6. Januar 2020

PISA-Wunderkind Finnland


Vor zwanzig Jahren katapultierte die erste Pisa-Studie Finnland als Klassenprimus ins internationale Rampenlicht. Man fragte sich, was dieses kleine Volk im Norden bei seinem Bildungswesen besser mache als andere. Die Antworten fallen überraschend einfach aus. 
Das finnische Bildungssystem - ein Wunder? NZZ, 6.1. von Rudolf Hermann



Augenschein in Kalasatama, einem früheren Industriebezirk am alten Fischereihafen von Helsinki. Ein neues Stadtviertel ist im Aufbau; Helsinki erprobt hier die Smart City. Die Wohnungen sind modern und chic, auf den ersten Blick wohl eher etwas für das dickere Portemonnaie. Ins Bild passt auch die 2016 erstellte, architektonisch anspruchsvoll gestaltete Grundschule.

Umso grösser die Überraschung drinnen: Die bunte Schar von Schülerinnen und Schülern setzt sich nicht bloss aus allen möglichen Schichten der Bevölkerung zusammen, sondern hat sogar einen speziellen Fokus auf der Inklusion lernschwächerer Kinder. Klassenzimmer im engeren Sinn sucht man vergebens, dafür gibt es Lernecken. Der Unterricht läuft in fachübergreifenden Projekten ab, mit starkem Akzent auf digitalen Lernmitteln. 

Der «Pisa-Effekt»

Eine Schule also, wie man sie zu kennen glaubt aus den Lobgesängen internationaler Medien auf das finnische Schulsystem. Nach dem unerwarteten Erfolg des Landes in der ersten Pisa-Vergleichsstudie der OECD im Jahr 2000 versuchten Fachleute und Beobachter zu ergründen, was dieses nordische Land besser macht als andere. Als Schlüssel zum finnischen Bildungsgeheimnis wurden etwa die folgenden Aspekte genannt: Lernen durch Spielen statt Prüfungen schreiben, keine Hausaufgaben, soziale Kompetenz und Fähigkeit zur Problemlösung statt eingetrichtertes Wissen. Inzwischen hat Finnland in den Pisa-Resultaten zwar leicht nachgelassen und muss hinter einigen ostasiatischen Konkurrenten zurückstehen. Doch es besetzt weiterhin einen Platz an der erweiterten Weltspitze.
Auf der anderen Seite des Hafenbeckens von Kalasatama, in einem modernen Bürohaus im Stadtteil Hakaniemi, winkt Petra Packalen mit einem Lächeln ab, wenn sie die Berichte kommentieren soll, die im Ausland über das finnische «Erziehungsmirakel» kursieren. Das sei alles ein bisschen überhöht, sagt sie. Die erwähnten Elemente seien zwar durchaus vorhanden, aber man dürfe sie nicht überbewerten. «Spielend lernen» sei ein hübsches Bild, das allerdings nur einen Teil des Schulalltags abbilde. Der sei auch in Finnland bisweilen prosaisch.

Packalen ist Spezialistin für Bildungspolitik in der finnischen Erziehungsbehörde OPH, einer staatlichen Agentur, der die Entwicklung des Schulsystems sowie der Berufs- und Erwachsenenbildung obliegt. Im Gespräch hält sie zuerst einmal fest, dass sich vor «Pisa» und dem finnischen Spitzenresultat in der ersten Messung im Ausland niemand für das finnische Bildungssystem interessiert habe. Vielmehr sei es Finnland gewesen, das versucht habe, über seine Landesgrenzen zu blicken.

Das finnische System, sagt Packalen, stehe auf drei Grundprinzipien. Es müsse erstens in der Lage sein, Schüler unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund aufzunehmen. Jedes Kind bringe Stärken und Schwächen mit, die vom Lehrpersonal erkannt und berücksichtigt werden müssten. Inklusion als Leitgedanke bedeute, dass jedem Schüler die Unterstützung gegeben werde, die er individuell brauche. Dies wiederum bedinge, dass dem Schulwesen auch die dazu nötigen Ressourcen zugeleitet würden.

Attraktiver Lehrerberuf
Der zweite Baustein sind das Profil und das Sozialprestige des Lehrerberufs. Man stelle hohe Anforderungen an die Erzieher, sagt Packalen, und sei in der glücklichen Lage, mehr Bewerber als Ausbildungsplätze in der Lehrerbildung zu haben und deshalb unter den Besten auswählen zu können. Seien die Lehrer dann im Beruf, gewähre man ihnen Entscheidungsspielraum und habe grosses Vertrauen in ihre Arbeit.

Das sei ein entscheidender Aspekt, denn generell funktioniere Qualitätssicherung im Bildungswesen entweder über eine Aufsichtsbehörde oder über normierte landesweite Tests – oder über eine Kombination beider Elemente. Finnland habe aber weder das eine noch das andere. Am Ende der neunjährigen Grundschule finde eine Einschätzung im Hinblick auf den Oberstufenübertritt statt und nur am Ende der Oberstufe ein nationaler Test. Das bedeute natürlich keineswegs, dass dazwischen nicht geprüft werde. Doch dies liege in der Kompetenz der einzelnen Schulen und Lehrer.

Denn das Schulwesen sei, drittens, dezentral organisiert mit grossen Entscheidungskompetenzen auf Gemeindeebene. Die einzelnen Gemeinden wüssten am besten, welches ihre Bedürfnisse seien. Sie müssten, in Absenz eines gesamtstaatlichen Kontrollmechanismus, aber auch in der Lage sein, ihre Schulen aus selbstkritischer Distanz zu betrachten. Ein gewisses Gegengewicht zur Dezentralisierung bildeten auch der nationale Lehrplan und der regulatorische Rahmen.

Ein dezentralisiertes Erziehungsmodell erfordert von der Bildungspolitik den Mut, auf die Forderung nach landesweiter Ergebnisgleichheit zu verzichten. Ohnehin sei ein solches Ziel kaum zu erreichen, sagt Packalen, wenn man wisse, dass auch das gesellschaftliche Umfeld bedeutenden Einfluss auf den Bildungserfolg eines Kindes habe. Aus Studien gehe etwa eine starke Korrelation der Bildung der Mutter mit Lernerfolgen des Kindes hervor. Das bedeute natürlich aber nicht, dass das Schulsystem nicht versuchen müsse, externe Faktoren zu minimieren.

Auch kann das System als Ganzes nur funktionieren, wenn bei den Eltern und der weiteren Bevölkerung ein grundsätzliches Vertrauen in die Qualität der lokalen Schule besteht. Laut Petra Packalen ist das zurzeit so. Es gebe damit keinen Anlass, mit dem Prinzip zu brechen, dass auf Grundschulstufe im Normalfall die nächstgelegene Schule besucht wird. Mehr Wahlfreiheit und Möglichkeiten zur Spezialisierung gebe es erst auf der Oberstufe. Aber auch dort bestehe nur ein sehr beschränkter Markt, und das vor allem in den grossen Städten.

 «Verlorenes Geld muss zurückkommen»

Vertrauen in die öffentliche Schule, Inklusion, Dezentralisierung und ein hohes gesellschaftliches Ansehen des Lehrerberufs, das sind auch für Anders Rusk die herausragenden Merkmale des finnischen Schulsystems. Rusk ist internationaler Koordinator der finnischen Lehrergewerkschaft, der rund 90 Prozent aller Lehrkräfte angehören und die deshalb in der Bildungspolitik des Landes ein gewichtiges Wort mitredet. «Finnland war nach dem Zweiten Weltkrieg ein armes Land», sagt Rusk. «Doch zum Glück hatten wir damals weitsichtige Politiker. Sie erkannten, dass wir uns den Zugang zu Wohlstand über eine gute Volksbildung erarbeiten müssen.»

Finnland, sagt Rusk, sei zudem ein Land mit einer bloss kleinen Bevölkerung. Da könne man es sich kaum leisten, auf dem Bildungsweg nicht alle mitzunehmen. Zumal es angesichts der demografischen Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft stehe, um jede ausgebildete zukünftige Arbeitskraft zu kämpfen gelte. Das System mit nur einer landesweiten Vergleichsprüfung am Schluss der Oberstufe verhindere, dass jemand früh in eine Sackgasse gerate. Und ein sehr durchlässiges System von Berufs- und Gymnasialbildung stelle sicher, dass auch dort so wenige wie möglich zurückblieben.

Allerdings sieht Rusk das System in Gefahr. In den vergangenen paar Jahren seien Mittel gekürzt worden, die in die Milliarden Euro gingen. Dieses Geld müsse in das Bildungssystem zurückkommen. Finnland habe bisher keine Probleme mit einem allgemeinen öffentlichen Schulsystem gehabt, das alle einschliesse. Doch man stelle fest, dass sich in der Gesellschaft die Ungleichheit vergrössere, und dies schlage in einer Art auf das Schulsystem durch, die man bisher nicht gekannt habe.

Rusks Bedenken kommen nicht von ungefähr. Wenn er zum Nachbarn Schweden blickt, was er in seiner zweiten Funktion als Generalsekretär des Nordischen Lehrerverbands von Berufs wegen tut, sieht er ein Land, das derzeit mit wachsender sozialer Segregation kämpft. «Schweden hatte eine deutlich grössere und stark auf gewisse Lokalitäten konzentrierte Immigration», sagt Rusk. Aber auch in Finnland begännen sich diesbezüglich gewisse Probleme zu zeigen.

Das lässt sich auch aus den Pisa-Resultaten ablesen. Sie zeigen etwa, dass beim Leseverständnis der 15-Jährigen der Prozentsatz der Besten stabil blieb, die Gruppe der Schwächsten sich aber vergrösserte. Parallel dazu ist ein zunehmender Leistungsabstand von Schülern aus starkem und schwachem sozioökonomischem Umfeld zu beobachten.
 
Auch Petra Packalen sagt, dass es die Frage der Ungleichheit im Auge zu behalten gelte. Punkto Pisa-Studien weist sie darauf hin, dass diese Leistungstabellen seien, deren Bedeutung nicht so sehr in den ermittelten Werten an sich als in den aufgezeigten Trends liege. In die Evaluation flössen nur gewisse Fertigkeiten ein; Bildung in ihrer Gesamtheit sei aber wesentlich mehr als nur akademische Entwicklung. Entsprechend könne auch die Pisa-Studie nur ein Instrument unter mehreren für die Weichenstellungen im Bildungssystem sein. 


1 Kommentar:

  1. Gratuliere Rudolf Hermann für den wohltuend sachlichen Text über das finnische Bildungswesen.

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