Vor zwanzig Jahren
katapultierte die erste Pisa-Studie Finnland als Klassenprimus ins
internationale Rampenlicht. Man fragte sich, was dieses kleine Volk im Norden
bei seinem Bildungswesen besser mache als andere. Die Antworten fallen
überraschend einfach aus.
Das finnische Bildungssystem - ein Wunder? NZZ, 6.1. von Rudolf Hermann
Augenschein
in Kalasatama, einem früheren Industriebezirk am alten Fischereihafen von
Helsinki. Ein neues Stadtviertel ist im Aufbau; Helsinki erprobt hier die
Smart City. Die Wohnungen sind modern und chic, auf den ersten Blick
wohl eher etwas für das dickere Portemonnaie. Ins Bild passt auch die 2016
erstellte, architektonisch anspruchsvoll gestaltete Grundschule.
Umso grösser die Überraschung drinnen: Die bunte Schar von Schülerinnen und
Schülern setzt sich nicht bloss aus allen möglichen Schichten der Bevölkerung
zusammen, sondern hat sogar einen speziellen Fokus auf der Inklusion
lernschwächerer Kinder. Klassenzimmer im engeren Sinn sucht man vergebens,
dafür gibt es Lernecken. Der Unterricht läuft in fachübergreifenden Projekten
ab, mit starkem Akzent auf digitalen Lernmitteln.
Der «Pisa-Effekt»
Eine Schule also, wie man sie zu kennen glaubt aus den Lobgesängen
internationaler Medien auf das finnische Schulsystem. Nach
dem unerwarteten Erfolg des Landes in der ersten Pisa-Vergleichsstudie der
OECD im Jahr 2000 versuchten Fachleute und Beobachter zu ergründen, was dieses
nordische Land besser macht als andere. Als Schlüssel zum finnischen
Bildungsgeheimnis wurden etwa die folgenden Aspekte genannt: Lernen durch
Spielen statt Prüfungen schreiben, keine Hausaufgaben, soziale Kompetenz und
Fähigkeit zur Problemlösung statt eingetrichtertes Wissen. Inzwischen hat
Finnland in den Pisa-Resultaten zwar leicht nachgelassen und muss hinter
einigen ostasiatischen Konkurrenten zurückstehen. Doch es besetzt weiterhin
einen Platz an der erweiterten Weltspitze.
Auf der anderen Seite des Hafenbeckens von Kalasatama, in einem
modernen Bürohaus im Stadtteil Hakaniemi, winkt Petra Packalen mit einem
Lächeln ab, wenn sie die Berichte kommentieren soll, die im Ausland über das
finnische «Erziehungsmirakel» kursieren. Das sei alles ein bisschen überhöht,
sagt sie. Die erwähnten Elemente seien zwar durchaus vorhanden, aber man dürfe
sie nicht überbewerten. «Spielend lernen» sei ein hübsches Bild, das allerdings
nur einen Teil des Schulalltags abbilde. Der sei auch in Finnland bisweilen
prosaisch.
Packalen ist Spezialistin für Bildungspolitik in der finnischen
Erziehungsbehörde OPH, einer staatlichen Agentur, der die Entwicklung
des Schulsystems sowie der Berufs- und Erwachsenenbildung obliegt. Im Gespräch
hält sie zuerst einmal fest, dass sich vor «Pisa» und dem finnischen
Spitzenresultat in der ersten Messung im Ausland niemand für das finnische
Bildungssystem interessiert habe. Vielmehr sei es Finnland gewesen, das
versucht habe, über seine Landesgrenzen zu blicken.
Das finnische System, sagt Packalen, stehe auf drei
Grundprinzipien. Es müsse erstens in der Lage sein, Schüler unabhängig von
ihrem sozialen Hintergrund aufzunehmen. Jedes Kind bringe Stärken und Schwächen
mit, die vom Lehrpersonal erkannt und berücksichtigt werden müssten. Inklusion
als Leitgedanke bedeute, dass jedem Schüler die Unterstützung gegeben werde,
die er individuell brauche. Dies wiederum bedinge, dass dem Schulwesen auch die
dazu nötigen Ressourcen zugeleitet würden.
Attraktiver Lehrerberuf
Der zweite Baustein sind das Profil und das Sozialprestige des
Lehrerberufs. Man stelle hohe Anforderungen an die Erzieher, sagt Packalen, und
sei in der glücklichen Lage, mehr Bewerber als Ausbildungsplätze in der
Lehrerbildung zu haben und deshalb unter den Besten auswählen zu können. Seien
die Lehrer dann im Beruf, gewähre man ihnen Entscheidungsspielraum und habe
grosses Vertrauen in ihre Arbeit.
Das sei ein entscheidender Aspekt, denn generell funktioniere
Qualitätssicherung im Bildungswesen entweder über eine Aufsichtsbehörde oder
über normierte landesweite Tests – oder über eine Kombination beider
Elemente. Finnland habe aber weder das eine noch das andere. Am Ende der
neunjährigen Grundschule finde eine Einschätzung im Hinblick auf den
Oberstufenübertritt statt und nur am Ende der Oberstufe ein nationaler Test.
Das bedeute natürlich keineswegs, dass dazwischen nicht geprüft werde. Doch
dies liege in der Kompetenz der einzelnen Schulen und Lehrer.
Denn das Schulwesen sei, drittens, dezentral organisiert mit
grossen Entscheidungskompetenzen auf Gemeindeebene. Die einzelnen Gemeinden
wüssten am besten, welches ihre Bedürfnisse seien. Sie müssten, in Absenz eines
gesamtstaatlichen Kontrollmechanismus, aber auch in der Lage sein, ihre Schulen
aus selbstkritischer Distanz zu betrachten. Ein gewisses Gegengewicht zur
Dezentralisierung bildeten auch der nationale Lehrplan und der regulatorische
Rahmen.
Ein dezentralisiertes Erziehungsmodell erfordert von der
Bildungspolitik den Mut, auf die Forderung nach landesweiter
Ergebnisgleichheit zu verzichten. Ohnehin sei ein solches Ziel kaum zu
erreichen, sagt Packalen, wenn man wisse, dass auch das gesellschaftliche Umfeld bedeutenden
Einfluss auf den Bildungserfolg eines Kindes habe. Aus Studien gehe etwa eine
starke Korrelation der Bildung der Mutter mit Lernerfolgen des Kindes
hervor. Das bedeute natürlich aber nicht, dass das Schulsystem nicht versuchen
müsse, externe Faktoren zu minimieren.
Auch kann das System als Ganzes nur funktionieren, wenn bei
den Eltern und der weiteren Bevölkerung ein grundsätzliches Vertrauen in die
Qualität der lokalen Schule besteht. Laut Petra Packalen ist das zurzeit
so. Es gebe damit keinen Anlass, mit dem Prinzip zu brechen, dass auf
Grundschulstufe im Normalfall die nächstgelegene Schule besucht wird. Mehr
Wahlfreiheit und Möglichkeiten zur Spezialisierung gebe es erst auf der
Oberstufe. Aber auch dort bestehe nur ein sehr beschränkter Markt, und das vor
allem in den grossen Städten.
«Verlorenes Geld muss zurückkommen»
Vertrauen in die öffentliche Schule, Inklusion, Dezentralisierung
und ein hohes gesellschaftliches Ansehen des Lehrerberufs, das sind auch für
Anders Rusk die herausragenden Merkmale des finnischen Schulsystems. Rusk ist
internationaler Koordinator der finnischen Lehrergewerkschaft, der rund 90
Prozent aller Lehrkräfte angehören und die deshalb in der Bildungspolitik des
Landes ein gewichtiges Wort mitredet. «Finnland war nach dem Zweiten Weltkrieg
ein armes Land», sagt Rusk. «Doch zum Glück hatten wir damals weitsichtige
Politiker. Sie erkannten, dass wir uns den Zugang zu Wohlstand über eine gute
Volksbildung erarbeiten müssen.»
Finnland, sagt Rusk, sei zudem ein Land mit einer bloss kleinen
Bevölkerung. Da könne man es sich kaum leisten, auf dem Bildungsweg nicht alle
mitzunehmen. Zumal es angesichts der demografischen Herausforderungen, vor
denen die Gesellschaft stehe, um jede ausgebildete zukünftige Arbeitskraft zu
kämpfen gelte. Das System mit nur einer landesweiten Vergleichsprüfung am
Schluss der Oberstufe verhindere, dass jemand früh in eine Sackgasse gerate.
Und ein sehr durchlässiges System von Berufs- und Gymnasialbildung stelle
sicher, dass auch dort so wenige wie möglich zurückblieben.
Allerdings sieht Rusk das System in Gefahr. In den vergangenen
paar Jahren seien Mittel gekürzt worden, die in die Milliarden Euro gingen.
Dieses Geld müsse in das Bildungssystem zurückkommen. Finnland habe bisher
keine Probleme mit einem allgemeinen öffentlichen Schulsystem gehabt, das alle
einschliesse. Doch man stelle fest, dass sich in der Gesellschaft die
Ungleichheit vergrössere, und dies schlage in einer Art auf das Schulsystem
durch, die man bisher nicht gekannt habe.
Rusks Bedenken kommen nicht von ungefähr. Wenn er zum Nachbarn Schweden blickt,
was er in seiner zweiten Funktion als Generalsekretär des Nordischen
Lehrerverbands von Berufs wegen tut, sieht er ein Land, das derzeit mit
wachsender sozialer Segregation kämpft. «Schweden hatte eine deutlich grössere
und stark auf gewisse Lokalitäten konzentrierte Immigration», sagt Rusk. Aber
auch in Finnland begännen sich diesbezüglich gewisse Probleme zu zeigen.
Das lässt sich auch aus den
Pisa-Resultaten ablesen. Sie zeigen etwa, dass
beim Leseverständnis der 15-Jährigen der Prozentsatz der Besten stabil blieb,
die Gruppe der Schwächsten sich aber vergrösserte. Parallel dazu ist ein
zunehmender Leistungsabstand von Schülern aus starkem und schwachem
sozioökonomischem Umfeld zu beobachten.
Auch Petra Packalen sagt, dass es die Frage der Ungleichheit im Auge zu
behalten gelte. Punkto Pisa-Studien weist sie darauf hin, dass diese
Leistungstabellen seien, deren Bedeutung nicht so sehr in den ermittelten
Werten an sich als in den aufgezeigten Trends liege. In die Evaluation flössen
nur gewisse Fertigkeiten ein; Bildung in ihrer Gesamtheit sei aber wesentlich
mehr als nur akademische Entwicklung. Entsprechend könne auch die Pisa-Studie
nur ein Instrument unter mehreren für die Weichenstellungen im Bildungssystem
sein.
Gratuliere Rudolf Hermann für den wohltuend sachlichen Text über das finnische Bildungswesen.
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