistungen der Einheimischen leiden nicht zwingend unter den Migranten.» Dies belegen mehrere Studien: Schweizer schneiden in heterogenen Klassen etwa gleich gut ab wie in homogenen.

Aber gleichzeitig zeigt die Forschung – und das dürfte für viele Eltern wichtiger sein –, dass die Kinder in dieser Situation nicht ihr maximales Potenzial entfalten können. Denn so wie Migrantenkinder von den stärkeren Schweizer Kindern lernen, so können Schweizer Kinder ihre Leistungen verbessern, wenn sie mit vielen besonders starken Schülerinnen und Schülern zusammen sind.

Für ambitionierte Mütter und Väter spricht also alles dafür, ihre Söhne und Töchter in eine solche Schule zu schicken. Und das tun sie auch: Es ist ein verbreitetes Phänomen, dass gut situierte Eltern die multikulturellen Quartiere verlassen, sobald der Schuleintritt des Nachwuchses näher rückt.

Wollen alle gleiche Chancen?
Es ist nachvollziehbar, dass Mütter und Väter ihren Kindern die bestmöglichen Bedingungen bieten wollen. In einer Wettbewerbsgesellschaft gilt es, sich gegen Konkurrenz durchzusetzen. Gerecht ist das nicht. Da es gleiche Chancen für alle ohnehin nicht gibt, spricht man heute von Chancengerechtigkeit als Ziel.

Die Besten sollen es an die Spitze schaffen. Das wäre volkswirtschaftlich betrachtet am sinnvollsten. Aber es ist nun mal nicht im Interesse aller. Denn dies würde bedeuten, dass manche ihren vielleicht ungerecht­fertigten Vorsprung aufgeben müssten.

«Sozial privilegierte Gruppen verhalten sich so, dass sie ihre Vorzüge erhalten. Dadurch stellen sie oftmals andere, nicht privilegierte Gruppen schlechter», sagt der Berner Bildungssoziologe Rolf Becker.

Gut ausgebildete Eltern sind kaum bereit, einen Schritt zurück zu machen. Lehrerinnen und Lehrer erzählen davon, wie schwierig es manchmal nur schon bei Kleinigkeiten ist, sich gegenüber Akademikerfamilien durchzusetzen.

Mai Ling Parente vom Schulhaus Bethlehemacker betont: «Das ist der Vorteil in meiner Klasse: Eltern stellen mein Urteil kaum infrage.» An anderen Schulen habe sie dagegen schon erlebt, dass sie sich für ein einzelnes Arbeitsblatt habe rechtfertigen müssen.

Erwartungen haben Einfluss
Das Problem liegt aber nicht allein bei den Eltern. Auch Lehrerinnen und Lehrer tragen – in der Regel unabsichtlich – zur Unfairness bei. Dies hat das Zentrum Lernen und Sozialisation der Pädagogischen Hochschule Nordwestschweiz nachgewiesen. Es führt das Forschungsprojekt Scala mit einer Laufzeit bis 2020 durch.

Daran nehmen über tausend Schülerinnen und Schüler aus sechs Kantonen – darunter Bern – teil. Die bisherigen Er­gebnisse zeigen: Auch wenn Kinder gleich gute Leistungen erbringen, erwarten Lehrpersonen von Kindern aus Arbeiterfamilien weniger als von Akademikerkindern.

Dies wirkt wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Denn wer viel aufgerufen und gefördert wird, der setzt sich mehr ein und lernt so schneller. «Dadurch geht die Schere noch weiter auseinander», sagt Markus Neuenschwander, Leiter des Zentrums Lernen und Sozialisation. Er und sein Team haben deshalb Weiterbildungsangebote entwickelt, in denen Lehrkräfte lernen, sich ihrer eigenen möglichen Vorurteile bewusst zu werden.
Mai Ling Parente am Schulhaus Bethlehemacker hat keinen dieser Kurse besucht, aber sie ist sich der Gefahr bewusst, einzelne Kinder aus Versehen zu bevorzugen. Ihr Rezept dagegen ist simpel, aber einleuchtend: «Ich erwarte von allen viel», sagt sie.

Pause!
Heterogene Klassen wie jene von Mai Ling Parente sind für Lehrerinnen und Lehrer eine Herausforderung, weil sie jedes Kind dort abholen müssen, wo es steht. «Für die Kinder ist es aber ein Vorteil, weil sie voneinander lernen», sagt Markus Neuenschwander.
Das Verständnis für andere Kulturen hilft auch später im Arbeitsleben. Und er ist überzeugt: «Wenn Lehrerinnen und Lehrer akzeptieren, dass nicht jedes Kind gleich viel er­reichen kann, dann können sie mit individuellen Unterschieden besser umgehen.» Sie fühlen sich weniger unter Druck, bestimmte Vorgaben zu erfüllen.

Bei Mai Ling Parentes Drittklässlern zeigen sich inzwischen erste Ermüdungserscheinungen. Sie haben genug vom konzen­trierten Arbeiten, werden unruhig. Schnell ruft die Lehrerin alle nach vorn in den Kreis für ein Spiel. Die Mädchen und Buben werfen sich einen Ball zu, es wird viel gelacht.

Danach sind die Kinder wieder bereit für die nächsten Rechnungen – bis schliesslich die Pausenglocke läutet. Für einmal sind alle gleich – sowohl Migranten-, Arbeiter- als vielleicht auch einige Akademikerkinder rennen so schnell wie möglich nach draussen.


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